Im Zwischenreich der Geister

Film und Installation

Luftwurzeln

Die Installation fand statt im Rahmen des Kongresses Life Sciences and Pulp Fiction 2011 im Veranstaltungsort für zeitgenössische darstellende Kunst Kampnagel in Hamburg.

Die Installation ist ein Dialog zwischen dem Film „Tue recht und scheue niemand“, den ich 1975 über das Leben meiner Mutter gemacht habe, und mir, der Tochter und Filmemacherin. Einzelne Momente und Sequenzen aus dem Film tauchen auf und brechen ab. Sie werden ergänzt und kommentiert von meiner Erzählung, wie der Film entstand. Der Film setzt sich fort in dieser Installation, die, 30 Jahre später, meine Mutter schildert, die sich unter der wachsenden Demenz langsam verwandelte. Diese Krankheit zerstört das, was sie erst so spät erlangt hatte: ihr Selbst.

1975, als wir diesen Film machten, war meine Mutter 60 Jahre alt. Sie begann, sehr spät, sich ihrer selbst als eines unverwechselbaren Individuums bewusst zu werden. Ich hatte mich ihr genähert über ihre eigene Sprache, bereitwillig hatte sie mir ihr Leben erzählt. Damals begann mit 60 Jahren das Alter und sie wollte etwas aufbewahren. Ich zeigte ihr Fotos und die Bilder weckten ihre Phantasie. Sie wurde schwärmerisch auch da, wo sie über die Entbehrungen und Einschließungen ihrer Kindheit erzählte. Sie war als kleines Kind von der Trauer der Mutter über den Tod des Vaters verzehrt worden. Und diese ewig trauernde, untote Mutter, die oft die Quelle vieler weiblicher Depressionen ist, war es auch bei ihr. Die Fotos zeigten ihr die Möglichkeiten ihrer Jugend, die sie nicht ergriffen hatte, denn es hatte nur Einschränkungen gegeben. Es war wie ein nachträglicher Genuss an etwas Verbotenem, eine Lust an sich selbst als einer imaginierten Gestalt in einem realen, aber auch phantastischen Universum. In ihr entstand eine geheime und langsam wachsende Lust an sich selbst. Meine Mutter wurde zu ihrem eigenen Voyeur.

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Am Anfang war sie sehr zögernd gewesen. Sie wollte zwar, dass der Film entstand, aber sie wollte keinesfalls als Person in ihm auftauchen. denn sie hielt sich nicht für wichtig genug. Doch erst, als ich ihre Cousine, die ein sehr ähnliches Leben geführt hatte, abfilmen wollte, erklärte sie sich bereit. „Du willst, dass ich Dir mein Leben erzähle, ich weiß aber nicht, warum Dich das interessiert. In meinem Leben gab es nichts Besonderes. Wie man leben soll, weiß man, wenn es vorbei ist.“ Dies sind die ersten Sätze meines Films über sie. Sie war eine gleichzeitig schüchterne und energische Frau, die nie geglaubt hatte, wichtig zu sein, und schwankte zwischen der Angst, nicht zu genügen und der Lust, dass ihr jemand zuhörte, zuerst ich und dann die vielen Tausend Zuschauer des Fernsehens, der das Geld für den Film bereitgestellt hat.

In meinem Film über sie, und es war mein erster Film, bin ich stumm, ich lausche der Muttersprache. Um als Filmemacherin in Bildern sprechen zu lernen, hatte ich mir Stimme und Bild meiner Mutter geliehen. Meine Generation des feministischen Aufbruchs war die erste, die mit Hilfe der Pille klar die Entscheidung treffen konnte, nicht Mutter zu werden. Wir hatten das Glück und die Notwendigkeit, uns völlig neu erfinden zu können und in allem das Leben der Mutter zu verwerfen. Wir konnten, wenn wir wollten, diesen Jahrhunderte alten Generationenvertrag aufkündigen, der die Frauen verpflichtete, ihren Körper immer wieder zum Spiegel des mütterlichen zu machen. Ich wollte von ihr fort, aber ich wollte sie nicht verlassen, ich wollte aufbrechen, aber nicht gegen sie. Wenn es aber wirklich so ist, dass das eigene Kind der beste Halt ist gegen die Tendenz der Tochter, sich in der Mutter aufzulösen, und bis zu dem Zeitpunkt, als Freud das schrieb, keine anderen gesellschaftlichen Riten bekannt waren, die denselben Zweck verfolgt hätten, dann musste die erste feministische Generation ein Ersatzritual dafür finden, wenn sie nicht mit dem Problem der Mutter-Tochter-Fusion ein Leben lang kämpfen wollte. Mein Ersatzritual war dieser Film. Wenn ich ihn nicht hätte machen können, hätte ich, die filmische Autodidaktin, wohl nie einen gemacht.

