weitere Texte zum autobiografischem Filmemachen

Tue Recht und scheue niemand

Über Wege zum Film und Unterschiede zwischen der BRD und der DDR

Gespräch zwischen Jutta Brückner und Erika Richter

ER: Du hast Philosophie, Geschichte und Politische Wissenschaften studiert, alles hoch theoretische Dinge. Was verschlug dich zum Film?

JB: Das war eine existentielle Entscheidung . Meine Jugend war eine einzige Krise, ich habe sie in abgemilderter Form in „Hungerjahre“ beschrieben habe. Und Film war das einzige Medium, mit dem ich das, was ich in der Jugend verloren hatte, wiedergewinnen konnte: den Körper.

ER: Das musst du genauer erklären.

JB: Die Frauen in diesem halben Land Bundesrepublik waren in den 50er Jahre stark auf das traditionelle Weiblichkeitsschema fixiert worden, und das hat vielen heranwachsenden jungen Mädchen unglaubliche Probleme gemacht. Denn gleichzeitig hatten wir Mütter, die zumindest im Krieg und zum Teil auch danach notgedrungen selbständig waren, aber sich dann, als das Land prosperierte, wieder in die Familien zurückzogen und ihre unerfüllten Emanzipationswünsche an uns weitergaben. Zugespitzt gesagt, erhielten wir den Befehl: „Erobere die Welt wie ein Mann, aber lebe ein Leben wie eine Frau.“ In der Psychologie nennt man so etwas einen double-bind. Und das wurde verstärkt von den Normen einer sehr restaurativen Gesellschaft. Bei mir hat dieser Widerspruch aus persönlichen Gründen eine extreme Ausprägung angenommen und hat dazu geführt, dass mir im buchstäblichen Sinne des Wortes die Sprache verloren gegangen ist. Irgendwann waren die Wörter einfach weg und ich konnte nicht mehr richtige Sätze bilden. In „Hungerjahre“ gibt es eine Szene, wo das Mädchen in den Laden geht und ihm das Wort für ‘Zucker’ nicht mehr einfällt. Solche Dinge sind mir ständig passiert. Heute würde man dies als extremen Zustand von Wirklichkeitsverlust erkennen und auch sofort den Konflikt mit der Familie und der Umgebung untersuchen. Dafür gab es in jenen Jahren kein Verständnis. Die Frauenbewegung nahm diese und andere Fragen auf. Ich erinnere mich an ein Buch mit dem Titel „Frauen, das verrückte Geschlecht“, in dem gezeigt wird, dass solche „Krankheiten“ Ausdruck davon sind, dass jemand behindert wird in seiner Entwicklung. Das war für mich eine unglaubliche Erleichterung.

ER: Wann war das ungefähr?

JB: Das fing etwa 1968 an und hat sich Anfang der 70er Jahre fortgesetzt. Bei mir war der Konflikt zwischen großer Neugier und enormem Erfahrungshunger und einer familiären Enge sicher extrem. Im Zentrum meines Lebens stand immer das Verbot der Mutter. Das Buch, das mir die verborgene Kette zwischen meiner Muter und mir zum ersten Mal bewusst gemacht hat, hieß: „Ich sehe in den Spiegel und sehe meine Mutter“. Es gab relativ viele amerikanische Arbeiten zu dem Problem, was die Mutter für die weibliche Emanzipation bedeutet, später gab es auch die französischen Autorinnen Irigaray und Kristeva, die das noch einmal anders erklärten. Klar war: Diese Phänomene waren nicht individuelles Versagen, sondern kollektives Schicksal.

ER: Die Weitergabe traditioneller weiblicher Werte in den Familien gab es in der DDR genauso, aber ich habe das nicht als so erstickend empfunden – wie ich das beim Sehen deines Filmes „Hungerjahre“ fühle -, weil uns überall, in der Schule, beim Studium etc. gesagt wurde, dass für den Aufbau einer neuen Gesellschaft die Frauen und Mädchen genauso wichtig seien wie die Männer, dass sie dasselbe leisten könnten, ja dass es überhaupt nichts gäbe, was Frauen nicht auch können. Dabei waren die Grenzen für weibliche Einflussnahme – etwa in der Politik – noch ebenso wenig sichtbar, wie uns nicht klar war, dass dieses Emanzipationsideal weitestgehend an männlichen Vorstellungen festgemacht war. Auf jeden Fall herrschte unter den Frauen zunächst bei allen schwierig zu lösenden Alltagsproblemen eine Stimmung der Freiheit und Unabhängigkeit, die auch dadurch gestützt wurde, dass praktisch alle Frauen arbeiteten und ökonomisch im Großen und Ganzen unabhängig waren. Insofern war es bei uns wesentlich anders als bei euch. War deine Mutter eigentlich berufstätig?

JB: Das war sie, aber diese Berufstätigkeit war für sie ein Makel, eine Schande, wie auch für meinen Vater. Denn sie musste ja arbeiten, weil er unfähig war, die Familie so zu ernähren, wie meine Mutter sich das vorstellte. Obwohl das niemand so sagte, war das völlig klar.

F.: Aus welchen Verhältnissen kommst du?

JB: Aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, mit all diesen unausgesprochenen Hoffnungen auf Aufstieg.

F.: Kein Arbeitermilieu.

JB: Nein, obwohl mein Vater und sein Bruder einen Arbeiterberuf ergriffen. Sie hatten mit 12 und 13 Jahren beschlossen, vom Gymnasium abzugehen, um ein Schiff zu bauen und nach Amerika zu fahren und ihre Eltern hatten dieser Jungensphantasie nichts entgegengestellt. Mein Onkel begriff sehr schnell, dass der Beruf des Schlossers nichts für ihn war. Mein Vater ist eine Weile beim Tischlerberuf geblieben, bis auch er gemerkt hat, dass er zwei linke Hände hat. Er hat dann etwas Kaufmännisches gemacht und hatte so einen abgebrochenen Bildungsweg. Meine Großeltern väterlicherseits kommen sehr stark aus der Arbeiterbildungsbewegung und haben sich in Arbeiterbildungsvereinen und was es da so alles gab Wissen angeeignet, in dieser klassischen Tradition von Goethe bis Haeckel. Meine Familie war kleinbürgerlich und links mit humanistischen Hoffnungen und Überzeugungen wie etwa „Wissen ist Macht“.

ER: So etwas klingt mir vertraut in den Ohren. Da gibt es Gemeinsamkeiten.

