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Jutta Brückner

Vom Pathos des Leibes oder: Der revolutionäre Exorcismus

Die Beschäftigung mit dem geschichtlichen Horizont der eigenen Biografie ist noch nicht alt. Sie gewinnt an Boden. So als ob der eigene Lebens­entwurf ständig durch Distanz korrigiert, abgesichert, befragt und über­prüft werden müsste, weil die Unmittelbarkeit im Rhythmus des fast-food-­Lebens nichts mehr erlaubt an gegenwärtiger Erkenntnis. Das ist mehr als Spurensuche. Es ist der Versuch, Sinn wenigstens durch die Konstruktion von Kontinuität herauszufinden, radikale Form der Geschichtlichkeit mensch­licher Existenz.

Dass diese Kontinuität für ein linkes Empfinden nur in der Subgeschichte zu finden ist, versteht sich von selbst. Subgeschichten haben im gleichen Maße ihre Brüche und Zäsuren wie die herrschende Geschichte. Reagierend auf die offiziellen Schemata sind sie darauf angewiesen, sie – protestierend – zu bestätigen, Und das gilt meistens auch für die Politikbegriffe, die ihnen zugrundeliegen.

Claus Leggewie hat in seinem Buch „Kofferträger. Das Algerien-,Projekt der Linken im Adenauer-Deutschland.“ einen Teil Subgeschichte ausgegraben. Er beschreibt einen Teil des Algerien-Krieges, der von Deutschen zumeist auf deutschem Boden aber auch an so exotischen Orten wie als Orangenplantagen getarnten Waffenfabriken in Marokko stattfand, neben Falschmünzerei in Osnabrück, Kurier- und Transportdienst zwischen Frankreich und Deutsch­land ( daher der Name „Kofferträger“, die Kriegskasse der F.L.N, wurde in Koffern transportiert), einem Rückführdienst für deutsche Fremdenlegionäre vom algerischen Kriegsschauplatz, illegalem Waffenhandel zwischen Hamburg und Tanger, Sprengstoffattentaten der ‚Roten Hand‘, einer Terrororganisation des Deuxième Bureau und so einfachen, bescheidenen Dingen wie der Aufklärung der deutschen Öffentlichkeit über diesen Krieg, wo fern in der Sahara zwei Völker aufeinander schlugen.

Scheinbar einfach, denn für deutsche Köpfe war klar, dass alle Angehörigen der F.L.N. Terroristen waren, dieser Konflikt vom Osten angezettelt oder zumindest doch geschürt, folglich wurde in Algerien der freie Westen als Bollwerk der NATO gegen den Kommunismus verteidigt. Und alle, die versuchten, das anders zu sehen, dieses wilde Durcheinander von Trotzkisten, Ostermarschierern, DGB-Funktionären, SDS­-Studenten, Abenteurern, Waffenhändlern, linken Katholiken konnten nichts anderes sein als bezahlte Agenten des Ostens. Die freie Presse, mit einigen tapferen Ausnahmen, erfüllte ihre Funktion mit so eindringlicher Hingabe, dass Geschichtsschreibung an diesem Kapitel wieder einmal zu archäologischer Kleinarbeit wird.

Leggewie beschreibt das Algerien-Projekt als Bindeglied des linken Inter­nationalismus zwischen Spanien und Vietnam: Kontinuität der Subgeschichte in der politischen Windstille des Klerikalismus, der Zeit der satten Ade­nauer-Mehrheiten. Subgeschichte materialisiert in Prozessen, Entscheidungen, Taten, Biografien, nicht in Institutionen. Wichtig sind ihm die Subjekte als Orte von Lebensgeschichten, die Existenzen, in denen Geschichte zu sich selbst kommen kann. Das ist nicht nur ein richtiger Ansatz, sondern auch dadurch bedingt, dass die Szene so abenteuerlich klein war, so über­schaubar konspirativ. Was heute reizvoll ist beim Lesen, machte die Melancholie der politischen Verhältnisse in den Fünfzigern aus. Aber es führt in diesem Zusammenhang dazu, dass abstrakte Politikbegriffe sich sofort aufrauen, wie es immer der Fall ist, wenn es um Lebensgeschichten geht. Leggewie bewegt sich auf Schleichpfaden, sucht da, wo nichts zu sein scheint und, kaum hat er etwas gefunden, systematisiert er nicht das Erlebte weg. In den Biografien und zwischen ihnen werden die Grenzen fließend zwischen politischem Engagement, existentiellem Aufbruch und anti-bürgerlicher Aben­teurerlust. Politik ereignete sich zwischen der Tradition der links-revolutionär inter­pretierten kantischen Moral und dem bürgerlichen Exotik-Traum. Hier liest man, was man immer schon wusste und zwischendurch mal wieder vergaß: Triebkraft für revolutionäre Parteinahme ist nicht nur die ideologische Überzeugung, sondern auch die Lust an einem Leben ohne bürgerliche Frag­mentierungen. Auch das eine Subgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft.

Lebensläufe, männliche

Es sind natürlich Männer, über die hier gesprochen wird. Zur gleichen Zeit sang ein Mann (Freddy): „Der Weg nach Haus ist schwer für einen Legionär“. Die Frau ist zu Hause und wartet und bangt. Vielleicht hat sie aber auch drei Hutgeschäfte wie die trotzkistische Putzmacherin Leni Jungclas. In deren Hinterzimmern ließen sich ihre und ihres Mannes konspirative Tätig­keiten für den algerischen Unabhängigkeitskampf gut verstecken. Vielleicht ist sie sogar, wie die Frankfurter SOS-Vorsitzende Walmot Falkenberg, Dreh­scheibe für das Reseau zwischen Frankreich und Deutschland. So etwas gab es damals. Aber es ist ebenso gut möglich, dass sie die „dufte Puppe im Arm“ ist, die neben der täglichen Ration Zigaretten und DM 6,- Taschengeld den Fremdenlegionär in Marokko erwartet, falls er wirklich türmt. Etwas später findet sie sich dann auf dem Beifahrersitz des großen, schnellen Autos wieder, wie es, neben schönen Frauen, von algerischen Revolutionären als ihr gutes Recht in Anspruch genommen wurde. Den Frauen stand die Welt offen, offensichtlich. ­„Die Welt ist groß bunt, ich bin ein Vagabund.“ Das ist allerdings schon wieder ein Mann

WO WAR DER PLATZ DER WEIBLICHEN KÖRPER IN DER REVOLUTION? UND WO DER PLATZ DER REVOLUTION IN DEN WEIBLICHEN KÖRPERN?

