Hitlerkantate
Eine Geschichte von Verführung und Verrat
Die Regisseurin Jutta Brückner im Gespräch mit Michael André über die Motive und Handlungen der Protagonisten in „Hitlerkantate“, ihren Inszenierungsstil und die geheimen Mechanismen der NS-Herrschaft.
MA: Ihr Film beginnt mit einem gewaltigen Auftakt von dokumentarischen Bildern, in denen Menschen, vor allem Frauen, Hitler zujubeln. Erst langsam entdeckt man dann in diesen Bildern die Protagonistin des Films, Ursula Scheuner. Die Schauspielerin ist in die Dokumentaraufnahmen einmontiert. Das war für das Entstehungsjahr des Films ungewöhnlich. Das Dritte Reich war in den meisten Filmen eher eine historische Kulisse aus Kostümen und wehenden Fahnen, vor denen sich dann ein persönliches Drama abspielte.
JB: Ich wollte nicht nur eine individuelle Geschichte erzählen. Ursula ist eine von vielen Frauen, die fanatisch und blind auf Hitler fixiert waren. Wir wissen sehr viel über das Dritte Reich, aber ganz wenig über die emotionalen Abgründe dieser Frauen, zu denen auch Ursula gehört. Mich hat interessiert, was Hitler in der Phantasie dieser jubelnden Frauen war: ein Geliebter, ein Vater, ein Gott? Warum diese öffentliche Hingabe? Schon den Zeitgenossen war Hitlers Massenwirksamkeit bei Frauen ein Rätsel. Amerikanische Zeitungen haben sich ratlos gefragt, was denn so sexy sei an „pretty Adolf“.
MA: In der Riege der alt aussehenden, würdevoll bärtigen Staatsmänner war er eine jugendliche und ‚schneidige‚ Gestalt.
JB: Dass im Nationalsozialismus ein Geheimnis lag, das um die Pole von Politik, Gewalt und Sex kreiste, war früh spürbar. Schon die englischen Soldaten sangen in einem Spottlied, dass Hitler nur einen Hoden habe. Albert Speer sprach in der Kriegsgefangenschaft von der „Hörigkeit“ der Frauen. Das bereitete dem Übersetzer Schwierigkeiten, weil es im Englischen dafür nur den Begriff „bondage“ gibt,
MA: Den Ausdruck braucht man heute für die sadomasochistischen Sexpraktiken, die den Großteil der Nazi-Exploitationfilme ausmachen. Aber wird hier das ‚Dritte Reich‘ nicht benutzt? Ist das nicht eine nachträgliche Phantasie?
JB: Nicht nur. Ein amerikanischer Offizier fand in der Reichskanzlei bündelweise Liebesbriefe, die Frauen an den Reichskanzler Hitler geschrieben haben. Frauen, die Kinder von ihm haben wollen; die abends nicht das Gartentor abschließen, damit er sie noch besuchen kommen kann. Sie schicken ihm Heiratsanträge, die er nur noch unterschreiben muss, und einige schreiben ihm, als sei er ihr Ehemann, der sich mal kurzfristig entfernt habe. Die Partei hat einige der Briefschreiberinnen in psychiatrische Anstalten einweisen lassen.
MA: Aber die Herstellung dieser Begeisterung gehörte doch zu Hitlers Kalkül!
JB: Ja. Er hat gesagt: „Hass und Hysterie lenken die Geschicke der Menschheit.“ Aber er wollte diese psychischen Energien auch sofort wieder einfrieren in den choreografierten Massenveranstaltungen, sie sollten für den Fanatismus dienstbar gemacht werden. Deshalb sagt im Film der Abgesandte der Reichsfilmkammer, als er die ohnmächtige Ursula sieht: „Die Ohnmächtige muss weg. Das deutsche Volk ist nicht von Sinnen.“ Niemand sollte auf die Idee kommen, die Begeisterung für Hitler sei Wirklichkeitsverlust.
MA: Man spricht ja von den Deutschen als der ewig pubertären, weil historisch verspäteten Nation…
JB: Der Nationalsozialismus war auch eine antibürgerliche Jugendrevolte. Gerade für die Mädchen war er ein Versprechen auf ein Leben, das nicht in den traditionellen Bahnen von Ehe und Familie ablief. Damit hat Hitler an die Emanzipationsvorstellungen angedockt, die sich seit Beginn des Jahrhunderts entwickelt hatten. Junge Mädchen gingen auch deshalb gern zum BDM, weil sie so der elterlichen Überwachung entgingen. Die Reichsparteitage waren auch große erotische Märkte, die Geburtenraten stiegen danach deutlich an. Vater und Mutter wurden entmachtet durch den Übervater Hitler. Es sah aus wie Emanzipation…
MA: Dabei hat Hitler die Frauen doch in die klassischen Rollen an Heim und Herd zurück verwiesen!