JB: Sicher viele, denn zumindest am Anfang der deutschen Teilung waren Mentalitäten noch ziemlich ähnlich. Aber in der restaurativen Bundesrepublik war ein solcher Vater für ein Mädchen wie mich, das auf das Gymnasium ging, fast etwas Exotisches. Ich habe mich als Zwölfjährige geschämt, dass mein Vater Betriebsratsvorsitzender war und meine Mutter Verkäuferin. Sie arbeitete „mit“, aber unter ihrem Niveau. Sie war ausgebildete Kunstgewerblerin und sah das als Übergangslösung an. Solche Frauen hielten es für selbstverständlich, dass sie nach ihrem Acht-Stunden-Tag – und sie mussten die ganze Zeit stehen, es war verboten, sich zu setzen -, zu Hause die Wäsche machten, das Essen kochten, sauber machten, und es verstand sich für sie von selbst, dass der Mann noch nicht mal abtrocknete. Denn dann wäre der Mann ja kein Mann gewesen. So haben sie das restaurative Familiensystem gestützt, ihre eigene Unterdrückung reproduziert – meine Mutter auch, obgleich sie ständig darüber geklagt hat.

F.: Aber zurück zur Frage: Wie kamst du zum Film?

JB: Ich hatte relativ früh geheiratet und arbeitete an meiner Dissertation. Die Frauenbewegung katapultierte mich aus meiner Ehe heraus. Das war der Aufbruch, der mit der ’68-Bewegung verbunden war. Ich fing ein neues Leben an, wie damals viele Frauen – ich gründete eine Filmproduktion: Preston-Filmproduktion. Inhaberin: Pola Preston.

F.: Das warst du.

JB: Das war ich. Viele Frauen, die aufbrachen, gaben sich damals einen anderen Namen. Ich hatte in München um das ‘Kuratorium Junger deutscher Film‘ herum Filmemacher kennengelernt…. Ich muss noch etwas einfügen: Ich habe eigentlich immer geschrieben, mit mehr oder weniger eigenem Einverständnis für das, was ich produzierte.

F.: Geschichten? Gedichte?

J.B: Alles. Geschichten. Gedichte. Und ich war immer unzufrieden damit. Ich kam an eine Barriere, die ich nicht definieren konnte. Was ich schrieb, war nie das, was ich schreiben wollte. In dem Moment, wo ich Filmemacher kennenlernte, begriff ich mein Problem. Es war mir beim Schreiben um die Wiedergewinnung einer Person gegangen, die ich verloren hatte: mich selbst. Das musste in Worten scheitern, weil die Worte schon die symbolische Ebene waren und mein Problem war der verleugnete, verdrängte weibliche Körper. Ich musste diesen Körper rekonstruieren. Das ging nur im Medium des Bildes, das die größtmögliche Ähnlichkeit zur Realität hatte. Daher war sofort klar, als ich in Kontakt mit diesem Medium kam, dass ich hier mein Schreib-Problem lösen konnte. Und dass es über Einrichtungen wie z.B. das „Kuratorium Junger Deutscher Film“ dafür sogar Geld gab. Damals gab es ja noch kein billiges Video.

ER: Aber wo hast Du den technischen Teil gelernt, ohne den nun mal das Filmemachen nicht geht, besonders in der Zeit vor dem Video?

JB: Der Geschäftsführer des Kuratoriums, Norbert Kückelmann, ein Jurist, machte gerade seinen ersten Film: „Die Sachverständigen“. Er hatte noch nie einen Film gemacht, hatte im Prinzip keine Ahnung, aber wir alle hatten damals keine Ahnung. Man kam zum Film, weil man etwas Wichtiges erzählen wollte, nicht weil man das Handwerk gelernt hatte und dies nun als seinen Beruf betrachtete. Man war Autor. Da, wo andere schrieben, bediente man sich des Mediums Film.

ER: Ist das Deine Definition des westdeutschen Autorenfilms?

JB: Auf jeden Fall der Kern. Und Kückelmann und ich hatten viele Gespräche über den gesellschaftskritischen Aspekt seines Films. Irgendwann sagte er: „Sie sollten Drehbücher schreiben. Sie können das.“ Ich fuhr sofort nach Hause, setzte mich an die Schreibmaschine, tippte groß „Aufbrüche“ auf das Papier, und dann schrieb ich ein Drehbuch. Es war genau so platt, wie ich dir das hier erzähle. Ich gründete auf dem Papier die Preston-Filmproduktion. Geld hatte ich überhaupt keins. Die Briefbögen habe ich bei Kückelmanns Drucker und auf seine Kosten drucken lassen, ohne dass er es merkte. Dann zog ich von meinem Mann weg in eine Wohngemeinschaft, die ich begründete und wo ich das kleinste Zimmer hatte, und war also in diesem kleinen Zimmer die Preston-Filmproduktion. Und ich reichte dieses Drehbuch bei der Filmförderung des Innenministeriums ein. Da wurde es im ersten Durchgang ausgesondert – was mich inzwischen nicht mehr wundert. Aber ich hatte das Medium für mich entdeckt und schrieb als nächstes zwei Kurzfilm-Drehbücher. Und dann bekam ich einen Auftrag vom Bayerischen Rundfunk für zwei Drehbücher für ein Familienprogramm, und ein Regisseur, der eine Serie inszenierte, machte mir den Vorschlag, mit ihm zusammen ein paar Serien-Drehbücher zu schreiben. Dabei habe ich das Basis-Handwerk gelernt. So zufällig war das alles, abenteuerlich und ganz unglaublich. Es war eine Aufbruchsstimmung, die im Filmbetrieb nur das wiederholte, was damals in der Gesellschaft geschah. Man könnte viele verrückte Episoden erzählen, die auch klar machen, warum der Junge deutsche Film so geworden ist, wie er dann war. Im Guten und im Schlechten.

ER: Dies alles wäre in der DDR überhaupt nicht möglich gewesen.

JB: So schrieb ich also diese Seriendrehbücher, und eines Tages klingelte das Telefon, und Volker Schlöndorff sagte: „Sie schreiben doch Drehbücher. Wollen Sie nicht ein Drehbuch für mich schreiben?“ Wir kannten uns aus politischen Zusammenhängen, wir waren beide in der ‚Roten Hilfe‘. Er bot mir eine Geschichte von Henry James an. Ich las die Vorlage, war nicht sehr überzeugt und wollte vieles ändern. Volker wollte das aber nicht. Da sagte ich ganz tollkühn, dass ich es dann nicht machen kann und erschrak im selben Augenblick, denn wer lässt schon eine solche Chance fahren. Aber er bot mir ein Buch an, das er und Margarethe von Trotta immer schon mal machen wollten. Und das war „Der Fangschuss“ von Marguerite Yourcenar. Und dieses Buch hat mich sofort begeistert…

ER: Den Film sah ich im Fernsehen, ohne zu wissen, von wem er inszeniert ist, und er hat mich abgestoßen und zugleich unglaublich fasziniert. Er ist mir von der Gesamtstimmung her noch heute im Gedächtnis. Diesen Film hast du geschrieben?

JB: Zusammen mit Margarethe von Trotta, Geneviève Dormann hat eine französische Fassung geschrieben. Dabei haben Margarethe und ich zum ersten Mal zusammengearbeitet. Das war eine sehr, sehr schöne Zusammenarbeit, sehr offen, sehr frei und sehr intensiv.