Walmot Falkenberg hat das Glück, dass ihre Mutter und ihre Tante Helga Einsele ihr den typisch weiblichen Nachkriegslebenslauf ersparen; psychische Zurichtung durch selbst zugerichtete Mütter. Ihr Anteil am Algerien-Projekt ist er­zählbar als Geschichte politischer Resistenz, in der sich Politik mit sub­versiver Öffentlichkeit deckt. Kein Privates muss von ihr öffentlich und damit politisch eingeklagt werden. Damit ist sie allerdings eine Ausnahme. Die Geschichten anderer Frauen dieser Generation lassen sich nur beschreiben als mit Unterdrücktem überladene Leerstellen, auf die eine soziale Kondi­tionierung stillschweigend Jahre lang hingearbeitet hatte. Diese „Negativ­sozialisation“ zeigte vor allen Dingen, was nicht möglich war. Sie schuf eine Generation von Jugendlichen in Steckkissen, die sich, je größer und älter sie wurden, desto kleiner machten, zusammengepresst unter die Moral der Sekundärtugenden geduckt, die sich rechtfertigten als Dezenz der Natur. Der sinnliche weibliche Körper wurde ausgelöscht. Körperliches Unglück wurde unter Schottenröcken versteckt, seelische Deformation in Büchern begraben, gesellschaftliche Blödigkeit machte sich in der Maske von Schüchternheit gesellschaftsfähig, Jeder Ausbruch kostete einen realen Preis. Ich erinnere mich an den Fall einer Mitschülerin, die vier Wochen vor dem Abitur, 2o Jahre alt, die Schule verlassen musste, weil sie ihre Schwangerschaft nicht mehr länger verheimlichen konnte. Diesen weiblichen bürgerlichen Subjekten ist das „Abseits als sicherer Ort“ mit zum Teil tödlicher Konsequenz ins Innen­leben gewandert. Es reicht, die Selbstzeugnisse zu lesen, die die Neue Frauenbewegung hervorgebracht hat. In ihnen ist noch in den stolpernden Worten, in denen eine Subjektivität nach Luft ringt, schreibend, der Schrecken spürbar, dem hier – ausnahmsweise – mit Worten zu entkommen ist. Denn das, was erst Jahre später beklagt werden konnte, waren die Verwüstungen, Sprachhemmungen und Wahrnehmungsblockaden, in denen die Welt sich diesen Halbwüchsigen immer wieder entzog. Es geht dabei nicht nur um die bekannten Schweigerituale über alles, was der Vergangenheit angehörte. Es geht, tieferliegend, um die Art, wie der weibliche Torso immer schon modelliert wurde: Übereignung des Blicks an den herrschenden männlichen, Niederschlagen der Augen, weil die Aneignung der Welt nur über das Geschenk des Mannes möglich sein durfte, Zurückhalten der Neugier, Verdrängen der Wissenslust. Rituale, archaische. Aber: praktiziert in einer Zeit der erweiterten Bildungsange­bote für die Töchter der Bürger und Kleinbürger, latent vermittelter Aufstiegs- und Ausbruchshoffnungen der Mütter, die ihre eigene Lebensperspektive unter Trümmern begraben hatten, Die Karriereforderungen und Größenphantasien, die seit dem 19, Jahrhundert Produkt bürgerlicher Sozialisation sind und schon so manche kranke, schöne Seele der Revolution hervorgebracht haben, wirkten zum ersten hier auch auf die Seelen der Töchter. Hin und her gerissen zwischen den Ahnungen und Möglichkeiten, aber auch den Forderungen der neuen Freiheit und dem Schraubstock der alten Zwänge und Behinderungen wird diese Generation von Frauen kopflos, weil ratlos. Gefühlsballungen verkleben die Gedanken. Mit dem eigenen Leib lebt sie die Erkenntnis nach, dass Unterdrückung dumm macht und da Dummheit nach deutschem Glauben nicht weh tut, auch stumm.

Das Leiden am gesellschaftlichen double-bind wurde erfahren als eigene Schuld und somit als Schande. Die These vom elterlichen Kontroll-Loch, das dieser Generation zwei Revolten ermöglich haben soll, die proletarische der Halb­starkenkrawalle und die bürgerliche Studentenrevolte, muss für Frauen modi­fiziert werden, denn sie teilt zum mindesten den Nachteil der überwältigenden Mehrheit der bisherigen Geschichtsschreibung: sie wurde an männlichen Lebensläufen entwickelt. Frauen wurden als Sonderfall der allgemeinen Erkenntnis vorläufig ausgeklammert, damit aber ihre Abweichung von der Norm schon wieder bestätigt. Selbst bei Verschwinden der elterlichen Kontrolle bleibt für Frauen die Überwachung der Gesellschaft, ob sich diese formbaren Wesen auch der ontologischen Entscheidung über das Wesen der Frau beugen.