Als ich ihr den fertigen Film am Schneidetisch vorführte und mit heftiger Angst ihr Urteil erwartete, denn damals war es noch etwas Unerhörtes, einen Film über die eigene Mutter zu machen, sagte sie: „Ich kann es nicht leugnen, das ist mein Leben.“ Noch nie hatte sie den ständigen Aufschub ihres Lebens so klar gesehen, dieses Leben im Wartesaal. Und das bedrückte sie. Sie identifizierte sich so vollkommen mit dem Bild von sich selbst, dass sie, als der Film dann im Fernsehen lief, meinem Vater sagte: „Das siehst Du Dir jetzt an. Das ist mein Leben und Du weißt nichts davon.“ Dieser Film wurde zu ihrer Waffe und auch zu ihrer Rache an dem gesellschaftlichen „man“ und auch an meinem Vater, der ihr oft über den Mund gefahren war und klargemacht hatte, dass ihre Meinung nichts bedeutete. Und je mehr ich mit diesem Film im Auftrag des Goethe-Instituts um die Welt reiste und ihr davon erzählte, desto zufriedener wurde sie. Eines ihrer Lieblingsworte war „schlicht und bescheiden“, aber sie wollte in dieser Bescheidenheit vor aller Welt glänzen.

Dann starb ihre Mutter und nie vorher habe ich meine Mutter so schreien hören wie an diesem Grab. Dann starb mein Vater, und sie war so verzweifelt, wie ihre eigene Mutter es gewesen war beim Tod ihres Mannes. Die Selbstverständlichkeit ihres Lebens war zerrissen. Ich war im Ausland, nahm den nächsten Flieger und wollte ihr dann doch das Einzige, was ihr wichtig war, nicht erfüllen: ich sollte in der Nacht neben ihr im Bett meines Vaters schlafen. Ich weigerte mich. Zu oft hatte ich ihr den Mann ersetzen müssen, von dem sie sich nicht verstanden fühlte, und so hatte sie mir meinen eigenen Weg zu meinem Vater versperrt. Ihre Verzweiflung war aber so gewaltig, dass ich schließlich nachgab. Sie konnte sich nur als Teil eines Paares vorstellen. Sie war ein Paar gewesen mit ihrer Mutter, dann war sie ein Paar mit meinem Vater und jetzt wollte sie ein Paar sein mit mir. Und dagegen musste ich mich mit aller Kraft wehren, denn meine Mutter liebte die Machtposition, die ihr aus der Leibeigenschaft der Tochter erwächst, „Fleisch von meinem Fleisch.“ Ich musste darauf bestehen, dass es zwei Leben gab, mein Leben und ihr Leben, aber nicht unser Leben.