ER: Was für ein schöner Beginn Für Deine Karriere.

JB: Ja, ich hatte Glück. Aber ich habe wahrscheinlich auch eine Fähigkeit: Ich mache immer nur das, was ich wirklich machen kann. Als „Der Fangschuss“ dann fertig war, wusste ich, dass mich nichts mehr davor rettet, das eigene Drehbuch zu schreiben und den eigenen Film zu machen, den ich mit dem Versuch von „Aufbrüche“ nicht geschafft hatte. Ich hatte damals schon einen Entwurf geschrieben, der sich mit dieser Generationen-Kette von Frauen beschäftigte und damit, dass sich Geschichte in der weiblichen Genealogie anders sich verwirklicht, und dort andere Dinge weitergegeben werden als in der männlichen. Es war aber noch kein autobiografisches Projekt. Das zeigte ich einem Redakteur des WDR. Der sagte: „Das Thema ist schön, aber die Form stimmt nicht.“ Ich war sehr ärgerlich, wie man sich bei einer Absage immer über diese hochmütigen Redakteure ärgert, und, um mich zu trösten, ging ich in die Buchhandlung König, die jedem Filmmenschen ein Begriff war. Es war die erste Buchhandlung, die sich in der alten Bundesrepublik auf Film- und Fotobücher spezialisiert hatte. Und da sah ich zum ersten Mal das Buch „Antlitz der Zeit“ mit den wunderbaren Fotografien von August Sander. Das war wie ein Schock, wie eine Offenbarung. Denn das war genau das Milieu, aus dem meine Großmutter und meine Mutter kamen, dieses halb bäuerliche, ländliche, halb städtische, die kleinen Gewerbetreibenden mit ihren rigiden protestantischen, zum Teil sektiererischen Verhaltensweisen. Und ich merkte, dass ich einen Film machen wollte, in dem klar wurde, wie stark ganz bestimmte soziale und geschichtliche Momente nicht nur die Seelen und die Charaktere, sondern auch die Physiognomien der Leute prägen.

ER: Du hast mit einem Dokumentarfilm angefangen, das ist zunächst nichts Ungewöhnliches, aber du fängst mit einem ganz besonderen Dokumentarfilm an, in dem das Bild erst zum Schluss zum Filmbild wird , also „Laufen lernt“, wie der Titel eines Deiner anderen Filme heißt. Der Film, der das Leben deiner Mutter beschreibt, besteht ja nur aus Fotos, fast 70 Minuten lang!

JB: Ich wollte keinen Kostümfilm machen. Ich habe von Anfang an Filme machen wollen, in denen nicht Menschen vor dem Hintergrund der Geschichte – Geschichte im Sinne von Historie, – gezeigt werden, sondern in denen gezeigt wird, was die Geschichte in Menschen anrichtet. Kein Schauspieler heute hat diese Art von Haltung, Blick und Körper wie diese Frauen und Männer auf diesen Fotos. Das, was mich heute noch umtreibt, das begann in dem Moment, als ich die Fotos sah, nämlich die Frage: Wie lagert sich Geschichte nicht nur in den Köpfen der Menschen ab, sondern auch in ihren Körpern? Und als ich die Fotos von Sander sah, war mir völlig klar: Das, was ich erzählen will, kann nicht inszeniert werden. Deshalb hatte der Redakteur, der mir gesagt hatte, die Geschichte sei gut, aber die Form falsch, Recht. Der Film wäre ein mehr oder weniger konventionelles Fernsehspiel geworden, mit all den Brüchen, die im deutschen Autorenfilm damals noch möglich waren. Ich beschloss, den Film tatsächlich ganz anders zu machen, nur mit Fotos, und ich beschloss, dass meine Mutter selbst ihr Leben erzählt. Das hat sie auch sehr gerne getan, tagelang auf Tonband. Ich wollte in dem Film herauskriegen, wie diese Frau von der Moral ihrer Klasse geformt worden ist, wie sie damit gelebt hat und wann sie angefangen hat, sich dagegen zu wehren. Und insofern ist diese Frau, meine Mutter, am Anfang nur als Spur da. Du weißt nie, ist sie es auf diesem Foto, oder ist sie das nicht? Du suchst ständig nach ihr und findest sie eigentlich nicht. Erst zum Schluss, in den 60er, 70er Jahren, als bei ihr ein Prozess der Emanzipation beginnt, taucht sie auf als Person, die man wiedererkennt, denn da haben wir sie selbst fotografiert und ich habe die Fotos so aneinandergeschnitten, dass es wie eine Bewegungssequenz wirkte. Hier beginnen dann die Bilder zu laufen. Aber ich bin nicht einen einzigen Moment auf die Idee gekommen, von meiner Mutter Einstellungen mit einer Filmkamera zu machen. Ich wollte aus Gründen der ästhetischen Geschlossenheit von Anfang bis Ende Fotos haben. Aber die unterschiedlichen Methoden, mit Fotos zu arbeiten, haben sich erst im Laufe dieser Arbeit durchgesetzt. Das sind Prozesse gewesen, die ich nur zum Teil gesteuert habe. Am Material habe ich Lösungen gefunden, die nicht von Anfang an geplant waren. Vieles hat sich aus dem Material herausentwickelt.

ER: Das heißt also, dass du, als Du mit der Suche nach Deiner Mutter und Dir selbst anfingst, Dich nur auf dich verlassen hast, auf dein Gefühl.

JB: Vollkommen. Es gab ja kein Beispiel für eine solche Art von Film. Die Form musste ich erfinden.

ER: Das finde ich faszinierend. Dieser Film hat eine große Plausibilität, er ist
einfach und überzeugend. Was mich aber trotzdem auch heute noch verwundert, ist, dass der Film wirklich den Eindruck macht, als ob du ein heiteres, in gewisser Weise abgeschlossenes Verhältnis zu deiner Mutter hast. In den Textpassagen, die von dir gesprochen werden, steckt eine gewisse Ironie. Zum Beispiel, wenn du diese Sprichwörter aufzählst. Man merkt, du bist frei davon, es ist aber für dich wichtig, zu wissen, wie es war. Damit drückst du eine Distanz zu dieser Art Leben aus. Aber du hattest sie doch wahrscheinlich gar nicht. Oder?