Es gab ja noch nicht einmal das Versprechen, daß ein großartiger Ausbruch in eine heldenhafte dropout-Existenz führen würde. Auch diese anti-bürger­liche Tradition ist eine männliche. Trotzköpfchen wurde gezähmt durch die Ehe, zu ihrem Glück in ihr Glück, so lasen es die Mädchen, während ihre Brüder immerhin durchs wilde Kurdistan ritten. Zum melancholischen Ort von Gegenwart wurde das Dichterwort; rauschhaftes Zitieren von Benn-Gedichten, Musik bei Kerzenschein, allenfalls für die avanciertesten die existentialistische Gebärde, für die meisten aber die gegen sich selbst wütende Reduzierung auf einen Spiegel herrschender Vorstellungen über das Wesen des Weibes. Simone de Beauvoir war unerreichbar fern. In der Verbindung von Psychiatrie, Revolution und Melancholie, die für den revolutionären Diskurs der Bürgersöhne des 19. Jahrhunderts nachgewiesen worden ist, haben, ein Jahrhundert später, bei dem Versuch der Töchter, ihre eigene bürgerliche Menschwerdung zu betreiben, Psychiatrie und Melancholie alles verdrängt. Widerstand wurde geleistet in Mengen als Flucht, Streit, Krankheit, Verweigerung, im immer wieder aufflackernden Resistenzverhalten, das sich familiär äußerte, lag gesellschaftliche Sehnsucht, Hoffnung auf Entpri­vatisierung. Aber abgeschnitten von den Möglichkeiten, sich zu denen zu entwickeln, die sie sein wollten, öffentlich, lebten die Mädchen mit an­gehaltenem Atem, auf Zehenspitzen, den Blick nach innen gekehrt und doch auch fest gerichtet auf den utopischen Ort, der aufgeladen war mit allem, was Stoff von Leben war: Freiheit, Liebe, Glück, Abenteuer, das ganz „Andere“.

Dieser utopische Ort war damals Paris. Jede Generation hat ja solche utopischen Orte. Aber es ist darauf zu bestehen, dass es damals nicht um Flucht als Ver­weigerung ging, nicht ums Aussteigen, sondern ums Einsteigen, um eine Flucht hin zu den Paradiesen der Realität, wo der Stoffwechsel zwischen den weib­lichen bürgerlichen Subjekten und der Wirklichkeit endlich in Gang kommen konnte. Durchs Leben schlingernd, in verzweifelter Latenz, warteten die Bürgertöchter auf den Moment, wo weibliche Sprachmächtigkeit endlich durch­brechen würde. Hier beginnt das ungeschriebene 15. Kapitel von Leggewies Buch.

Identifikation

U., 19 Jahre alt, flieht im Strom der vielen anderen, in dieser heimlichen Emigration, in diesem Exodus als Rettung vor der lauernden Psychose, flieht wie die meisten von ihnen nach Paris. Einige flohen auch nach London. Das war Temperamentssache. Paris war auch ein erotischer Ort, London vor seinen swinging sixties nicht. Fast das erste, was ihnen allen passiert, wenn sie, kaum angekommen, aufgeregt die ins Fleisch gewachsenen Verbote an die frische Luft führen, ist, auf den breiten, überfüllten Boulevards die Frage eines im gleichen Rythmus auf gleicher Höhe nebenher gehenden Mannes, Schwarzer, Araber: „Vous étes…… (Allemande, Sueoise, Anglaise, Danoise).. Mademoiselle?“ Hier schieden sich dann die Wege. Denn es gab welche, die sich sofort entrüsteten, was ihnen meistens nichts half, denn die Anmache war hartnäckig und wurde betrieben wie ein Stafettenlauf: der eine gab auf, an der nächsten Ecke übernahm ein anderer. Es gab aber auch welche, die sich, uneingestanden, mit verzückt schlechtem Gewissen genau das erhofft hatten: den Einbruch des fremden Ortes in ihr Leben, die Exotik als Übersteigen der Grenze, den Durchbruch zu einem anderen Ich, nur zu schaffen unter dem höchsten Einsatz des Zusammen­pralls mit dem Verbotenen. Die Rechtfertigung war natürlich ideologisch sauber. „Araber und Schwarze sind Menschen wie Du und ich.“ Für U. erfüllte diese mit blanker Stirn vorgetragene Frechheit einen doppelten Zweck; sie offenbarte die anderen als Rassisten und verhüllte für sie selbst den Zauber, dass diese braunen und schwarzen Männer eben nicht waren wie Du und ich. Das vagabundierende Begehren heftete sich an die manifeste Exotik als an den Ausnahmezustand, ohne den die Welt, die sie noch an ihrem Körper mit sich herumtrug, nicht abzusprengen war.

Es ist nicht leicht, klarzumachen, dass die von Frauen heute so heftig bekämpfte Anmache damals Initialzündung zu einer revolutionären Situation sein konnte. Zuerst einmal war das ein Schritt der Entprivatisierung, Durchbrechung des Schweigens, Verletzung des Wahrnehmungsverbotes, Sichtbarmachung. So wie die ganze Situation Schritt für Schritt sich entwickeln würde als Materialisie­rung des Unsichtbaren, so begann es gleich am ersten Abend: Gefallen, Lust Begehren bekamen das Recht der Öffentlichkeit, einen Platz unter den Tugenden des Tages. Es war in diesen Begegnungen auf den Boulevards klar, dass es nicht einfach um Sinnlichkeit ging, sondern um Sinnlichkeit, die sich der Absperrung in die Intimität verweigerte. Die Lust war Eroberung im gleichen Atemzug von Erotik und Öffentlichkeit, eine Liebesgeschichte wie ein Fanal. Auch der auf andere Weise kolonisierte Blick des arabischen Mannes suchte mit Heißhunger auf den Straßen nach den Wirklichkeiten, die ihm zu Hause versperrt waren und die sich nun in den fremden europäischen Mädchen potenziert enthüllten. Zwei Kolonisierte trafen zusammen, zweimal Gier nach Erfahrung von Wirklichkeit, doppeltes Verlangen nach Exotik, danach, den Rand der eigenen Welt zu übersteigen. U. war keineswegs das passive Opfer einer aufdringlichen Begehrlichkeit. Im Gegenteil drängte bei ihr alles danach, endlich zu erfahren, wie denn die Wirklichkeit eines weiblichen Subjektes überhaupt aussehen könnte.

