Ein ganz und gar verwahrlostes Mädchen
Biographischer Spielfilm 1977
16 mm, s/w und Farbe, 82 Min.
Buch und Regie: Jutta Brückner
Mit Rita Rischak
Team
Buch und Regie: Jutta Brückner
Kamera: Eduard Windhager
Ton: Hajo von Zündt
Musik: Julie Felix
Schnitt: Eva Schlensag
Produktionsleitung: Karl Helmer
Produktion
Jutta Brückner-Filmproduktion in Koproduktion mit ZDF
Redaktion
Eckart Stein, Anne Even
Cast
Rita Rischak, Manfred Fischer, Bertha Zinglein, Christian Bausch, Peter Helmer, Barbara Bertram, Peter Worthmann
Festivals
Internationale Filmfestspiele Berlin
Internationales Filmfestival Rotterdam
Internationales Filmfestival Figueira da Foz
Filmfestival Brüssel
Internationales Frauenfilmfestival Sceaux
Festival des neorealistischen Films Avellino
Internationales Filmfestival Denver
Dokumentarfilmfestival Duisburg
Internationales Frauenfilmfestival Florenz
u. a.
Im Rahmen von Filmwochen und Retrospektiven
Australien, Algerien, Brasilien, Argentinien, Chile, Kanada, USA, Indien, Israel, Ägypten, Dänemark, Italien, Spanien, Portugal, Frankreich, Belgien, Uruguay, Russland, Georgien, Norwegen, Finnland, UdSSR, Österreich, Jugoslawien
Basis-Film
Credits
[Team]
Buch und Regie: Jutta Brückner
Kamera: Eduard Windhager
Ton: Hajo von Zündt
Musik: Julie Felix
Schnitt: Eva Schlensag
Produktionsleitung: Karl Helmer
[Produktion]
Jutta Brückner-Filmproduktion in Koproduktion mit ZDF
[Redaktion]
Eckart Stein, Anne Even
[Cast]
Rita Rischak, Manfred Fischer, Bertha Zinglein, Christian Bausch, Peter Helmer, Barbara Bertram, Peter Worthmann
[Festivals]
Internationale Filmfestspiele Berlin
Internationales Filmfestival Rotterdam
Internationales Filmfestival Figueira da Foz
Filmfestival Brüssel
Internationales Frauenfilmfestival Sceaux
Festival des neorealistischen Films Avellino
Internationales Filmfestival Denver
Dokumentarfilmfestival Duisburg
Internationales Frauenfilmfestival Florenz
u. a.
[Im Rahmen von Filmwochen und Retrospektiven]
Australien, Algerien, Brasilien, Argentinien, Chile, Kanada, USA, Indien, Israel, Ägypten, Dänemark, Italien, Spanien, Portugal, Frankreich, Belgien, Uruguay, Russland, Georgien, Norwegen, Finnland, UdSSR, Österreich, Jugoslawien
Basis-Film
Die Geschichte ist authentisch, das Mädchen Rita Rischak spielt und spricht sich selbst in Spielszenen und Interviews. Der Film erzählt einen gewöhnlichen Tag aus ihrem Leben.