JB: Die Distanz habe ich mir dadurch geschaffen, dass ich, – ich sage es jetzt sehr verkürzt -, die Geschichte dafür verantwortlich gemacht habe, dass meine Mutter so war, wie sie war. Nur als Opfer war sie für mich zu ertragen. Ich habe mich mit diesem Film an die erste Schicht einer Bewältigung herangewagt, die dann im zweiten Schritt zu „Hungerjahre“ geführt hat. Und „Hungerjahre“ war ein hartes Stück innerer Arbeit. Damit meine ich zuerst einmal das Wagnis, überhaupt einen Film über sich und die eigene Mutter zu machen. In der Zeit, als ich das Drehbuch geschrieben habe, habe ich richtig gelitten. Ich habe mir – als große Somatisiererin, die ich bin – viele verschiedene Krankheiten zugezogen, die in dem Moment, als das Drehbuch geschrieben war, wie weggeblasen waren. Auch „Tue recht… “ habe ich nur schreiben können, weil ich mich in eine Lungenentzündung hineinbegeben hatte. Es ging nicht anders. Mit dieser Lungenentzündung im Bett liegend, hatte ich das Exposé geschrieben und an die Fernsehanstalten geschickt. Es ging beide Male um etwas Existentielles. Die Krankheiten habe ich gebraucht, um bis an einen auch körperlichen Grenzpunkt zu kommen, wo Angst keine Rolle mehr spielte. Die Arbeit am Drehbuch war eine psychoanalytische und ästhetische gleichzeitig. Ich musste eine allgemeinverständliche Form für einen ganz privaten Prozess finden.

ER: Dass man in der eigenen Familie sucht, dass man an die Mutter denkt, den Vater befragt – diesen persönlichen Ausgangspunkt finde ich aufregend und ungewöhnlich. Meine östlichen Kollegen sind erst sehr viel später darauf gekommen. Jürgen Böttcher sprach vor einigen Jahren darüber, dass er eigentlich sehr gerne einen Film über seinen Vater gemacht hätte, was aber dann nicht mehr möglich war, er war gestorben. Einen solchen Ansatz zu wählen, verbot sich von selbst. Es hätte sich überhaupt keiner getraut, das Individuelle für so wichtig zu halten. Man hatte das Gefühl, das ist unbescheiden, und hat sich in objektiviertere Geschichten begeben. Dass du diesen Weg gegangen bist – Helma Sanders-Brahms hat ja in „Deutschland – bleiche Mutter“ auch ganz persönliche Familiengeschichte benützt – finde ich faszinierend.

JB: In einem metaphorischen Sinne habe ich dadurch, dass ich meine Mutter sprechen ließ und ihr zugehört habe, die „Muttersprache“ benutzt, um meinen ersten Film zu machen und filmisch sprechen zu lernen. Das Tor zur Geschichte (Historie) und den Geschichten musste die weibliche Erbschaft sein, nicht die männliche. Im Übrigen brauchte man für einen solchen Film damals auch bei uns Mut. Der Untertitel von „Tue recht und scheue niemand“ heißt „Das Leben der Gerda Siepenbrink“. Das war ein Phantasiename, nicht der Name meiner Mutter, so weit ging mein Mut nicht. Ich habe den Film auf dem Dokumentarfilmfestival in Leipzig gezeigt und Ruth Herlinghaus sagte: „Das ist ja höchst erstaunlich. So etwas könnte bei uns überhaupt nicht gemacht werden. Wer ist denn diese Person, die so rückhaltslos offen mit Ihnen über ihr Leben redet?“ Und ich wollte nicht mit der Sprache heraus, aber irgendwann ging es einfach nicht mehr, und ich sagte ihr schließlich, dass es meine Mutter sei. Das hat offensichtlich Ulrich Gregor mitbekommen. Denn kurz danach rief er mich an und sagte: „Sie haben doch in Leipzig ihre beiden Filme gezeigt, den über ihre Mutter und den über das verwahrloste Mädchen. Wir überlegen uns gerade, ob wir die auf dem Forum der Berlinale zeigen wollen.“ Mir fiel fast vor Erschrecken der Hörer aus der Hand, Erschrecken darüber, dass es nun nicht mehr zu verheimlichen ist, dass „Tue recht…“ ein Film über meine Mutter ist. Von da ab habe ich dazu gestanden. Es war auch bei uns eine Kühnheit, einen Film in dieser Weise über die eigene Mutter zu machen.

ER: Wie hat deine Mutter darauf reagiert?

JB: Das war ein bewegender Prozess. Meine Mutter hat mir sehr gern ihr Leben erzählt, der O-Ton war also schon da und ich hatte daraus und dem, was mir mein Vater erzählt hatte, schon ein Hörspiel gemacht. Aber sie wollte nicht für einen Film fotografiert werden. Sie hat wie viele Leute dieser Klasse eine große Scheu vor dem eigenen Bild. Aber es war mein erster Film und ich war auch Produzentin, sozusagen Unternehmerin, und für das Geld verantwortlich, das vom ZDF kam. Das war ihr unheimlich und sie hatte Angst, dass ich einen Bankrott mache. Schließlich hat sie sich einverstanden erklärt, dass man wenige Orte ihrer Jugend aufsucht und sie da fotografiert. Ich hatte eine gute Fotografin engagiert, die aber an sehr selbständige Arbeit gewöhnt war und sehr oft im Theater fotografierte. Sie war es nicht gewöhnt, morgens um 8 Uhr aufzustehen. Bloß leider braucht man ja zum Fotografieren Licht. Und meine Mutter, die nun immer an das Geld vom ZDF dachte, klopfte energisch an die Tür des Gästezimmers, in dem die Fotografin schlief, und sagte: „So, jetzt stehen Sie aber bitte auf, wir müssen jetzt losfahren.“ Und sie hatte die Dusche im Bad schon angestellt. Und dann hat sie alles dirigiert und hat gesagt: „Hier war ich oft, und das fotografieren wir jetzt.“ Sie hat von dem Moment an den Film in ihre eigenen Hände genommen. Es gab noch mal ein ähnliches Problem, als es um die Tonaufnahmen ging. Ich konnte die ursprünglichen Tonbandaufnahmen nicht brauchen, denn erstens gab es Tonstörungen, und zweitens erzählt meine Mutter unglaublich ausführlich und assoziativ. Aber sie wollte es nicht noch mal kürzer erzählen mit dem Argument: „Dann wäre es ja mein Film.“ Ich habe die Cousine meiner Mutter, die ein sehr ähnliches Leben geführt hat, vor die unmögliche Aufgabe gestellt: „Bitte, erzähl mir das Leben meiner Mutter so, als sei es dein eigenes.“ Natürlich ging das schief. Ich denke auch, das Ganze war eine – von mir unbewusst gewählte – raffinierte Veranstaltung, um meiner Mutter klar zu machen, dass sie es machen muss. Und wieder gab das Geld den Ausschlag, dass sie es doch tat und wieder nahm sie dann die Sache in ihre eigenen Hände. Und so ist es wirklich ihr Film geworden. Als er fertig war, hatte ich allerdings große Angst, wie sie darauf reagieren würde. Ich habe sie nach München gebeten, vor den Schneidetisch gesetzt und mir selbst in einer Ecke zu schaffen gemacht. Sie hat sich das angesehen und hat dann ganz einfach nur gesagt: „Ich kann es nicht leugnen. Das ist mein Leben“. Und dann hat sie angefangen, sich sehr stark mit dem Bild von sich, das der Film zeigte, zu identifizieren. Als er im Fernsehen lief, hat sie meinen Vater, der damals ziemlich krank war, gezwungen, wach zu bleiben, hat ihm Kissen in den Rücken gestopft und hat zu ihm gesagt: „Da ist jetzt mein Leben, das guckst du dir an, denn du weißt nichts davon.“

ER: Das ist ja ganz unglaublich.