Sie hat sich also anmachen lassen, sie ist mitgegangen, sie hat sich verliebt, der Mann ist natürlich Algerier. Wäre er es nicht gewesen, hätte das nichts geändert, denn alle Männer in Frankreich steckten bis zum Hals in Politik: Algerienkrieg pro oder contra, potentielle Deserteure, Kofferträger, oder Anhänger der O.A.S. Die Basislektion ist erst einmal, dass Politik nicht notwendig den Charakter verdirbt. Dann folgen die anderen Lektionen; der Krieg, die Verbrechen der französischen Armee und Politik, die Centre de regroupements, die ratillages, die Folter. Es gab keinen Lidschlag zwischen dem Entsetzen und der Bereitschaft, etwas zu machen, sich völlig einzusetzen für einen fremden Kampf. Das war nicht nur jugend­licher Idealismus, der Wunsch, die Welt, in die man doch hereinwachsen sollte, freizuhalten vom Bösen. Es war auch nicht die Kraft erotischer Überredungs­kunst: durchs Bett in den Kampf. Es war nicht nur Partei­nahme für die Dritte Welt, die ausgebeuteten Kolonialvölker, Hass auf den Imperialismus. Es war natürlich auch das und von allem etwas, aber außerdem: die Energie des Begehrens, die hier Wirklichkeit umformen will, war verbunden mit der eigenen Vergangenheit, der eigenen Gegenwart und der eigenen Zukunft. Eine Generation von Jugendlichen – nicht nur Frauen – fühlte sich verantwortlich für die Taten Hitler-Deutschlands, ohne doch durch sie schuldig geworden zu sein. Verantwortung ohne Schuld wirkt wie das prügelnde Überich als lähmendes Schuldbewusstsein. Hier konnte die politische Erbsünde wie in einer Katharsis unter Laborbedingungen abgearbeitet, lebend wie ins Reich der Toten gehandelt, der Widerstand geleistet werden, den die Babys gegen Hitler nicht hatten leisten können. Überwältigt von dem Funktionieren einer kritischen Intelligenz, die sich den Verbrechen, die in französischem Namen begangen wurden, widersetzte, konnten diese Jugendlichen glauben, dass auch zwischen 33 und 45 dies möglich gewesen wäre. In einer fremden, nicht diskreditierten Sprache wurden plötzlich auch wieder Pathosformeln möglich, die die Verbannung von Gefühlen aus den Bereichen der Öffentlichkeit, mit der diese Generation groß geworden war, durchbrechen konnten. Hier war endlich die Gelegenheit „Ja“ zu sagen, die es in Deutschland nicht gab. Denn wahr ist, dass diese Jugendlichen keine skeptische Generation waren aus seelischer Ökonomie, sondern weil keines der gesellschaftlichen Gefühle undiskreditiert den 1000 Jahren entkommen war. Hier gab es Ersatzgefühle, Ersatzsituationen und Ersatzväter, Sartre war einer der wichtigsten.

Besser als mit dem Begriff „skeptische“ ist diese Generation als die „vaterlose“ beschrieben worden.“ Aber einer Frau, für die das Bild das Vaters zerstört ist, erscheint das der Mutter oder ihres Ersatzes nur als Hohn, unfähig den Schlag auszuhalten, die Gefahr der Psychose für sie, für uns. Der Todeswunsch als ein Wunsch, das Ich auszulöschen, viel häufiger.“ (Kristeva) Hier ging es nicht nur um die Reinigung von der politischen Erbsünde, die Frauen konnten in ganz anderer Weise von diesem algerischen Krieg aufgesogen werden, denn hier ging es um Ich-Rettung, Subjekt-Werdung. Nur wenigen dieser Mädchen hätte damals der Begriff „innere Kolonisation“ etwas ausgesagt über seine Situation. Und wenn U. las: „Der französische Imperialismus hat sich im Zentrum des Individuums fest­gesetzt und dort ein planmäßig betriebenes Werk der Ausrottung, der Selbst­austreibung, der Verstümmelung eingeleitet“ dann verstand sie diese Sätze zuerst einmal so, wie sie gemeint waren: politisch-psychologisch. Aber es blieb ein Oberton übrig, in dem sie sich das hinbog aus halb begriffener Fremdheit in erahnte Nähe. Was nicht denkend zusammenzubringen war, die Situation eines Berber-Fallachen und einer deutschen Bürgertochter wurde vom Gefühl erahnt, weil der untrainierte Verstand noch keine Begriffe hatte.

Wenn sie ihre privaten Leiden in die öffentlichen des algerischen Volkes überführte, konnte sie auch für sich die Gründe endlich da orten, wo sie gesucht werden mussten: in der Gesellschaft. In der Befreiung Algeriens konnte sie versteckt die eigene inszenieren, nicht durch Analyse, sondern durch Identifikation mit einer Sache, in der sich das stumm Erlittene ge­sellschaftlich zeigte. Es ging um das Offenlegen des Verborgenen. In einer leidenschaftlichen Doppelidentifikation mit dem Aggressor und dem Opfer trieb U. alles auf den Punkt zu, wo nichts mehr heimlich zerstörerisch wüten konnte, alles sichtbar war: die deutschen Schuldgefühle in der Identifikation mit dem fran­zösischen Verbrechen und die weibliche Leidenserfahrung in der Identifikation mit den algerischen Opfern.

Deshalb war der Schrei „A1gérie – liberté “ nicht einfach die politisch bewusste, moralisch-hochherzige Parteinahme für die Völker der Dritten Welt, sondern der Aufstand von Geist und Fleisch gegen die tödliche Um­klammerung der eigenen Welt, die sich in Deutschland unsichtbar gemacht hatte, um desto sicherer wirken zu können, das Offenlegen der Wunde, die sie bisher hatte für ihr Leben halten müssen.