Sie zog nach Berlin, in meine Nähe. Sie machte stundenlange Spaziergänge, fing mit allen möglichen Leuten Gespräche an, fing einen Dieb, der in einem Kaufhaus flüchtete, brachte handgreiflich zwei Betrunkene auseinander, die sich schon so geprügelt hatten, dass sie bluteten. Sie war stolz auf ihren Mut. Aber wenn es dunkel wurde, verbarrikadierte sie sich in der Wohnung mit zwei Stühlen vor der Tür und einer großen Kuhglocke als Warnanlage. Jahre später las ich bei Julia Kristeva: „Mut und Furchtlosigkeit werden aufgewogen durch Zwangsneurose und Paranoia.“ Dann begann die Zeit, wo sie die Knöpfe auf der Fernbedienung nicht mehr auseinanderhielt, sie vergaß, wie sie ihren Einkaufswagen auf- und wieder zuklappen konnte, sie schaltete die Platte ihres Elektroherdes nicht mehr aus und trug ihr Hörgerät nicht mehr. Ich schrie wie ein Sprachautomat langsam, leblos und ohne Artikulation die nötigen Worte in ihr Ohr oder ins Telefon. Sie beklagte sich, dass ich sie anschrie, aber wie schreit man „freundlich“? Sie merkte, dass etwas mit ihr passierte und sagte verzweifelt: „Mein Kopf schmerzt, als sei darin eine Ladung Kieselsteine.“

Ich war auf der Suche nach dem richtigen Gefühl für diesen Menschen, dem ich der liebe Gott war und der Mülleimer. Dann kam der Satz: „Mein persönliches Ich ist weg. Ich habe ja nichts mehr, mein einziges Hab und Gut ist meine Tochter.“

Sie konnte nicht mehr allein in ihrer Wohnung leben und war einverstanden, mit ihren eigenen Möbeln in ein Appartement in ein Heim zu ziehen, nur zwei Straßen von meiner Wohnung entfernt. Sie mochte das Heim, sie fühlte sich in Sicherheit, sie beruhigte sich. Aber sehr schnell begann der Verfall. Wer einmal Zeuge eines solchen Prozesses der langsamen Verdämmerung gewesen ist, weiß, dass es die Hölle ist für den Kranken, der merkt, wie er sich verliert, aber auch für den Angehörigen, der nicht helfen kann. Die Sätze meiner Mutter wurden zusammenhangloser und chaotischer, ihre Hörschwäche wurde zur Taubheit und je weniger sie noch hörte, desto größer wurde ihr Mitteilungsdrang.. Sie sprach ohne Punkt und Komma und es reichte, irgendetwas zu sagen, nur um ihren Redefluss in Gang zu halten. Es reichte sogar, wenn ich einfach ab und zu die Lippen bewegte.
Aber langsam begriff ich, dass dieser Zustand nicht einfach nur ein Verfall ist, sondern seine eigenen Wahrheiten hat. Die Demenz meiner Mutter ist von der alltäglichen Vernunft her gesehen nur Chaos, aber in diesem Meer von Worten tauchen, wie Inseln, Einsichten von tiefer Wahrheit auf. Wünsche, die sie nie ausgesprochen hat, die ihr wahrscheinlich noch nicht einmal bewusst waren, verwandeln sich in Erlebnisse. Diese ängstlich-prüde Frau „erlebt“ im Heim eine Romanze mit einem Pfleger, die sie großmütig beendet, weil sie nicht will, dass er sich ihretwegen von seiner Frau scheiden lässt. Sie „rettet“ ein kleines Türkenmädchen, das in einer Schachtel in ihrem Zimmer wohnt, mit meiner Hilfe vor dem gewalttätigen Vater und der Polizei. Sie „dirigiert“ ein Möbelunternehmen, das Wagenladungen von Möbeln in meinem Keller verstaut. Sie „kümmert“ sich liebevoll um meine drei Kinder ( ich bin kinderlos), besonders um die Kleine, die ihr Leben in einem Weidenkörbchen in meinem Bücherschrank verbringt. Sie gibt mir Tips für die Erziehung und das Kochen (sie hat das Kochen ein Leben lang gehasst). So repariert sie wieder die Generationenkette, die ich zerrissen habe. Sie „schlichtet“ den ewigen Streit der Verwandten und sorgt für Versöhnung. Sie lebt nach dem von ihr vor fast 40 Jahren ausgesprochenen Satz: „Wie man leben soll, weiß man, wenn es vorbei ist.“
In ihrer Demenz gestaltet meine Mutter den letzten Akt ihrer Biographie. Alle Biographien sind ein Objekt des Begehrens und nichts, was sich durch die Summe des Gelebten zwangsläufig ergibt. Alle Menschen werden zu Erfindern ihrer eigenen Vergangenheit. Meine Mutter schreibt ihr Leben um, unter dessen Enge, Ärmlichkeit und Angst sie immer gelitten hatte. Ihr Redefluss beschreibt ihre Metamorphose, nicht logisch-narrativ, aber metaphorisch und emblematisch. Und damit schreibt sie auch den Film fort, mit dem sie sich, noch im Vollbesitz ihres Verstandes, so vollkommen identifiziert hatte. Sie „überschreibt“ ihn.
Die Demenz meiner Mutter ist seit fast zwei Jahren ein Dasein auf der Schwelle, ein nicht mehr/noch nicht, das die einfache Abfolge von Leben und Tod unterläuft. Dieses Zwischenreich der Geister ähnelt nicht dem, was in unserer Kultur immer mit „Würde und Selbstbestimmung bis zum Ende“ bezeichnet wird, denn damit wird immer die volle Kontrolle über den Verstand gemeint. Die Seele ist uns bestenfalls „das innere Afrika“, wie Freud gesagt hat. Aber die Entgrenzung, die meine Mutter in ihren halluzinierten Erlebnissen betreibt, hat mehr mit Selbstbestimmung zu tun als vieles andere in den früheren Jahren ihrer Existenz. In der langen Phase ihres Demenzwerdens gab es immer wieder Momente, in denen ich dachte: Nie war sie so lebendig wie jetzt. Wer redet, ist nicht tot. Den Wert dieses Zwischenzustands können wir in unserer materialistischen Kultur nur schwer begreifen. In seinem Buch der Trauer um den Tod seiner Mutter schreibt Roland Barthes, dass das Zeitalter des abendländischen Materialismus zu Ende ist und ein Wesen nicht mit dem Körper verschwindet.