JB: Aber das war nicht das alte, bürgerliche Heim. Die Familien der ‚Herrenrasse‘ sollten die Keimzelle eines neuen imperialen Deutschland sein und vollkommen auf Hitler ausgerichtet. Er hat gesagt: „Wer die Frauen gewinnen will, muss ihnen ein Liebesobjekt bieten.“ In der Liebe zu ihm konnten die Frauen revolutionäres und gehorsames Verhalten, Hingabe gegenüber Mann und Kindern und Fanatismus mit latenter Zerstörungsbereitschaft gegenüber allen ‚Feinden‚ verbinden. Dafür wurden sie dann als Mütter mit öffentlicher Aufmerksamkeit belohnt. Er bediente ihre Größenphantasien und präsentierte ihnen Politik als hysterische Liebesgeschichte mit der Macht…
MA: …als erster medialer Politstar.
JB: Und jeder Star ist eine Projektionsfläche für Begehren, auch für sexuelles Begehren. Deshalb blieb er unverheiratet. So konnte sich jede an seine Seite phantasieren, wie es die Briefschreiberinnen getan hatten. Auch Ursula hat ihm einen Brief geschrieben, in dem sie ihm sagt, dass sie auf ewig seine Braut und ihre Liebe zum ihm das Schönste und Kostbarste in ihrem Leben sei. Bei ihr ist es die Kombination von Reinheit, heroischem Heil und Hingabe. Das ist der sublimierte Eros.
MA: Nähern Sie sich damit nicht der verbreiteten Auffassung, Faschismus sei das Ergebnis von unterdrückter Sexualität?
JB: Wir wissen inzwischen, dass diese Auffassung nicht stimmt. Der Nationalsozialismus hat die Lust propagiert. Er hat ständig betont, Sexualität sei eine natürliche und gesunde und saubere Angelegenheit, natürlich nur für die ‚arischen Volksgenossen‚. Ziel war die Produktion von Kindern, Sexualität als Tat. Verpönt war, was Hitler die ‚schwüle Erotik‚ genannt hat. Man könnte auch sagen: die Phantasie, das Begehren, alles, was den Geist beschäftigt, die Verführung. Denn das wurde politisch funktionalisiert und von ihm bedient.
MA: Ist das nicht nah an der alten These, das deutsche Volk sei verführt worden und damit schuldunfähig?
JB: Aber die Verführung muss man wollen! Niemand wird verführt, der es nicht will. Die Verführung, das Verführt-Werden, war den Frauen aus ihrer Geschichte vertraut.
MA: Ich wage eine Behauptung: Agierten die vor Begeisterung in Ohnmacht fallenden Frauen den Wahnsinn aus, der den Kern des ‚Dritten Reichs‘ ausmachte?
JB: Zu einem Teil ja. Aber es gab auch Wahnsinn, bei dem niemand in Ohnmacht fiel, sondern der dazu führte, dass Menschen bürokratisch und besinnungslos selektiert und vernichtet wurden.
MA: Aber auch das ‚Dritte Reich‚ bestand nicht nur aus Wirklichkeitsverlust. Ursula reagiert zwar hysterisch, wenn sie vor Hitlers Blick in Ohnmacht fällt, sie ist aber auch sehr zielstrebig, pragmatisch und verteidigt ihre eigenen Interessen mit allen Mitteln. Wie lässt sich das miteinander vereinbaren?
JB: Die hysterische Symbiose mit der Macht funktioniert nur im Moment des Wirklichkeitsverlustes. Dann ist es vorbei. Am nächsten Tag muss Ursula erfahren, dass ihre Bewerbung für die Kompositionsklasse noch nicht einmal geöffnet wurde. Denn für Broch, wie für alle anderen Musiker, verstand es sich von selbst, dass Frauen Sängerinnen sein können, allenfalls Pianistinnen, aber keine Komponistinnen. Die Wirklichkeit ist für Ursula, wie für fast alle Frauen damals, voller Einschränkungen und Kränkungen. Und jetzt tut Ursula das, was Frauen Jahrhunderte getan haben, wenn ihnen etwas verwehrt wurde: sie beginnt eine Intrige. Über ihren Verlobten Gottlieb, der bei der Reichsmusikkammer arbeitet, versucht sie, zur Assistentin von Broch zu werden.