„Liberté – Algérie“ hieß: nicht nur die Veränderung der Welt, sondern auch die Veränderung ihrer selbst, nicht nur die andere Wahrnehmung bekannter Dinge, sondern die Wahrnehmung überhaupt, nicht nur die Parteinahme für eine gerechte Sache, sondern auch Parteinahme für sich selbst, das Sprengen aller Sprachbarrieren und Wahrnehmungsblockaden. Im doppelten Boden dieses algerischen Befreiungskampfes konnte ihr Hunger nach wirklicher Wahrnehmung ein überschäumendes Angebot an ungetrennten Wirklichkeiten finden. „Alles auf einmal“ heißt ja nicht nur: „alles“ sondern auch: „nichts Getrenntes.“ In einem kostbaren historischen Augenblick konnte das weibliche bürgerliche Ich glauben, gleichzeitig zu sich und zur Welt zu kommen, ohne die Frag­mentierungen der bürgerlichen Geschichte akzeptieren zu müssen. Im Übergang des Schweigens ins Wort, der Starre in die Bewegung wurde die Leerstelle Subjekt durch Identifikation.

Revolutionärer Exorzismus

Das alles war nur möglich, weil dieser Befreiungskampf in Frantz Fanon einen Theoretiker hervorgebracht hatte, der Kolonialismus nicht nur als politisch­administrative Fremdbestimmung beschrieb, sondern als Prozess der inneren Verwüstung, der Knechtung nicht nur des äußeren, sondern der Beschädigung auch des inneren Menschen. Dieser Existentialist der Revolution mit seinem Pathos der Gewalt nimmt den alten revolutionär-eschatologischen Gedanken auf, dass es nicht nur um eine neue Welt sondern auch um den neuen Menschen geht. Die Sprachwucht, mit der er die Kolonisierung der Seele und die Revolte des Leibes beschreibt, haben bis heute nichts Vergleichbares gefunden. Nun sind Seele und Leib und Leib und Welt ja immer Materialisierungen von innen und außen und der Leib in seiner Zentralstelle gleichzeitig beides: der Platz, wo sich die unsichtbare Seele sichtbar machen und die sichtbare Welt ins Unsichtbare einschreiben kann. Der Leib wird zum Mittelpunkt des Denkens über die koloniale Situation, zwangsläufig, denn der Kolonisierte leidet unter ihm, weil er die einzige Rechtfertigung für die Unterdrückung ist. Die braune und schwarze Haut ist Materialisation des unsichtbaren Bösen. Die Unterdrückung verwandelt das in die ungefährliche Dummheit, durch die sich dann die Unterdrückung wieder selbst rechtfertigt. Die Gewalt, die in der radikalen Festschreibung der Minderwertigkeit als Charakter liegt, gilt es umzukehren. Fanon entwickelt den Engelschen Gedanken, dass die Gewalt Geburtshelferin der Geschichte ist, weiter. Im revolutionären Prozess begleitet sie auch die Geburt des neuen Menschen, weil sie dem Krüppelprodukt „Kolonisierter“ erlaubt, seine Minderwertigkeit durch Hass nach außen zu kehren und in der Tötung seines Kolonialherrn die Gründe für sein doppeltes Siechtum abzuschaffen. Tötung eines Kolonialherrn hieß: Tötung eines Franzosen. Es ist Krieg und diese Sätze eines algerischen

Widerständlers müssen gelesen werden auf dem Hintergrund der ohnmächtigen Furcht- und Demutshaltungen, mit denen immer wieder Kolonisierte vor ihren Kolonialherren standen. Bestenfalls – und sicher nicht in Algerien -­ sah es ja so aus: „Der Weiße sagt zum Neger: Nun bekommst Du Deine Freiheit. Aber der Neger kennt den Preis der Freiheit nicht, denn er hat nicht für sie gekämpft. Ein anderes Leben überfällt ihn von außen, d.h. die wahre Herrschaft ist ungebrochen, sie ist nur eine Metamorphose eingegangen.“ Freiheit als Geschenk knechtet erneut, denn die Gabe stellt den Menschen wieder in die Irrationalität des Schicksals.

Wie kann Freiheit existieren, wenn nicht die versteinerten Reste der alten Gesellschaft aus dem Individuum expurgiert werden? Hier traf Psychologie auf Zeremonie, Geschichte auf Mythos. Und das ist es, was die streunende Begeisterung des deutschen Mädchens festhält, denn U. hat kein Interesse daran, irgendetwas als historisch oder soziologisch zu begreifen,

Die dramatischen Stellen in „Die Verdammten dieser Erde“ zeigen ihr, dass die radikale Verwandlung des alten Menschen in den neuen die erlittene Gewalt nach außen kehren muss, um zu einer Identität zu finden. Ein Akt der Purifikation, säkular, nicht religiös gemeint, aber die Inbrunst, mit der hier eine Explosion erwünscht wird, überführt religiöse und erotische Energien ins Politische. In allen Religionen dient die Askese (und das ist auch eine erzwungene gesellschaftliche) der Vorbereitung auf die Ekstase.

U. las Fanon wie sie vorher Benn gelesen hatte: rauschhaft, gierig diesen Überfluss an empathischer Analyse verschlingend. Sie ist ein Kriegskind, das immer mit der Knappheit hantiert hat: Knappheit an Gütern, Werten, Glück, Beziehungen. Ihre Gier verlangt nach verzehrenden Wahrheiten, deren Asso­ziationsmasse nicht Ökonomie, Weltpolitik, Marktinteressenslage sind, sondern: Feuer, Wasser, Erde, Glut, Flut, Wind, Sand und Sterne. Von solchen Höfen war der von Fanon beschriebene Tötungsakt umgeben, nicht von Gewehrkugel, Dreck, Schweiß, Koma. Es ging nicht ums Sterben, es ging um Initiation.