So (oder ähnlich) passiert es immer: Der Liebhaber der vergangenen Nacht verlässt früh morgens eilig die Wohnung. Rita begräbt jede Hoffnung, von ihm noch einmal etwas zu hören. Sie traut sich nicht mehr ins Büro, weil sie Geld aus der Telefonkasse gestohlen hat. Sie frühstückt mit ihrem fünfjährigen Sohn, der von den Eltern versorgt wird, wie gewöhnlich bei der Mutter, tut, als ginge sie ins Büro, geht aber statt dessen auf die Suche nach einem neuen Job und Leuten, die sie anpumpen kann. Beides bleibt ergebnislos. Gegen Mittag erwartet sie den Besuch eines älteren, wohlhabenden Liebhabers und nimmt sich vor, sich selbst endlich einmal als erotische Ware gegen Geld einzutauschen. Aber der ungeschickte Versuch scheitert. Rita beschließt, die Suche nach Geld und Job jetzt ohne Skrupel zu betreiben. Sie erklärt sich bereit, für einen Freund zu arbeiten, der ein unseriöses Kreditunternehmen betreibt. Als aber ein unerfahrenes, junges Ehepaar vor ihr sitzt, wird ihr Zorn so groß, dass sie die beiden über das Unternehmen aufklärt und dem Freund alles Geld aus der Kasse stiehlt. Das gibt sie auf der Stelle aus für ein Kleid, das ihr aber nicht steht, wie sie kurz nach dem Kauf feststellt, und das sie darum auch sofort weiterschenken will an ihre beste Freundin. Die studiert Soziologie und ist immer wieder bereit, Rita ihr kompliziertes Leben zu erklären. Getröstet von dem Gespräch mit der Freundin wird der alte Wunsch, Schauspielerin zu werden, wieder in ihr wach, und sie versucht, in einem Kellertheater erste Kontakte zu knüpfen. Dieses Kollektiv von Schauspielern und Laien, das engagiertes politisches Theater macht, kann aber nicht akzeptieren, dass man Schauspielerin wird aus Gründen der Selbstverwirklichung. Da alles fehlgeschlagen ist, muss sie schließlich ihre Eltern um Geld bitten. Sie bekommt es, zusammen mit den ihr schon bekannten Vorwürfen.
ausführliche Inhaltsangabe
Am Abend lässt sie sich von einem Mann auf der Straße ansprechen. Er lädt sie zum Essen ein. Rita ist sofort bereit zu hoffen, dass dieser Tag doch noch mit Glück enden wird. Obwohl er ihr immer unsympathischer wird, beachtet sie doch die Spielregeln: Sie nimmt ihn mit zu sich nach Hause. Es wäre auch alles nach den Spielregeln weiter abgelaufen, wenn der Mann nicht eine Vorliebe für Stiefel hätte. Rita ist empört über diese schamlose Perversität, und er geht.
Und dann hockt sie zusammengesunken im Bad und träumt mit offenen Augen und in bunten Bildern, wie schön das Leben sein könnte, denn sie weiß, wie das Glück aussieht: Ein Mann bringt ihr rote Rosen – ein Mann sagt: Ich liebe dich – ein Mann bittet: Willst du meine Frau werden? – ein Mann steckt ihr einen Diamantring an den Finger – ein Mann… ein Mann… ein Mann…
Ein Film über kleinbürgerlichen Hass und den Alltag einer Revolte, die ständig ins Leere geht, weil sie nur weiß, was sie nicht will, aber nicht weiß, was sie will; weil sie sieht, was falsch ist, aber nicht, woran das liegt, und deshalb auch nicht weiß, was sie ändern soll. Rita hat mit einer abgebrochenen Realschulbildung nicht die Möglichkeit, sich durch berufliche Fähigkeiten das Selbstwertgefühl zu holen, das sie von sich hat. Aber auf Grund dieses Selbstwertgefühls glaubt sie, dass ihr etwas zusteht, das die Wirklichkeit ihr verweigert: Wer ist wem etwas schuldig – sie der „Gesellschaft” oder die „Gesellschaft” ihr? Und so – revoltierend gegen eine schlechte Realität – pendelt sie hin und her zwischen zwei narzisstischen Träumen: dem Traum von Freiheit (das ist Selbstverwirklichung als Schauspielerin) und dem Traum vom Geld (das ist der reale Zynismus vom Einsatz ihrer Person als erotische Ware). Aber es gibt in ihrem Kopf einen Punkt, wo Geld-Freiheit-Liebe sich verwischen zur Vorstellung vom Glück, das man geschenkt bekommt und das das ganze Leben verändert: das Glück des Erwähltwerdens, Geliebtwerdens allein, weil man die ist, die man ist; das Glück, eine Person sein zu dürfen und doch nicht verantwortlich sein zu müssen, das Glück einer Ehefrau in einer Ehe, wie es sie nur in illustrierten Fotoromanen gibt. Doch wenn Rita am Abend eines schlimmen Tages einen solchen Traum träumt, ist sie nicht so dumm, wie sie manchmal von sich selbst annimmt: die Rosen im Traum sind aus Wachs, der Diamantring aus Glas und das Kind, das sie ihrem erträumten Mann „schenkt” ist eine Puppe mit langen, blonden Haaren.