MA: Auch Broch lässt sich ja verführen, obwohl ihm klar ist, dass seine ‚Assistentin‚ ein Spitzel ist.
JB: Er ist verführt durch sein eigenes Verlangen, endlich wieder gespielt zu werden, seine Musik zu hören im „Olympiastadion mit allen Berliner Orchestern und allen Berliner Chören.“ Er rechtfertigt das später mit dem Satz: „Künstler können nicht im Verborgenen leben.“ Broch glaubt, dass er den Nationalsozialismus für seine Zwecke benutzen kann. Wenn das nicht mehr geht, beginnt er, sich seinen Verrat schön zu denken und sagt, Almas jüdisches Lied in der Kantate, die er Hitler widmet, sei schon so etwas wie Widerstand! Man braucht Intelligenz, um sich die Barbarei schmackhaft zu machen.
MA: So haben es ja viele deutsche Künstler nach dem Krieg gemacht, als sie gefragt wurden, warum sie nicht exiliert sind oder sich wenigstens rarer mit ihren Auftritten gemacht haben. Aber der Film erzählt ja eine Dreiecksgeschichte. Und für Gottlieb, Ursulas Verlobtem, sieht die Verführung wieder anders aus. Wir sehen ihm in den Toiletten ein paar Sekunden lang voyeuristisch zu, wie er den konfiszierten Pornofilm aus der Rolle reißt und über den Akt-Bildern Giselas masturbiert.
JB: Sie verkörpert für ihn das Bild von der „schönen Jüdin“, von diesem Ausdruck hat Sartre gesagt, er rieche nach Vergewaltigung. Nur in seiner Phantasie kann er sich so gehen lassen. Wenn er später diesen Film vernichtet, vernichtet er damit auch den ‚inneren Juden‚ in sich, wie die SS das genannt hat, Der ‚innere Jude‘ war alles, was den Menschen daran hinderte, eine funktionierende Marionette im Sinne des Nationalsozialismus zu werden.
MA: Damit behauptet „Hitlerkantate“ aber einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen politischer Gewaltherrschaft und sexueller Perversion….
JB: Perversion muss man verstehen als eine Verkehrung der moralischen Maßstäbe und in diesem Sinn war der Nationalsozialismus eine Perversion. Der Staat schuf die Voraussetzung, dass sich das auch sadistisch äußern konnte, aber das waren Einzelfälle. Die grundsätzliche Perversion lag im System. Aber dazu mussten erst einmal die Bilder vom sexualisierten und deshalb verachtenswerten Juden und die der slawischen Untermenschen geschaffen werden. Hitler hat den Juden eine schmutzige Triebhaftigkeit unterstellt, um den ‚arischen Volkskörper‚ rein zu halten. Deshalb spaltet Gottlieb seine Verlobte auf in den ‚sauberen Teil‘ der künftigen rassereinen SS-Frau, mit der er dann Kinder haben will und die ‚triebhafte‘ Jüdin, die er in Gisela hineinphantasiert.
MA: Mit der Herstellung des Pornofilms beziehen Sie sich ja auf die pornografischen ‚Sachsenwaldfilme‚, die gezielt für die Berieselung der ‚minderwertigen‚ Bevölkerung im Osten gemacht sein sollten. Und Gottlieb, der diese Filme produzieren soll, ist der SS-Mann mit den untadeligen Manieren eines idealen Schwiegersohns! Ist das die Banalität des Bösen?
JB: Es ist das Nebeneinander von Biederkeit und Verbrechen. Das ist schwer zu ertragen und einer der Gründe, warum der Nationalsozialismus uns auch heute noch nicht loslässt. Denn dieses Nebeneinander birgt die Gefahr in sich, dass jeder anfällig ist. De Gaulle hat über den SS-Mann gesagt, er sei der „Ritter der blauen Blume, der Bier kotzt“.
MA: Für mich erzählt Ihr Film aber nicht nur von Verführung, sondern auch von Verrat. Eigentlich verrät in diesem Film jeder jeden. Broch verrät seine Lebensgefährtin Alma mit Ursula, aber er verrät auch Ursula! Ursula verrät Gottlieb mit Broch und wollte auch Broch verraten mit dem Brief über seine ‚Rassenschande‚! Gottlieb verrät Ursula in seiner Phantasie mit der Jüdin Gisela und dann auch Gisela, als er sie verhaften will. Es ist eine komplexe Dreiecksgeschichte von Verrätern. Lauter gebrochene Charaktere! Nur die Nebenfiguren sind Helden.