Durch meinen Film bin ich zum ersten Mal mit meiner Mutter in ein Gespräch gekommen. Mir ging es wie vielen von uns, die mit den Eltern nicht sprechen können, solange sie noch leben. Ich wollte herausfinden, was für eine Frau das war, die ich nur als meine Mutter kannte. Durch den Film hatte ich sie mitnehmen wollen auf meinem feministischen Aufbruch und sie war dankbar dafür. Wie groß die Anstrengung war, der sie sich dabei unterzog, davon zeugt einer ihrer letzten Sätze im Film: „Das Alte kann ich nicht mehr und das Neue weiß ich nicht, wie das geht.“ Ich habe lange unterschätzt, in welche Turbulenzen meine Mutter geriet. Auch sie das hat damals nicht gemerkt, der Zuwachs an Möglichkeiten war zu befreiend. Aber jetzt, in ihren Monologen, kamen die unterdrückten Ängste hoch. Was ist das eigene Leben noch wert, wenn die Tochter sich so radikal davon abwendet? Ein Leben lang hatte meine Mutter Angst gehabt, den Anforderungen der anderen nicht zu genügen, die immer gesagt hatten, was zu tun sei. Jetzt war ich „die anderen“. Sie hatte Angst, dass sie in meinen Augen nicht gut genug sei, nicht schnell genug, nicht tapfer genug. Die Frau in meiner Mutter, die durch den Film wieder geweckt worden war, Jahre, nachdem sie in der Mutter untergegangen war, hat mich beneidet und sie hat sich vor mir gefürchtet. Und so entwickelte meine Mutter ein exzessives Verlangen nach Bestätigung und Liebesbeweisen, um ihre Unruhe zu besänftigen. Und immer wieder erneuten Versicherungen, dass sie als Mutter doch noch eine Instanz sei.

In meinem Dialog mit dem Film löst sich langsam die streng gefügte Narration des Films auf in der Unsinnskommunikation, die ich jetzt mit meiner Mutter habe. Die Filmbilder werden von meiner Mutter umgedeutet und fortgeführt. Neue Verbindungen und Erklärungen tun sich auf unter ihren Portraits, die sich jetzt verwischen und überlagern, so wie es auch die Realität in ihrer inzwischen gestörten Wahrnehmung tut.