objektiv: „…sie lebt nur nach ihren Launen und dem Lustprinzip, ein Falter, der genießerisch und ruhelos von Blume zu Blume flattert…”
subjektiv (Tonbandprotokoll): „Ich bin wie eine Maus im Käfig. Ich renne hinter etwas her und drehe mich dabei auf höchsten Touren im Kreis”
objektiv: „…sie hat keine Energie, sie macht die leichtesten Arbeiten falsch. Sie ist faul und dumm, sie gibt sich keine Mühe…”
subjektiv (Tonbandprotokoll): „Wenn man einen Film in meinem Innern ablaufen ließe, da käme unheimlich viel raus, weil ich vieles im Bauch weiß, aber sobald diese Gedanken raufwandern zum Gehirn, da bleibt auf dem Weg so viel stecken, und im Hals ist eben Schluss, und der Kopf ist leer, und dann finde ich keine Worte und bin mutlos, und alles ist mir wurscht…”
objektiv: „…sie hat keine Moralbegriffe, ein Mädchen, das man jeden Abend in einer anderen Kneipe sehen kann, eine zum Aufreißen…”
subjektiv (Tonbandprotokoll): „Was bin ich denn? Ein Arbeiterkind mit einer akzeptablen Visage. Die Männer behandeln mich wie ein Kofferradio mit einem guten Design. Das muss spielen. Jeder ist sauer, wenn das Radio Tonstörungen hat, aber um das Innenleben von dem Radio kümmert sich keiner. Wenn es kaputt ist, schmeißt man es weg.”
subjektiv (Tonbandprotokoll): „Irgendwo bin ich unheimlich gesund und deshalb stoßʼ ich auch immer mit den anderen zusammen, die im Grunde viel kaputter sind als ich.”
Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte.
Kritik
„Da hat es das als Nachtschwärmer-Programm eingestufte ‚Kleine Fernsehspiel’ wieder einmal geschafft, müde Zuschauer munter zu machen: Diese Rita Rischak provoziert und geht einem auf die Nerven – wird sie etwa dazu benutzt, mit ihrer so genannten Originalität hausieren zu gehen, soll Verwahrlosung photogen-exotisch demonstriert werden? Mag sie doch die Dauerstörungen ihres labilen Innenlebens mit sich selbst ausmachen – was gehtʼs uns an? Autorin Jutta Brückner also sorgt zusammen mit ihrer widersprüchlichen Hauptperson dafür, dass man sich ihr eben nicht entziehen kann: vor allem, wenn Rita Rischak offen und unverfroren viele heimliche Seufzer artikuliert, die beider alltäglichen gesellschaftlichen Pflicht- und Leistungserfüllung ausgestoßen werden. Jutta Brückners sehr konzentriertes Filmkonzept beschränkt sich auf die ungelösten Widersprüche der jungen Frau: Rita in Großaufnahme produziert sich ehrlich und exaltiert zugleich, schildert ihre Sehnsucht nach dem schönen Leben und ihren Versorgungsanspruch, ihr Verhältnis zu ihren Männerbekanntschaften und zu den Eltern. In Interviewfolgen macht sie auf Schau, die sie nicht immer durchhalten kann. In der abschließenden Photosequenz erscheint sie, gesoftet und veredelt, in der superfeinen Sprechblasenwelt von Werbestorys, wo ihr endlich der Mann ihrer Träume alles zu Füßen legt. Mit dieser Illusion von ‚Ende gut, alles gut’ findet der Film seinen folgerichtigen Abschluss. Man wünscht Rita Rischak den Traummann, weiß aber, dass er auf Dauer auch nicht der große Problemlöser für sie sein kann.”