JB: Über den Fernseher hat sie ihm mitgeteilt, wie ihr Leben gewesen ist. Mein Vater hat den Film beim ersten Mal fast nicht gesehen, weil es ihm wirklich nicht gut ging. Aber er hat ihn dann später gesehen und ganz selbstverständlich gesagt: „Ja, weißt du, diese historischen Zusammenhänge, das ist ja alles sehr interessant“, und hat so getan, als würde er in dem Film, auch in den privaten Konflikten, die geschildert werden, keine Rolle spielen. Meine Mutter selbst hat zu diesem Film immer gestanden. Die eigentlich schwierige Prüfung kam mit „Hungerjahre“. Da wurde es hart für sie.

ER: „Hungerjahre“ hat eine faszinierende Atmosphäre der Düsternis. Auch in „Tue recht …“ erlebt man diese Enge und Bedrückung, unter der diese Frau – und du wahrscheinlich auch – aufgewachsen ist, aber man leidet nicht darunter. Aber „Hungerjahre“ kann man nur leidend – oder vielmehr mitleidend – wahrnehmen. Man leidet unter dieser gar nicht so bös gemeinten Vorsorge der Eltern, unter diesen ganzen Verhältnissen, und obwohl es immer auch Komisches gibt, ist es trotzdem ein Film, wo man das Gefühl hat, dass es ein einziger Leidensprozess ist und dass du selbst, die Filmemacherin, vielleicht höchstens während des Filmemachens selbst ein bisschen Abstand dazu gewinnen konntest. Du sprichst Kommentare, poetische Reflexionen, durch die ein Abstand zum Geschehen zu spüren ist, aber das hat nichts Heiteres, sondern ist geprägt von den Leiden, die du durchgemacht hast. Ich finde das faszinierend. In diesem Film ist ein vollkommen anderer Charakter des Verhältnisses zu deiner Mutter oder zu dir selbst zu spüren als in deinem ersten Film.

JB: Vielleicht liegt das daran, dass ich mich erst, nachdem ich „Tue recht..“ gemacht hatte, an das wirkliche Problem zwischen mir und meiner Mutter heranwagen konnte.

ER: Es ist für mich ein Phänomen, dass „Tue recht…. “ diese Art von Heiterkeit hat. Aber vielleicht stellt sich das für uns immer mehr her, die wir diesen Abstand zu dieser Zeit mehr und mehr gewinnen ?

JB: Es ist natürlich trotz allem etwas anderes, wenn man erstmals versucht, so objektiv es einem als Tochter möglich ist, das Leben der Mutter zu schildern und ihm – das war mir immer sehr wichtig – Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Das ist von vornherein ein etwas distanzierteres Verfahren. Und die Erinnerungsreste und Fotos bringen auch eine solche Fülle in den Film herein, nicht unbedingt eine Heiterkeit, aber eine Fülle, die gestattet es gar nicht, mit einem verengten, gequälten Blickwinkel zu erzählen. Ich erinnere mich an eine Kritik, die den Film lobte, aber ihm vorwarf, in ihm sei zu viel. Es ging in „Tue recht….“ darum, erst einmal klar zu machen, welches die objektiven Umstände für das waren, was ich in meiner Jugend als diesen großen Leidensprozess erlebt habe, den ich dann in „Hungerjahre“ schildere. Da ist schon bei den Dreharbeiten sehr viel wieder hochgekommen. Ich erinnere mich, wie wir die zentrale Szene des Selbstmordversuchs gedreht haben. Ich stand da und habe mir in die Hand gebissen und habe es nicht gemerkt. Erst nach dem „Cut“ merkte ich plötzlich, dass ich mir in die Hand biss. Es brauchte einen Willensakt, meine Zähne aus meiner Hand wieder herauszuziehen.

ER: Und wie hat Deine Mutter nun reagiert?

JB: Vor der Fernsehausstrahlung habe ich meine Eltern angerufen und ihnen gesagt, dass heute Abend der Film läuft, in dem es sehr persönliche Elemente gibt. Nach dem Film riefen sie mich dann an. Mein Vater sprach wiederum von den historischen Zusammenhängen etc., und meine Mutter sagte so gut wie gar nichts, nur so etwas wie: „Wir müssen, glaube ich, noch einmal darüber reden.“ Zwei Tage später kam es dann, und dann merkte ich, wie stark sie getroffen war. Sie hat dann für sich den Satz gefunden: „Ich habe zwar damals vieles falsch gemacht, aber man wusste es nicht anders.“ Das waren auch die Sätze, die sie in einer Sendung sagte, die im WdR einen ganzen Morgen lang unter dem Titel stand: ‘Ich sehe in den Spiegel und sehe meine Mutter’. Ich war im Studio und es lief ein Interview, das eine Journalistin ohne mein Wissen mit meiner Mutter über „Hungerjahre“ gemacht hatte. Ich höre also, wie die Redakteurin fragt: „Haben Sie die Zeit, die Ihre Tochter schildert, genauso erlebt?“ Sie sagte: „Nein, ich habe sie anders erlebt. Aber ich muss mich damit auseinandersetzen, dass meine Tochter das so erlebt hat und dass sie, wenn sie es so schildert, es auch ehrlich tut. Sicherlich habe ich Fehler gemacht, aber an uns selber sind auch Fehler gemacht worden.“ Das hatte Größe. So hat sie sich inzwischen mit diesem Film mehr als arrangiert. Sie hat ihn auf dieser Ebene akzeptiert.

ER: Aber ich muss hinzufügen: Du greifst sie persönlich nicht an. Sie erscheint im Film als eine interessante Frau, die ebenfalls deutlich unter der Enge und Dumpfheit der Verhältnisse leidet. Was man ihr zum Vorwurf machen könnte, ist, dass sie von ihrer Tochter nicht genug gewusst hat, dass sie nicht sensibel genug war, die Leiden des Mädchens zu fühlen. Um ihr – und anderen – das zu offenbaren, hast du ja den Film gemacht.

JB: Dieser Film war für sie der Spiegel, den sie in ihrem Leben nicht ertrug. Sie gehört zu den Frauen, die immer nur positiv gespiegelt werden wollen, das ist für sie der Sinn von Liebe. Und dabei wird die Tochter in eiserne Pflicht genommen. Jede Auseinandersetzung, jede Kritik, jeder Streit ist für sie Liebesentzug.

ER:„Hungerjahre“ hat ja eine sehr strenge Form.