Das Betörende dieses Prozesses hat viel damit zu tun, dass mit dem Aufstand der Kolonialvölker plötzlich „Natur“ in die Weltgeschichte zu kommen schien. Die Eschatologie der Dritten Welt lag darin, dass sie, unterdrückt und ausgebeutet, den Entleerungsprozess der wissenschaftlich-technischen Zivi­lisation nicht mitgemacht hatte. Abstrakt-revolutionäre Prozesse in der Logik der Neuzeit verbinden sich hier mit Riten einer Gesellschaft vor der Modernität, Analyse und Ritual sind nicht durch weltgeschichtliche Prozesse getrennt. Das bürgerliche, weibliche Subjekt, selbst unterdrückt und gerade dadurch von der Deformation der Abstraktheit verschont, findet hier die doppelte Nahrung für Verstand und Gefühl, die es für seine Mensch­werdung braucht. Was hier gewonnen werden wollte, ist nicht nur die Staats­bürgerschaft in der Geschichte, sondern auch die Existenzweise in der Natur. Das Gewaltsame dieses Prozesses der Befreiung von der Gewalt ist gewollt. Weder das Dialektische, noch das Kritische, noch das Spielerische konnten das schaffen. Der Witz als List, eingesetzt von Subjekten, die lediglich als Staatsbürger unterdrückt, nie aber als Menschen verhindert worden waren, hätte das vorausgesetzt, was sie doch erst gewinnen wollte. U. war dräuend humorlos. Das Spielerische verflüssigt die Zustände, das Pathos verbrennt sie, Die Suche nach ihm zeigt: für die in ihrem Lebens­nerv getroffenen Frauen konnte nur der Prozess, in dem Materie zu reiner Energie wurde, Geburtsakt sein. Die Ohren zustopfen, wenn man zufällig hört: „Die Begeisterung ist die Waffe der Ohnmächtigen. Derjenigen, die das Eisen ins Feuer legen, um es augenblicklich zu schmieden. Wir möchten das Skelett des Menschen zum Glühen bringen. Vielleicht würden wir zu folgendem Resultat kommen: der Mensch unterhält dieses Feuer durch Selbstverbrennung.“ Mit dem letzten wäre sie allerdings wieder einverstanden gewesen.

Das weibliche bürgerliche Subjekt, das sich der Dritten Welt in die Arme schmeißt, um seine eigene Identität zu finden, sucht aber vergebens nach einem Kolonialherrn, den es töten könnte, seine Mitkämpferinnen für das gemeinsame Ziel, die revolutionäre Situation, auf die es sich ohne identi­fikatorischen Umweg beziehen könnte. Im Dienst an fremden Zielen wird der revolutionäre Prozess, für den es Koffer transportiert, nicht zur eigenen gesellschaftlichen Initiation. Die Unternehmung endet, wenn nicht in un­begriffener Resignation, dann als individualistische. Die psychologischen Feuerspuren der Fanonschen Beschreibungen verwandelten sich im subversiven Alltag in strikte Disziplin, Unauffälligkeit, Funktionieren, in das Sich unsichtbar machen, dem Bild entsprechen, das die Welt von der Frau hat. Nicht umsonst waren viele Kofferträgerinnen Schauspielerinnen. Diesen Frauen sah man häufige Besuche von wechselnden Herren nach. U. wusste nicht, was in dem Koffer war, den sie zwischen Paris und Düsseldorf transpor­tierte. Ihre Situation in einer Gruppe von Arabern, die sich oft in einer Sprache unterhielten, die sie nicht verstand, war immer die einer Außen­seiterin. Sie konnte keinerlei Initiative ergreifen, weil sie kein Wissen von Zusammenhängen hatte, sie hing in allem völlig von den Direktiven ihres algerischen Freundes ab. Wäre U. sehr dialektisch geschult gewesen, sie hätte vielleicht eine raffinierte Genugtuung dabei empfunden, dass so die durch Leiden erworbenen Tugenden nachträglich nützlich, das heißt also gerechtfertigt waren. Auch eine Sinnfindung. U. ist nicht dialektisch geschult und sie versucht immer noch, alles, was sie tut, mit der Rechtfertigung der Verheißung zu umgeben. Aber sie fühlt dumpf, dass die Umgebung, in der sie sich bewegt, nicht Gesellschaft für sie ist, sondern Milieu. Auch die Materialität, die ständig präsent bleibt, weil dieser Prozess immer über Körper läuft, kann nicht zur Basis einer kollektiven Katharsis werden. In der Einsamkeit der Kofferträgerin wird kollektive Katharsis zum revolutionären Exorzismus. Diese pathetische Explosion hätte die Abwehr des Verdrängten durchbrochen, das Individuum hätte gelernt zu kommunizieren, nicht mit der Gesellschaft, aber mit sich selbst. Diese Explosion, hätte sie stattgefunden, wäre das Feuerwerk des Innen im Außen gewesen, narzisstische Genugtuung, die Trennung selbst aufzuheben, Körperschema und Welt selbst deckungsgleich zu machen und so endlich dem schwankenden Körperbild einen Halt zu geben. Der endgültige Knall als Bedingung dafür, dass ständig übertragen werden konnte, von innen nach außen, von außen nach innen. In diesem Akt des grandiosen Narzissmus wäre alle Distanz vernichtet und der endlose Raum geschaffen. Ein Körperraum. Denn: das Bewusstsein hat das Bedürfnis, sich in der Nacht das Absoluten zu verlieren, die einzige Voraussetzung, um zum Selbstbewusstsein zu gelangen. Der revolutionäre Exorzismus als Exorzismus des inneren Todes.

Die Unterwerfung der Körper

Träume, Tagträume und Phantasien legen alle in ihrer Form noch Zeugnis ab von den kulturellen Prozessen, denen die träumenden Menschen entgehen wollen. Das Reich der Phantasie ist nicht nirgendwo, sondern in dem Himmel, den die die Erde Verplanenden zu ihrer eigenen Entlastung eingerichtet haben. Und er trägt die Spuren der deformierten Realität, die er ausgleichen will.