– Birgit Weidinger –
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„…Die Kamera holt das ‚verwahrloste Mädchen’ im Verlauf des Films nicht nur physisch, sondern auch psychisch immer näher heran, wie in einem psychoanalytischen Verfahren. Das Mädchen wird auf diese Weise zu Bekenntnissen herausgefordert, die in ihrer Offenheit und Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen. Was da bloßgelegt wird, hat auch für den Zuschauer Folgen. Er kann sich nicht so verhalten, als ginge es ihn nichts an, als direkt Angesprochener muss er sich dem Dialog der Agierenden stellen.
Nicht das Ungewöhnliche, Auffällige machen die Erfahrungen der Rita Rischak mitteilenswert, sondern das ganz und gar Alltägliche, Beiläufige, wenn man so will. Denn die Freiheit, die sie hat, würde sie heute eher als morgen gegen die Geborgenheit und Sicherheit einer Ehe eintauschen. ‚Wäre ich verheiratet, dann hätte ich wenigstens einen, der mich unterdrückt’, bekennt sie einmal einer Freundin. Was Rita sucht, ist Zuwendung und Anerkennung. Da ihr beides immer wieder versagt wird, provoziert sie ihre Umgebung…”
– Gisela Molitor –
„… Die seelische Hornhaut als Bedingung totaler Einpassung in die unmenschliche Realität geht ihr noch ab. Aber der Schwierigkeit, sich als reflektierendes und handelndes Subjekt mit der Umwelt auseinanderzusetzen, entzieht sie sich. Sie träumt davon, Schauspielerin zu werden oder glücklich verheiratet zu sein. Es werden die fatalen Erscheinungen eines defizitären Bewusstseins aufgezeigt, dass sich eine Traumwelt als Surrogat, als Rettungsring schafft. Im Fall der Rita defizitär deswegen, weil sie sich nur mit einem Mann und durch einen Mann als vollwertige Persönlichkeit begreifen kann. Aus ihrer Sicht hat sie die Wahl, entweder gut funktionierender Gebrauchsgegenstand in einer bürgerlichen Ehe oder dekorierte Ware mit Spielzeugcharakter in Wegwerfbeziehungen zu sein. Der Trost, dass andere viel kaputter sind, kann schließlich nicht von Dauer sein. …”
– Dagmar Holzer –
„…die schärfsten Momentaufnahmen gelingen zuweilen, wenn man ihre Versager knipst. Die schöne Tagediebin Rita spielt sich selbst, redet sich ihre Wut, ihre kitschigen Sehnsüchte, ihren ganzen ungereimten Lebensanspruch von der Seele. Zuerst noch mit der affigen Künstlichkeit eines Partygirls, das sich endlich einmal produzieren darf – allmählich dann immer offener, natürlicher: eine spontan asoziale Rutsch-mir-den Buckel-runter-Natur, die ein behütetes Nestweiberl sein möchte. Mit dieser ‚Selbstverwirklichung’ einer Verwahrlosten legt im Sonderfall die Grundmuster des Normalfalls frei: Das Früchterl entwertet die Früchte unserer hochfeinen Konsumspießerwelt.”
– Ponkie –
„…das schöne an Jutta Brückners Film: Mit welcher Direktheit gesprochen wird, wie unverstellt und tragikomisch hier der zerstörerische Tageslauf von Rita und ihren Freundinnen erzählt wird, wie hier die Beziehungen von Geld und Freiheit, Liebe und Ware offen gelegt werden. Nirgends ist der Film belehrend, verliert er sich in dürre Emanzipationsanstrengungen, er vermittelt auf ernüchternd sinnliche Weise, wie verletzend die Jagd nach dem Glück verläuft.”