Dass ich sie in einem Heim untergebracht habe, ist Quelle meines ständigen Schuldbewusstseins, dem keine Tochter entgeht, die ihre Mutter in ein Heim gibt. Denn natürlich hatte sie gesagt: „Du musst mir eines versprechen: mich niemals in ein Heim zu geben.“ Und natürlich hatte ich es ihr versprochen. Hier setzt die archaische Logik an, die es in jedem Mutter-Tochter-Verhältnis gibt: mein Leben gegen Deines. Immer wieder geriet ich in diesen Mutter-Tochter-Zusammenhang von Pflicht und Aufopferung, Schuldbewusstsein und Enttäuschung. Und dagegen wehrte ich mich mit allen Kräften. Die Einsicht, dass Moral auch darin besteht, sich nicht freiwillig zum Opfer zu machen und dann darunter zu leiden, musste ich immer wieder gegen die Anfälle von Selbstbestrafung behaupten. Auch ich lebte in der Ambivalenz, in die auch meine Mutter geraten war, auch für mich galt: „Das Alte kann ich nicht mehr und das Neue weiß ich nicht, wie das geht.“

Und so beginne auch ich jetzt zu reden, im Angesicht des Films über sie und über die Mechanik hinaus, mit der ich, wenn ich sie im Heim besuche, ihren Monolog in Schwung halte. Ich fange an, ihr zu sagen, was ich nicht zu sagen gewagt hätte, solange sie bei vollem Verstand war. Mir ist nicht klar, ob sie das überhaupt noch hören kann, sie ist so gut wie taub. Aber für mich ist es wichtig, diese Sätze auszusprechen, solange sie noch da ist. Nur in diesem Zwischenreich sind sie keine Abrechnung und nicht vergeblich.

Ich spreche über unseren Film. Ich habe ihn gemacht, weil ich meine Mutter zur Lieferantin der weiblichen Sicht auf die Geschichte erklärt hatte, zum Modell für „Frauen und Deutschland“, prototypisch in ihrem masochistischen Wiederholungszwang, dem wahren Leben nachzulaufen. Und ihren Konsumeifer und ihren hektischen Drang, alles nachzuholen, was ihr der Krieg geraubt hatte, habe ich als Klassen- und Generationsproblem erklärt. Das war nicht falsch, denn Geschichte wird nur als Biographie erfahrbar und Biographie formt sich unter dem Druck der Geschichte. Aber es war nicht die ganze Wahrheit. Ich habe ihn auch gemacht, um in der großen deutschen Geschichte und dem Bilderkorpus vieler Unbekannter das Bild meiner Mutter zu verstecken. Die Entwertung, die darin liegt, die Mutter zum sozialen Paradigma zu machen, kommt aus der Angst, sich mit dem Einmaligen, was sie für die Tochter ist, in einem Film zu konfrontieren. Die Mutter ist der Körper, nicht nur eine Bezugsperson. Die Gebärerin, aus deren Leib man kommt, hat eine ungleich größere symbiotische Bedeutung als der Erzeuger.

Das zu zeigen, ging nur in einem Film, dem Medium, das ja wie kein anderes die Prozesse des Unbewussten in Gang hält. Film erlaubte die Distanz zu diesem Körper und gleichzeitig die Konfrontation mit ihm. Ich wurde zur Schöpferin eines von mir unterschiedenen und abgetrennten mütterlichen Objektes. Das geschah völlig unbewusst. In Bildern kann man etwas wissen und doch nicht wissen, so wie man lebendig sein kann und tot gleichzeitig. Wenn ich meinen Film heute ansehe, sehe ich auch, dass Film, der moderne Friedhof der Bilder, auch das Medium der Reinkarnation ist.