JB: Der Nationalsozialismus hat auf perverse Weise die Werte verkehrt, aber dann eine klare Trennung von gut und böse behauptet. Darin verheddern sich die drei Protagonisten.
MA: Der Plot des Films funktioniert nur, weil es eine große physische Ähnlichkeit zwischen Ursula und Gisela, der arischen und der jüdischen Deutschen gibt. Sie spielen hier mit dem Doppelgängermotiv der deutschen Romantik. Ich habe überhaupt den Eindruck, dass es ein ‚romantischer‘ Film ist, im strengen Sinn des Wortes.
JB: Ja. Der Doppelgänger erschüttert meine Identität, aber er ist auch eine Figur der Sehnsucht, eine Projektion. Wenn Ursula in Finnland den Brief mit den Fotos der Verlobung bekommt, ist darin auch ein Foto von Gisela als Leda mit dem Schwan…
MA: …solche mythologischen Fotos wurden damals oft gemacht, sie waren verschleierte Nacktfotos.
JB: Sie betrachtet sich mit diesem Foto im Spiegel und dann sehen wir Gisela, die für einen Auftritt ein erotisches Lied übt. Gisela ist auch Ursulas Phantasie, so wie sie Gottliebs Phantasie ist. Die Geschichte der beiden Frauen ist voll von untergründigen Spiegelungen, – deutsche Identität, jüdische Identität, Vatersehnsucht, Vaterverleugnung.
MA: Und es gibt noch einen anderen romantischen Bezug: Wenn Broch mit Ursula schläft, erinnert er sich auch sofort, dass Ursulas Vater ihm damals seine Jugendliebe weggenommen hatte und ihm dafür versprach, ihm seine erste Symphonie zu widmen! In diesem Moment klingt das wie ein Akt der späten Rache. Aber es ist auch der Tausch der Frauenkörper gegen die Kunst, ein sehr altes romantisches Motiv.
JB: Viel von dem, was in der Romantik aufgebrochen war, war als abgesunkenes Kulturgut in Deutschland lebendig. Hier konnte Hitler gut andocken, gerade auch an eine Religiosität, in deren Zentrum nicht mehr Gott, sondern die Liebe stand. Das war ein sehr deutsches Phänomen.
MA: Broch sagt ja zu Ursula: „Du liebst den Teufel und hältst ihn für den lieben Gott.“
JB: Es fällt uns heute schwer, zu verstehen, was es bedeutet, sein Leben einer höheren Sache zu weihen. Ursula hat sich Hitler gegenüber definiert wie die Nonnen, die ja auch Bräute Christi sind und damit inhaltsleeres und willenloses Instrument dieser einzigen phallischen, alles penetrierenden Macht, wie Freud gesagt hat.
MA: Aber auch dann ist sie erstaunlich pragmatisch. Sie gibt der Jüdin Gisela ihren Pass, um ihr damit zur Flucht zu verhelfen. Damit versucht sie ja, sich von ihrer Schuld frei zu waschen.
JB: Aber sie will auch Selbstmord begehen. Sie zieht aus ihrem Scheitern die Konsequenz, so wie es viele gegen Ende des ‚Dritten Reichs‘ getan haben. Wenn man von einem Phantasma Abschied nimmt, mit dem man sich so ganz angefüllt hat, bleibt nur eine leere Hülle zurück. Doch wenn sie Gisela den Pass gibt, sagt sie: „Viel Glück, Ursula Scheuner“. Und damit wünscht sie sich selbst Glück in ihrer neuen Verkörperung als Jüdin. Ursula will mit diesem Akt ihre eigene Identität loswerden und mit einer moralisch nicht belasteten weiterleben.
MA: Hat man Ihnen nicht vorgeworfen, dass die Täterin sich hier in ein Opfer verwandelt?