– Thomas Thieringer –
„Eine Frau erzählt aus ihrem Leben. Sie erzählt mit einer Offenheit, die einem an die Nieren geht. Entweder ist es das Maß an innerer Verwandtschaft mit ihr, das nervt, oder aber die Gefährdung einer scheinbar sicheren Distanz. Die Frau steht total neben den Schuhen: Sie pennt am Tag mit drei Männern und befindet sich doch ständig auf der Suche nach dem Einen, dem Märchenprinzen, der sie verwöhnt und ihr jene Geborgenheit und Zärtlichkeit vermittelt, von der sie immer träumt. Oder: Sie wehrt sich nach allen Seiten, schlägt wild um sich mit verletzenden und zynischen Kommentaren, aber sie rebelliert aus reiner Koketterie, ohne den Anspruch irgendetwas zu verändern oder zu verbessern. Sie klaut die paar Mark, die sich in der Telefonkasse befinden und verliert den Job, der ihr wahrscheinlich wesentlich mehr einbringen würde. Sie vermiest sich ihr Leben den lieben langen Tag mit kleinen Sauereien, und sie vermiest es sich mit der Akribie einer Besessenen. Die Frau ist ‚verwahrlost’ nach allen Regeln bürgerlicher Terminologie. Dabei weiß sie sehr genau, was mit ihr los ist und gibt über ihr Befinden in einem Jargon Auskunft, mit dem sie sich entschieden distanziert vom kleinbürgerlichen Mief, aus dem sie stammt. Sie versetzt sich – wenn sie redet – in eine Beobachterposition außerhalb von sich selber, schaut sich zu und kommentiert ihre Verhaltensweisen, wie das ihre Freundinnen tun. Die Frau heißt Rita Rischak und ist eine Freundin der Filmemacherin Jutta Brückner, die sich ihr mit diesem Porträt behutsam nähert, wobei sie offensichtlich auf den Exhibitionismus zählen kann, mit dem sich Rita vor der Kamera produziert. Eine Bekannte, sagt zu ihr: ‚Du bist wie ein Seismograf. Der ist moralisch auch nicht verantwortlich, wenn es ein Erdbeben gibt.’ Also: Die anderen sind schuld, die Gesellschaft, die sie nicht so akzeptiert, wie sie ist, die Männer, die sie sexuell ausbeuten, ihre Eltern, die ihr die Liebe verweigert haben. Das stimmt auch bis zu einem gewissen Grad. Das heißt, es stimmt solange, als Rita den ldolen der andern nachrennt, sich an den Wertmassstäben ihrer Eltern misst und keine eigenen findet, solange, als sie sich in einer Umgebung bewegt, die von ihr unbarmherzig das verlangt, was sie nicht leistet: zu funktionieren und sich einzuordnen. Sie sagt nie: ‚Ich will nicht’, sondern sie sagt: ‚Ich kann nicht.’ Die Frau ist mir sympathisch mit ihrer chaotischen Spontaneität, mit ihrer Kindlichkeit und ihrem Liebeshunger, der manchmal hinter ihrer ungehobelten Fassade hervorscheint, mit ihrer chiffrierten Sprache, die niemand versteht, mit ihrem Hang zum Absoluten. Wahrscheinlich wäre sie in der Bewegung, wenn sie zu einem radikalen Bruch mit ihrer Herkunft fähig wäre. Aber das ist nicht ihre Sache. Bei ihr dreht sich alles um die Liebe. ‚Liebe, das ist so ein ganz großes Wort bei mir. Es ist ja schon Liebe für mich, wenn jemand in der Lage ist, meinen Kopf in seine Hände zu nehmen und mich zu streicheln. Ach, das ist für mich ein solcher Ausbruch an Zärtlichkeit, wie ich ihn an Liebe bisher nie bekommen habe.’ Das spüren die Männer, und sie beuten dieses Verlangen aus, nur auf den eigenen Gewinn bedacht. Sie nimmt das in Kauf, wegen der paar ‚Rabattmarken’ die für sie dabei herausspringen. Ihr Gesicht und ihr Körper sind ihr einziges Kapital. Irgendwann hat sie das gelernt, und baut jetzt ihr ganzes Leben auf dieser tradierten Weisheit auf. Rita ist keine Außenseiterin. Jutta Brückner begegnet ihr mit einem Maß an Vertrautheit, wie es nur in einer längeren Beziehung gewachsen sein kann. Sie begegnet ihr ohne Voyeurismus, weil sie die Verhältnisse aus nächster Nähe kennt. Rita ist für sie kein ‚Thema’, das man zu Sensationszwecken verbraten kann. Sie ist auch nicht ‚das Opfer’. Zu jenem Zeitpunkt als der Film gedreht wurde, hatte sie sich bereits aus dem Schlamassel befreit und führte genau das Leben, das sie sich immer erträumt hatte.