Denn inzwischen ist meine Mutter vollkommen in ihrer eigenen Welt. Sie spricht nicht mehr, sie nimmt mich nicht mehr wahr, wenn ich sie besuche. Ich tue das seit einiger Zeit nicht mehr, denn es geht über meine Kraft, dieses Schweigen zu ertragen. Sie wirkt nicht unglücklich. Niemand erwartet mehr etwas von ihr, was sie nicht leisten kann. Und vor allem, sie selbst erwartet es nicht mehr von sich. Physisch angekommen beim Zustand eines Kindes ist sie wieder da, wo sie am glücklichsten war. Und ich bin zu ihrer Mutter geworden, verantwortlich dafür, dass sie bekommt, was sie braucht. Eine Frau, die sich immer als Mutter definiert hat, kennt nur einen glücklichen Gegenpol: das Kind.
Als meine Mutter verstummte, hatte ich nur den einen Wunsch, das Bild, das ich von ihr hatte, zu retten gegen die zunehmende Entfernung dieses Menschen, der im Rollstuhl vor mir saß. Auf dem Tisch vor mir stehen jetzt vier Bilder. Auf dem ersten sehe ich meine Mutter mit mir als Baby, sie, eine lachende, junge Frau und mich, ein unwilliges weißes Bündel, das nicht mehr auf dem Arm gehalten werden will. Auf dem zweiten sehe ich eine elegante, lächelnde junge Frau, auf deren Schoß ein Kleinkind steht, das mit riesigen Augen auf das Vögelchen wartet, das jetzt aus dem Fotoapparat kommen soll. Dieses Bild wurde gemacht, damit mein Vater, der Soldat, es bei sich tragen konnte. Ich habe meine Mutter und mich in diesen Bildern eingefroren. Sie hat mich immer für ihr Glück verantwortlich gemacht. Wenn es ihr schlecht ging, wenn sie traurig war, war ich verpflichtet, sie glücklich zu machen. Jetzt stehen diese beiden Fotos für ein Glück, das sich meine Mutter immer nur als starkes, reines Gefühl vorstellen konnte, ohne jede Ambivalenz. In diesen Bildern kann sie ein Liebesobjekt sein ohne jeden Zwang, ohne jedes Opfer, ohne jede Strafe.
Das dritte Bild zeigt meine Mutter neben ihrer eigenen Mutter und ihren Geschwistern. Die 12jährige sieht als einzige aus dem Bild heraus, als suche sie da etwas, während alle anderen in die Kamera starren. Ist es der fehlende Vater? Auf dem vierten Foto ist sie selbst ein Baby auf dem Schoss ihrer Mutter, umgeben von den Geschwistern und dem Vater in Uniform. Auch dieses Bild wurde gemacht für einen Soldaten, ihren eigenen Vater, der in einem anderen Krieg kämpfte. In dem Jahr ihrer noch aktiven Demenz hatte meine Mutter mich immer wieder für ihre Mutter gehalten. Das Baby umsorgt von der Mutter, gleichgültig wer hier die Mutter ist und wer das Kind, war der letzte Moment, den sie mit mir teilte, bevor sie in dem Schweigen verschwand, zu dem ich keinen Zutritt mehr habe.

– In: Zeitschrift der Kulturstiftung des Bundes –

Der Kongress Die Untoten. Life Sciences & Pulp Fiction

Der dreitägige Kongress „Die Untoten. Life Sciences & Pulp Fiction“ im Mai 2011 auf Kampnagel in Hamburg versammelte 80 Wissenschaftler/innen und Künstler/innen, um die verletzlichen Zustände zwischen Leben und Tod in den Kulissen eines Filmsets zu präsentieren und zu diskutieren. Der Kongress inszenierte einen theatralen Ort der Wissenschaftspopularisierung, der anhand verschiedener Personen und Redeweisen, Wissenschaftskulturen und spekulativen Fiktionen definierte, was noch/schon lebendig und was noch/schon tot ist.
Auf welche Art und Weise sprechen Betroffene, Wissenschaftler, Künstler und Ärzte über die Schwelle zwischen Leben und Tod? An den Schnittstellen von Medizin, Technik, Ethik, Philosophie und Popkultur sammelte der Kongress Erzählungen, Vorträge, Zeichen, Bilder und Chiffren für ein Archiv. Aus 60 aufgezeichneten Stunden entstand schließlich die mobile Archiveinheit und Installation „Das Archiv des Untoten“.

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