Der Mechanismus der Identifikation setzt die Triebkraft des Imaginären frei. Der psychische Brocken „Frau“, ein Klumpen aus Widerstand gegen die von anderen imaginierte Weiblichkeit, braucht freigesetzte Identifikation, weil sich auf diesem Feld die Unterdrückung abspielt. Dieser Prozess geschah nicht nur individualistisch. Der Kolonialkrieg entfesselte im Großen einen Rausch des Imaginären. Die „Ereignisse“ (wie das französische Drama in Frank­reich gewöhnlich genannt wurde) waren nicht nur darum so lang und blutig, weil sich hier eine Siedlungskolonie gegen den Willen der Siedler vom Mutterland trennen wollte, sondern auch weil dieser Krieg durchsetzt, war mit der Geschichte von erotischen Phantasien. Exotik ist mit Erotik ver­bunden. Die Spekulationen, die sich zumindest seit dem 18. Jahrhundert um Harem und Serail ranken, raffinierte Erotik durchsetzt mit Gewalt, sind Teil abendländischen Traummaterials. Wenn man die rassische Situation psychoanalytisch sehen will, muss man den sexuellen Phantasien große Bedeutung beimessen. Beim Juden denkt man ans Geld, beim Neger an den Sex, beim Araber an die Wollust, 1001 Nacht lang. Algerien war seit jeher in den Augen der Kolonialherren verbunden gewesen mit einem Geheimnis der Körper. Die Eroberung eines Landes ist erst dann vollkommen, wenn auch seine Frauen erobert sind. Das war den Franzosen in Algerien nie gelungen. Was auf Martinique kein Problem war, ebenso wenig wie in Schwarzafrika, Frantz Fanon hat es schon früh beschrieben, scheiterte in Algerien, denn die verschleierte, auf den Innenraum des Hauses verwiesene algerische Frau entzog sich den erobernden französischen Blicken: der Islam behielt seine Beute. Fanon hat gezeigt, wie im Traummaterial der Kolonisatoren die Hilflosigkeit des Mannes, dessen Blick an den unförmigen Drapierungen eines weiblichen Objektes, das ihm nicht gehört, abrutscht, der nicht sehen kann, aber sehen muss, dass er gesehen wird und sei es auch nur mit dem einen Auge, das der Haik freilässt, zu sadistischen Aggressionen führt: der Vergewaltigung oder Defloration geht immer das Zerreißen des Schleiers voraus. Man darf das nicht nur sehen als den unentbehrlichen ersten Schritt einer dann folgenden Serie von Gewalttaten. Der Schleier ist Haut, gesellschaftliche Haut. Das Zerreißen der Haut öffnet den Weg ins versperrte Innen, das damit gleichzeitig zerstört wird. Keine Metapher, denn die be­vorzugte Foltermethode für Frauen war, ihnen eine Flasche in die Vagina zu stoßen. Nach der Zerstörung des gesellschaftlichen Körpers die Zerstörung des biologischen. Es war die Strafe dafür, dass der Mechanismus der Selbstbehauptung des Kolonialherren ins Wanken geraten war, weil die Frau nicht mit zurückgehaltenem Blick und dargebotenem Fleisch sich unter das männliche Herrscherauge duckte. Der Europäer, gewöhnt an die Dialektik der Zivilisation, nach der die Mechanismen der Selbstkontrolle um so raffinierter werden, je mehr die Körper offengelegt sind, was ja der Vor- und Augenlust einen zentralen Platz einräumt, sieht sich hier konfrontiert mit einer direkten kulturellen Aussage, die ganz undialektisch verhüllt, was nicht betastet werden soll, noch nicht einmal mit den Augen. Es ist wie eine Infantilisierung.

Das Verbotene lässt deshalb sofort einen Überschuss an Imaginärem frei. Wer weiß, welche ausufernden Lüste und Orgien dieser Schleier nur notdürftig verbirgt, denn allein seine Tatsache beweist, dass etwas verhüllt werden muss! Diese erotischen Phantasmen entsprachen nicht im Geringsten der Situation der algerischen Frau, die von Kindheit an behindert wird, seelisch, geistig und körperlich. Trotzdem sieht diese phantasierende Optik den Schleier richtiger als manche heutigen Aussagen, die in ihm nur die Verhinderung sehen. Verhüllungen haben sehr wohl eine doppelte Funktion, im Zeitalter des gesunden und unerotischen FKK ist das ja wohl klar. Und: eine Verhüllung ist mit einem Griff zu ent­fernen, der Aufruhr unter ihr zeigt sich ungebrochen, die ins Fleisch gewach­sene Selbstdomestikation ist viel verlässlicher und stabiler, wenn es darum geht, Unterdrückung dauerhaft zu machen. Dass Algerierinnen im Schutze ihrer Schleier Waffen transportiert haben, ist nur die faktische Untermauerung für die Ambivalenz des französischen Gefühls, das sich in Algerien auf unsicherem Boden wähnte, weil das männliche Selbstgefühl ambivalent geworden war.

Dieses koloniale Trauma war schon früh spürbar geworden, hatte schon seit der Jahrhundertwende die Eroberungsphantasien der Franzosen beschäftigt. Kartengrüße, die Militärs schickten, wurden oft auf photographierten Motiven geschrieben, die „Femme de Ouled-Nail“ oder „Jeune Mauresque“ oder „Algéroise dans sons Intérieur“ hießen, pornographische Karten, auf denen Frauen mit entblößten Brüsten Krüge über dem Kopf stemmten, vor einem an die Wand drapierten Teppich Kaffee tranken, oder hinter den Gittern ihrer Fenster standen. Keiner der Fotografen, die dünnen Stoff von Brustansätzen wegschoben, hatte je einen Blick in die maurischen Frauengemächer geworfen. Die Modelle waren Prostituierte, deren Gesichter als immer gleiche durch alle berberischen, maurischen oder sahara­nischen Verkleidungen hindurchschimmern. Die lustvolle Fraternisierung, die wie auf Martinique zu immer neuen Mulatten geführt hatte (einer rühmte sich, auf diese Weise 5o Söhne gezeugt zu haben) gelang in Algerien nicht.

Deshalb spielt die Frau als Angriffsobjekt in diesem Krieg eine solche Rolle. Die vielen Vergewaltigungen sind nicht einfach damit zu erklären, dass die Mora1 der Armeen in der Neuzeit eben so beklagenswert niedrig ist, oder dass Frauen einen so großen Anteil an diesem Krieg gehabt hätten. Sie sind nachgeholte Eroberungssituationen, demütigende Inbesitznahme, mit der gleichzeitig Mann und Frau getroffen wurden, denn jeder Franzose wusste, dass die Ehre eines Moslems in der Unberührtheit seiner Tochter oder Schwester lag. Den Frauen blieb nach einer Vergewaltigung oft nur der Ausweg des Selbstmords, weil sie in vielen Fällen sofort verstoßen wurden.