Jutta Brückner meditiert in ‚Ein ganz und gar verwahrlostes Mädchen’ über das Befinden jenes Milieus, aus dem sie selber stammt, wie schon früher in ihrem ersten Film ‚Tue recht und scheue niemand’, einem ‚Fotofilm’ über das Leben ihrer Mutter, der Kleinbürgerin Gerda Siepenbrink, und dann später in der Form des Spielfilms in ‚Hungerjahre’, in dem sie ihre eigenen Erfahrungen im Deutschland der Adenauer-Ära verarbeitet, als die Kühlschränke voll und die Leute leer waren. Sie reflektiert immer auf dem Hintergrund persönlicher Erfahrungen in einem verbindlichen sozialpolitischen Kontext. Darum sind ihre Filme – trotz ihres analytischen Scharfsinns – keine intellektuellen Totgeburten.
Beim ‚verwahrlosten Mädchen’ stellt sie eine karge, streckenweise auch langweilige Form zwischen Rita und den Zuschauer, die jedes Absumpfen in Sentimentalität und Larmoyanz zum vornherein vereitelt. Der Film besteht praktisch nur aus einer äußerst einfachen halbdokumentarischen Spielhandlung, die vorwiegend in Ritas Heim, auf der Straße und an ihrem kurzfristigen Arbeitsplatz angesiedelt ist, an Orten, die weder spannend noch irgendwie exotisch sind. Dazwischen erzählt Rita in Großaufnahme von dem, was bei ihr unter der Oberfläche läuft. Es sind subjektive Kommentare oder innere Monologe, mit denen sie versucht, eine Brücke nach außen zu schlagen. Wo sie sich mit ihrer rücksichtslosen Offenheit dem Zuschauer zumutet, man aber auch etwas spürt von der Verletzlichkeit und der Unbeholfenheit, die sie sonst mit ihrem stacheligen Wesen überspielt.
Hingegen ist der Musikeinsatz etwas dilettantisch ausgefallen. Eine Frau singt von dem, was Rita dauernd erlebt, von einer Nacht mit einem fremden Mann, der am Morgen wieder verreist, ohne Spuren zu hinterlassen. Dieses Lied, das zur Anfangseinstellung – Rita erwacht am Morgen allein, der Liebhaber der letzten Nacht ist weg – noch irgendwie passt, erfüllt später überhaupt keinen Zweck mehr außer dem bloßen Untermalen einer Situation, die für sich schon stark genug ist. Und auch der Schluss fällt deutlich ab gegenüber der schlichten Darstellung eines ‚unerheblichen Lebens’: Rita in Farbe mit ihrem Traummann, Stehkader des gelackten Traums von einer sterilen, übersichtlichen Plastikwelt.
Man hat die beste Lust, moralisch auf diesen Film zu reagieren, alles weit von sich zu weisen, was einem da vor die Nase gesetzt wird. Das bestätigen auch die zahlreichen Besprechungen, die anlässlich seiner Uraufführung herausgekommen sind. Es gibt auch die andere Möglichkeit: den sicheren Boden verlassen zugunsten eines unsicheren, sich einlassen auf die Gemeinsamkeiten und einfach mitschwimmen mit den Träumen und Gedanken eines ganz und gar verwahrlosten Mädchens, das vielleicht wirklich nichts anderes ist als ein Seismograf unserer eigenen Befindlichkeit.”
– Barbara Flückiger –
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