JB: Ich habe trotz meiner mangelnden Filmausbildung gewusst, dass ich einen solchen Film nur ‘archaisch’, holzschnittartig machen kann. Ich musste von vorneherein eine Dramaturgie und Dialoge finden, die mit diesem Holzschnittartigen übereinstimmen. Die Enge und Beschränkung ging nicht zusammen mit einer naturalistischen Form, die immer behauptet, die pralle Fülle des Lebens zu erzählen. Das wäre der Geschichte nicht gemäß gewesen, die ja gerade vom Verschwinden der Wirklichkeit erzählt. Und die Versteinerung von Emotionen kann man auch nicht als Melodrama erzählen. Die Gefühle werden sichtbar in der Abstraktion, als verdrängte. Man musste gewissermaßen ständig mit angezogener Handbremse erzählen, mit Distanz. Diese Einsicht war aber eher eine gefühlsmäßige, ganz viele Entscheidungen beim Filmemachen sind ja gefühlsmäßige Entscheidungen. Dass ich mich nicht in den Zwang gebracht habe, die Fülle des Lebens zu erzählen und erst aus dieser Kameraachse und dann aus jener Kameraachse – das, denke ich, ist eine Art von Instinkt, den ich oft gehabt habe und der mich auch nach „Hungerjahre“ vor manchem bewahrt hat. Denn danach bekam ich viele Angebote von Fernsehanstalten, „Hungerjahre“ noch einmal zu drehen, Hungerjahre eines Waisenmädchens, Hungerjahre eines Alkoholikers etc. Ähnlich ging es übrigens Margarethe von Trotta nach der „Bleiernen Zeit“. Wann immer ein Terrorist am Horizont auftauchte, hieß es, das ist ein Stoff für Margarethe. Ich in meiner Situation habe mich nicht getraut, die Angebote abzulehnen, ich habe aber die Angebote so lange auf meinem Tisch liegen lassen und mich erst nach Monaten gemeldet, dass sich die Sache erledigt hatte. Ich habe mich so davor geschützt, Unsinn zu machen. Aber ich muss noch einmal betonen, dass ich mit meiner Hauptdarstellerin Britta Pohland sehr viel Glück gehabt habe. Dass ich sie gefunden habe, war ein Zufall, aber Zufälle ergreift man oder lässt sie fahren. Als dieses Mädchen meine Wohnung betrat, sehr munter, gar nicht verklemmt oder melancholisch, hatte ich sofort das Gefühl – die ist es. Sie war es deswegen, weil sie immer sie selbst blieb. Wenn man seinen ersten Spielfilm macht, neigt man ja eher dazu, zuviel zu tun und nicht zu wenig. Ich habe ihr sehr ausführlich gesagt, was sie jetzt tun soll und wie sie es tun soll, aber sie hat es immer auf ihre Weise getan.

ER: Abgesehen davon, dass es derselbe Gegenstand ist, gibt es aber auch Ähnlichkeiten zwischen „Tue recht …..“ und „Hungerjahre“. Ich finde, dass „Hungerjahre“ auch einen dokumentarischen Zug hat. Und zwar nicht nur, weil Zeitdokumente eine große Rolle spielen. Den dokumentarischen Grundgestus der Beschreibung des Lebens der Ursula merkt man an dem Punkt genau, wo die allgemeine Enge und das Bedrückende des Lebens dieses Mädchens in eine andere Phase übergeht, nämlich eine Form von Verrücktheit, wo sie unter dieser Art Leben so außergewöhnlich leidet, dass sie fast schizophren wird. Diese extreme Reaktion wird nicht dramatisch entwickelt, sondern dokumentiert. Man vertraut dem Film und macht diese Wendung in der Erlebniswelt des Mädchens getreulich mit. Aber es gibt keine dramaturgische Struktur, die einen diese Dinge gewissermaßen vorausschauen, erahnen lässt – wie es im Drama ja der Fall ist. Deshalb denke ich, dass „Hungerjahre“ einen dokumentarischen Grundgestus hat. Das ist die Eigenart deiner ersten drei Filme, denn dazu gehört ja auch der dazwischen liegende Film „Ein ganz und gar verwahrlostes Mädchen“.

JB: Das Dokumentarische gehört für mich zum Autobiographischen. Die dokumentarische Methode sieht die Dinge zwangsläufig von außen. Sie kann ja gar nicht anders. Ich habe mich von außen an das schwierige Geheimnis, das ich zeigen wollte, herangetastet, und ich glaube, das war deswegen die einzige Methode, weil es um die Frage ging, warum ich versteinert bin. Diese Versteinerung beginnt außen, sie wächst von da aus nach innen weiter. Und einen versteinerten Menschen kann man nicht filmen, indem man innere Prozesse dramatisch beschreibt, denn die finden gar nicht mehr statt. Ich brauchte dieses distanzierte Mittel, nämlich die Kamera, um mich von außen zu betrachten. Deswegen bin ich Filmerin geworden. Worte kommen stark von innen, Bilder kommen von außen, so habe ich es empfunden. Ich konnte mich selbst nur wieder zum Leben erwecken, indem ich von außen Schicht für Schicht abtrug – in der Sprache der Märchen gesagt: Haut für Haut abstreifte -, um langsam zum Kern zu kommen. Und andererseits würde ich meine Arbeitsweise so beschreiben: Ich stehe in einem Wald und weiß nicht, wo es lang geht. Es ist kein Weg da, nichts. Aber in einer Art von blindem Wissen und manchmal ziemlich gewaltsam schaffe ich mir einen Weg, weil ich rauskommen muss.

ER: Glaubst Du, dass für die anderen Frauen die Prozesse auch so existentiell waren?

JB: Über meine Kolleginnen kann ich da wenig sagen, aber für viele der Zuschauerinnen schon. Für viele Frauen ging es damals um die Existenz. Jedes Leben und jeder Film musste dem Nichts abgerungen werden. Film und Leben standen damals in einem notwendigeren Zusammenhang als heute.

ER: Welche Notwendigkeit hat „Ein ganz und gar verwahrlostes Mädchen“?

JB: Das „verwahrlostes Mädchen“ Rita Rischak war die unausgelebte Hälfte meiner selbst. Und ich war ihre unausgelebte Hälfte.

ER: Dessen warst du dir bewusst?

JB: Wir haben es beide gewusst, weil wir immer wieder gefragt worden sind: Was um Himmels willen findet ihr beide aneinander? Für niemanden war das einsichtig. Ich hätte mir nie ein Leben gestattet, wie Rita es sich gestattet hat – ich hatte große Angst vor der Hingabe an einen unstrukturierten Alltag, der aus Zufällen bestand. Aber man hat nur Angst vor Dingen, die einem nahe sind. Und Rita ist ja absolut keine dumme Person, eher eine ungebildete Person – und noch nicht einmal das, sie hat im Laufe der Zeit bewiesen, dass sie sich Dinge, für die sie sich interessiert, sehr genau aneignen kann – Rita ist faul, sie hätte nie die nötige Energie gehabt, auch nur einen Tag so zu leben wie ich, aber mein Leben hat sie fasziniert. Insofern waren wir wirklich die beiden Seiten einer Medaille. Von daher habe ich sie als meine unausgelebte Hälfte umkreist – dokumentarisch.