JB: Ja, für die Binnenerzählung stimmt das auch. Aber dann gibt es den zweiten Schluss, wenn Broch zu ihr kommt, um sie dazu zu bewegen, mit ihm an der Oper über ‚das große Gefühl‚ zu arbeiten. Und es wird klar, dass sie nicht nur im Gegensatz zu ihm etwas begriffen hat über das ‚Dritte Reich‘ und dessen Gefühlsmanipulation. Sie reflektiert auch ihre eigene heroisch-pathetische Geste: „Ich wollte den Schlussakkord, das strahlende Opfer“, so als ob man in das ‚Dritte Reich‘ wie in eine Oper herein- und wieder herausspazieren könnte. Inzwischen weiß sie, dass das nicht geht. Noch nicht einmal in ihren Träumen kann sie Hitler erschießen, immer wieder fällt sie hin.
MA: Sie arbeiten auf der visuellen Ebene viel mit gekonterten Bildern und Achssprüngen, um die untergründige Spiegelbildlichkeit zwischen den Figuren deutlich zu machen. Im Sinne einer klassischen Ästhetik des erzählenden Kinos begeht der Film lauter Todsünden.
JB: Ich wollte kein identifikatorisches Gefühlskino, aus dem man auf wohlige Weise traurig herauskommt. Ich glaube, man kann eine historische Geschichte, die im ‚Dritten Reich‘ spielt, nicht naiv erzählen. Eine Erzählung, die nur feststellt „So ist es gewesen“ mit einem Figurenarsenal von guten und bösen Nazis stellt sich dümmer, als wir sind.
MA: Und jetzt sind wir bei dem, wovon ‚Hitlerkantate‘ den Namen hat: der Musik. Diese Kantate, die zu Hitlers 50. Geburtstag komponiert werden soll, hört man nie.
JB: Doch. Es ist schon die Musik vom Anfang, wenn die Massen herbeiströmen. Sie setzt den Prozess in Gang, in dem ein lebendiges Volk in die Armee von Toten verwandelt wird, an denen Hitler am Schluss vorbeifährt. Jetzt hört man nichts mehr. Jetzt kann die Vernichtung beginnen.
MA: Ich habe gedacht, die heimliche Kantate ist Schuberts „Winterreise“ und schon wieder sind wir in der Romantik. Aber ich habe mich gefragt, was sie denn mit dem Dritten Reich zu tun hat.
JB: Sie ist eine musikalische Metapher. Einmal für das junge Mädchen Ursula, die das, was sie für ‚Heimat‘ hielt, verlassen muss. Aber auch für die historische Ebene. Am Schluss, in der Verhaftungsszene, hören wir im Text die Hybris, die in der Romantik begann und an der das Dritte Reich teilhat: „Will kein Gott auf Erden sein, sind wir selber Götter.“ Das wurde schon einige Zeit vor Nietzsches Satz ‚Gott ist tot‚ gesungen. Die Todespolitik der Nazis hat damit rechnen können.
MA: Die Musik interpretiert die Geschichte?
JB: Ja. Ich wollte keine unterschwelllige, emotionale Begleitmusik, die unterstreicht, was die Helden sagen, sondern eine, die ausdrückt, was sie nicht über ihre Gefühle wissen. Die Musik ist klüger als die Helden. Sie schafft eine zusätzliche Ebene.
MA: Sie haben dazu in Peter Gotthardt einen kongenialen Komponisten gefunden.
JB: Ja, absolut. Er hat assoziative Klangwelten geschaffen eines Richard Strauss, eines Hindemith, Bartok, Eisler, Ravel, Weill, Strawinsky. Aber es gibt – bis auf Richard Wagner – kein einziges Zitat. Zum Schluss gibt es eine 12-Ton-Reihe, wenn sich Ursula und Broch, wie geschlagene Krieger, am Klavier wiederfinden. Während draußen auf der Straße zu Hitlers 50. Geburtstag noch Politik nach dem Wagner-Sound gemacht wird, haben sie das Erlebnis des Scheiterns schon hinter sich, das die anderen Deutschen noch vor sich haben.
MA: Eine letzte Frage: wo wurde der Film gedreht?
JB: Alles in und um Berlin, auch die finnische Landschaft. Berlin ist ja umgeben von Seen und Wäldern. Es ist ein Autorenfilm mit geringem Budget. Und wir haben nicht auf Film gedreht, sondern mit Videomaterial. Da gibt es in der Tiefe des Bildes keine Unschärfen. Bei einem solchen Film geht es nicht um Bewegung, Unschärfe und Flüchtigkeit, mit denen man Authentizität und Gegenwärtigkeit herstellt. Bei dieser Geschichte und diesem Thema ging es mir um Tiefe. Und dazu braucht man Bilder, die man länger ansehen möchte.
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