Spätestens seit 1960 taucht aber ein gravierendes Problem auf. Als ein Teil des Reseau Jeanson aufflog, wurde offensichtlich, dass ein großer Teil unter den Kofferträgern französische Frauen waren. Paris-Intransigeant druckte skandalisiert auf der Titelseite die Fotos von 7 Frauen mit der Schlagzeile: „Voici les Parisiennes du F.L.N“. In den Texten wird nach Liebesbeziehungen zwischen den Französinnen und arabischen Führern gefahndet und unter dem Foto einer Frau, die noch am ehesten dem damals kursierenden Klischee einer Lesbe entspricht, steht, dass zu ihrer Veranstaltung nur Frauen zugelassen waren und nicht immer nur über Politik gesprochen wurde. Der Bodensatz des Krieges wird sichtbar. Beunruhigt verlangt der französische Mann eine Erklärung, denn es ist ja unvorstellbar, dass diese Frauen den Kampf führen könnten als Beitrag gegen die schleichende faschistische Verseuchung Frankreichs. Natürlich ist es „die perfide Herzenstaktik“ der F.L.N.: „Alge­rische Verführer, schöne Männer, geübt in Schmeicheleien, mit ausreichend Geld versehen, haben bei einer Anzahl von bedauernswerten Opfern schon viel Unglück angerichtet. Diese Frauen, oft von der Natur vernachlässigte Geschöpfe, finden ein kurzes Glück an der Seite von Männern, die über die Vorspiegelung von Liebe diskret ihre politischen Ziele durchsetzen.“

Hinter dem Versuch der Demütigung wird die Unruhe sichtbar, nicht mehr Herr im Haus zu sein, vielleicht findet der französische Mann die 5. Kolonne ja auch schon zu Hause im eigenen Bett! Es geht wieder um den Kampf von Mann gegen Mann. Da aber der Exote mit halluzinierter sexueller Potenz umgeben wird, fürchtet der Franzose, auf diesem Feld den Kürzeren zu ziehen.

Und die Algerier werden um so mehr geknüppelt und gefoltert, je mehr man sie dafür bestrafen muss, dass sie sich nicht nur verweigert haben, sondern jetzt auch noch das französische Blut verseuchen. Für die „Französinnen der F.L.N“ aber wäre die Strafe, wenn aus irgendeinem Grund Frankreich den Krieg gewonnen hätte, wohl dieselbe gewesen wie für die Kollaborateurinnen 1944: das Kahlscheren der Köpfe, die Zerstörung des gesellschaftlichen weiblichen Körpers in europäischen Breitengraden. Vorläufig begnügt man sich damit, der politischen Entscheidung den gesellschaftlichen Protest abzusprechen und sie zu reduzieren auf eine erotische Notsituation. Wenn Frauen schon die Frechheit haben, etwas Unbegreifliches zu tun, dann muss man sie für willenlos erklären, „hörig“, was ja ebenso gut funktioniert wie das Gegenteil, die Behauptung, dass die Frauen, die sich ihre Rechte nehmen, es „nötig haben“, weil kein vom Mann verschaffter Orgasmus sie erlöst. So war der moralische Körper Frankreichs wieder hergestellt. Und nebenbei konnte man sich den Genuss leisten, sich jede Menge Sauereien vorzustellen, die die französischen Frauen ( natürlich „die anderen“, nicht die „richtigen“) mit den algerischen Männern trieben. Das Wort „Arabermatratze“ wurde ausgesprochen mit demselben geilen Abscheu, mit dem zur gleichen Zeit die Polizei zu Hause, jenseits des Rheins die an den Straßenrändern parkenden Autos umstellte und Liebespaare ausleuchtete, um in Erfüllung ihrer Dienstpflicht festzustellen, ob die Frau nicht in die HWG-Kartei (für alle nach 1968 Geborenen: das heißt: häufig wechselnder Geschlechtsverkehr) aufgenommen werden müsste.

Es ist aber klar, dass in der seriösen Presse nur von Erdöl und imperialistischen Interessen die Rede ist.

U. fühlt sich wieder wie zu Hause. U. kapituliert.

Es ist ohnehin Anfang 62, der Waffenstillstand greifbar nahe. Spätestens jetzt, mit der realen Möglichkeit, in ein befreites Algerien zu gehen, brechen in vielen Liebesgeschichten die Differenzen auf, die auf politischer Ebene schon lange schwelen. Der Islam, unentbehrlich in den Jahren des Krieges als Mobilisationsfaktor auch der bäuerlichen Bevölkerung, fordert sein Recht. Das „Fremde“, das „Andere“, was die algerischen Männer in Paris leben konnten, konnten oder wollten sie zu Hause nicht mehr. Der Ausnahmezustand war vorüber und damit begann eine Normalität, die wieder ontologisch etwas darüber aussagte, was eine Frau sei, selbst wenn die Normen sich leicht geändert hatten. Politik wurde wieder zur Entscheidung einer Regierung. Es gab Frauen, die mitgegangen sind mit ihren algerischen Freunden, um diesem zerstörten Land beim Aufbau zu helfen. Es gibt Ehen, die trotz der schwierigen Umstände heute noch halten. Wenn Fanon 1959, als er den Schleier als eine taktische Waffe erklärte, anzunehmen oder abzulegen je nach den Umständen, die der Krieg erforderte, heute auf den algerischen Straßen wandern würde, hätte er wohl Schwierigkeiten, etwas zu begreifen.

Für U. war die Einlösung des Kampfes eine Katastrophe, aber die Maßlosigkeit ihrer Begierde hatte natürlich auf reale Enttäuschung hingearbeitet. Sie packte ihre Koffer. Mit schwerem Gepäck fuhr sie nach Hause.

In: Ästhetik und Kommunikation 57/58
In: Ästhetik und Kommunikation 57/58

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