ER: Ich empfinde den Film als nicht so persönlich wie deine anderen Filme, aber ich denke, dass er – ganz abgelöst von dir – bestimmte wichtige Elemente der Lebensweise von jungen Leuten in den siebziger Jahren ziemlich genau trifft, und zwar auf eine naive Weise. Ich könnte mir vorstellen, dass heutige junge Leute vielleicht über Rita lachen, aber auf der anderen Seite ist sie ja ihre ältere Schwester. Denn die Haltung, die anhand von Rita beschrieben wird, gibt es heute in einem bestimmten Milieu tausendfach. Diese Wurschtigkeit, mit den Moralvorstellungen umzugehen …..

JB: Das ist die eine Seite, die andere Seite ist dieses kindliche Bedürfnis, unmittelbar für jeden Einsatz belohnt werden zu wollen. Wenn man nicht sofort belohnt wird, tut man keinen Schritt. Und das andere ist dieser ungeheure Hang zur Romantisierung. Das sieht heute nur scheinbar anders aus. Die Kultur des „cool“ wird ja ergänzt durch eine heillose Sentimentalisierung. Ich habe vor zwei Jahren bei meiner Amerika-Tour erfahren, dass dieser Film die College-Studenten und besonders die Studentinnen sehr ansprach. Die hatten das Gefühl, dass das ein ganz moderner Film ist. Andererseits waren sie verblüfft, schockiert, fasziniert auf eine ambivalente Weise – Faszination ist immer ambivalent – , und zwar davon, wie offen diese Frau war. Das traut sich ja heute keiner mehr. Man kann es so sehen: Ich habe mit dem Film über meine Mutter und dem Film über meine Freundin Rita die abgelehnten und unausgelebten Teilen meiner selbst umkreist – bis ich dann wirklich einen Film über mich gemacht habe: „Hungerjahre“. Sowohl der dokumentarische wie auch der autobiographische Grundgestus aller drei Filme ist für mich völlig klar.

ER: Was an dem „Verwahrlosten Mädchen“ sympathisch ist: Es steckt eine angenehme Portion von Anarchie darin. Wie sie zum Beispiel die jungen Leute wieder wegschickt, die drauf und dran sind, einen für sie ungünstigen Vertrag zu unterzeichnen, an dem Rita verdient hätte – das macht Spaß und ist sympathisch.

JB: Es ist nicht einfach nur Anarchie, sondern sie beschließt, ihre persönlichen Vorstellungen von Gerechtigkeit umzusetzen, d.h. sie warnt sie, gleichzeitig bereichert sie sich an dem Geld des Geschäftsmannes, denn der ist für sie ein Schwein, und ein Schwein darf man beklauen.

ER: Mit dieser Seite ihres Wesens kann ich mich am besten befreunden. Dass sie sich nicht wäscht und sich nicht um ihren Jungen kümmert, finde ich viel unangenehmer.

J.B: Es gab in der alten Bundesrepublik einen Hass auf die ‚Sekundärtugenden’: Pünktlichkeit, Höflichkeit, Reinlichkeit, weil in ihnen einmal das gesamte Wesen des Untertanengehorsams aufgehoben war. Das war Teil einer rabiaten Ideologie des revolutionären Alltags.

ER: Hast du jemals ein fremdes Buch verfilmt?

JB: Einmal, der Film heißt „Laufen lernen“. Er gehörte zu ein paar Fernsehfilmen einer Lebenshilfe-Serie. Unmittelbar nach dem Ende wurde ins Studio umgeschaltet, und da saßen drei Herren von der Produktionsfirma und diskutierten darüber, wie die Krise jeweils zu lösen sei. Man merkt dem Film das Didaktische an.

ER: Also auch in inhaltlichem Sinne eine Art Auftragsproduktion?

JB: Ja. Aber ich habe mir den Konflikt, in dem die Protagonistin des Films steht, sehr zu Eigen gemacht. Sie überlegt nach Jahren eines Daseins als Hausfrau und Mutter, wie ihr Leben weitergehen kann.

ER: Auch eine Emanzipationsgeschichte?

JB: Ich war gehalten, insgesamt in einer sehr viel konventionelleren Art zu erzählen, aber der Film hat visuell innovative Stellen. Kamerafrau war Hille Sagel, eine der ersten deutschen Kamerafrauen überhaupt. Jacques Ledoux, damals Leiter der belgischen Kinemathek in Brüssel, sagte mir einst, „Laufen lernen“ gehöre für ihn zu den sechs interessantesten europäischen Nachkriegs-Filmen. Er hat ihn auch zum „Prix l´age d´or“ eingeladen, und er war immer ein großer Verteidiger des Films wegen dessen zum Teil ungewöhnlichen Erzählweisen. „Hungerjahre“ hatte seine eigene Dramaturgie erfunden, sie hat sich aus dem Stoff heraus entwickelt, weil die Entscheidung nie ein filmisches Regelsystem war, sondern nur meine Erinnerung und mein Gefühl. Aber danach stand ich als Filmemacherin- und ich habe das wirklich physisch so empfunden – vor einer Mauer. Ich musste mir jetzt die filmischen Erzählweisen auf eine andere Weise aneignen. „Laufen Lernen“ war schon ein erster Schritt dahin. Ich musste den Übergang machen vom Schwarzweiß-Film zum Farbfilm. Das ist eine völlig andere Ästhetik. Wenn du Schwarzweiß-Film gemacht hast, und es war genau der Ausdruck deines ästhetischen Willens – und das ist es bei mir gewesen, ich habe es nicht gemacht, weil ich kein Geld für Farbfilm hatte – und dann stehst du plötzlich vor dem Farbfilm, dann wird erst einmal alles unglaublich banal. Bunt. Insofern wusste ich auch: jetzt stehe ich vor einer völlig anderen Aufgabe. Jetzt muss ich meine ästhetischen Vorstellungen unter ganz anderen Bedingungen noch einmal entwickeln. Und so kam danach eine Zeit der Experimente, zu denen „Luftwurzeln“ und „Kolossale Liebe“ gehören. Hier habe ich herausfinden wollen, wie man filmen kann, dass unsere Realität immer aufgeladen ist mit Vorstellungen, Erinnerungen und Hoffnungen. Auch „Lieben Sie Brecht?“ gehört dahin. Und dann natürlich „Ein Blick – und die Liebe bricht aus“. In diesen Filmen habe ich alle möglichen für mich wichtigen ästhetischen Möglichkeiten ausprobiert. Besonders wollte ich wissen, wie sich die Dramaturgie verändert, wenn die Bilder ihren Konkretismus verlieren und welche Techniken ich einsetzen muss, um „innere Bilder“ zu schaffen. Das habe ich mir in diesen Filmen Stück Für Stück erarbeitet, wobei mir immer wichtig war, bis an den äußersten Rand der Form des Spielfilms zu gehen, ihn aber nie zu verlassen. Ich bin keine Experimentalfilmerin, sondern versuche, innovativ Spielfilme zu machen.

ER: Dieses von dir beschriebene Erarbeiten sieht nach einem theoretischen Programm aus, das du zielgerichtet verfolgst. Was bedeuten dir denn die jeweiligen Geschichten?

JB: Die Geschichten sind für mich entscheidend. Ich mache kein Experiment um des Experimentes willen. Ich habe Geschichten gesucht, in denen die Notwendigkeit, anders zu erzählen, angelegt war, Geschichten, die für etwas ganz Besonderes transparent werden konnten. Und es ist wohl kein Zufall, dass zwei Filme etwas mit Frauen zu tun haben, die schreiben. Margarethe Steffin und Rahel Varnhagen. Es gab noch zwei andere Projekte, einen Film über Marie-Luise Fleißer und einen über Ingeborg Bachmann. Beide konnte ich bisher nicht machen. Was mir selbst aufgefallen ist: diese Reihe der eher experimentellen Filme beginnt mit einem über einen Prozess des Sprachverlustes („Luftwurzeln“) und endet mit einem über eine Frau, die eine Fülle der wunderbarsten Briefe geschrieben hat („Kolossale Liebe“) und für ihren Witz berühmt war.

ER: Worum geht es in „Luftwurzeln“?

JB: Um eine junge Frau, die aus einem DDR-Gefängnis freigekauft wurde – eine reale Geschichte, die ich kannte. Sie war an der grünen Grenze in Ungarn bei einem Fluchtversuch geschnappt worden. Nun saß sie in West-Berlin, wo sie eigentlich gar nicht hingewollt hatte, und kam mit diesem Westen und diesem Leben nicht zurecht. Ich hatte viele Freundinnen, die aus der DDR gekommen waren, ich wusste, was es bedeutet, aus dem Osten in den Westen zu kommen. Der Zentralsatz dieser Frau war: „Ich begreife sofort, wie der Alltag hier funktioniert, das ist kein Problem, aber es gibt andere Formen von Liebe hier und andere Formen von Hass und vor allen Dingen andere Formen von Widerstand. Das muss ich alles neu lernen: neu lieben, neu hassen, neu Widerstand leisten“. Ich zeige in dem Film eine halbe Stunde lang die Geschichte einer vierjährigen Verlassenheit und Fremdheit. Jemand hockt in einem Zimmer und macht einen Prozess mit sich selbst durch. Es ist eine Art visueller innerer Monolog, denn ich erzähle über Bilder. Es gibt ganz wenig Text in diesem Film. Die Frau sagt zum Schluss: „Ich werde jetzt nach Paris gehen.“ Denn die gleiche Sprache zu sprechen, sich aber nicht zu verstehen, verstärkt den Eindruck der Fremdheit. Und dann sieht man Super 8-Bilder von Paris, in denen es nur Lichter gibt, – la ville lumière – lauter Lichter. Dieser Film brachte mir übrigens auf dem Filmfestival von Mannheim massive Vorwürfe von der DDR-Delegation ein. Ich wollte den inneren Abschied dieser Frau von der DDR zeigen und habe in einer Sequenz Fotos von einer DDR-Fotografin über Außenseiter in Berlin zu dem kämpferischen Spanienlied, „Spaniens Himmel breitet seine Sterne ….“, gesungen von Ernst Busch, montiert. Dann folgen Fotos von Frauen und alten Leuten, die isoliert und verloren irgendwo herumsitzen, ein Rentner neben einem Riesengummibaum, und dahinter eine Berliner Straße, alles grau in grau, Fotos, die viel von der Hilflosigkeit und der hilflosen Zärtlichkeit von Menschen zueinander zeigen, und dazu hört man die Internationale als Tango. Das war zuviel. Die DDR-Delegation sagte: „Wir reisen ab. Deswegen.“ Sie fühlten sich in ihren „Gefühlen zutiefst verletzt“. Es war aber Gott sei Dank der vorletzte Tag, und alles verpuffte irgendwie.

ER: Es gibt zwei Fassungen von „Kolossale Liebe“, wie ist es dazu gekommen?

JB: „Kolossale Liebe“ war eine MAZ-Produktion. Das „Kleine Fernsehspiel“ hatte die Verpflichtung, eine gewisse Anzahl an MAZ-Produktionen zu machen und eine Studioproduktion war in der Zeit des Autorenfilms nichts, worum man sich gedrängt hat. Ich habe ihn dann ein paar Jahre später überarbeitet. Das Filmische gefiel mir nicht. Ich hatte gehofft, dass ich nach der unmittelbaren Studioproduktion das vorhandene Material noch einmal über die elektronische Postproduktion bearbeiten konnte. Diese Möglichkeit gab es nicht. Deshalb war „Kolossale Liebe“ für mich keine abgeschlossene Geschichte. Aber davor kam Buenos Aires mit dem Film „Ein Blick – und die Liebe bricht aus“, der in keiner Weise geplant war. Dieser Film ist entstanden, weil ich Steuerschulden hatte.

ER: Wieso das? Natürlich brauchst du keine Geheimnisse auszuplaudern.

JB: Filme entstehen oder entstehen nicht aus den merkwürdigsten Gründen. Über mir schwebte damals ein Damokles-Schwert. Über allen Produzenten, die Geld von der Berliner Filmförderung bekommen hatten. Für „Hungerjahre“ hatte ich einen Konsortial – Kredit bekommen. Filmproduktionen sind ja im Prinzip Durchlaufstationen für Filmförderkredite, die sie verwalten müssen. Ich wurde plötzlich damit konfrontiert, dass der Kredit, den ich für „Hungerjahre“ bekommen hatte, bei mir als Einnahme verbucht wurde. Daraus resultierten hohe Steuerschulden. Inzwischen geschieht so etwas Gott sei Dank nicht mehr. Meine Steuerberaterin sagte mir damals: „Dreh in Buenos Aires einen Film. Und mach Verluste.“ Ich hatte aber in keiner Weise irgendetwas geplant. Ich kam nach Buenos Aires mit dem Auftrag des Goethe-Instituts, einen Workshop zu machen. In dem Workshop waren sowohl Schauspieler wie auch ein Kameramann, und es gab als Basis für die Improvisationen schriftliche Interviews mit Frauen in Buenos Aires. Ich sollte den Teilnehmern vermitteln, wie man Low-Budget-Filme macht, die ja oft aus Improvisationen entstehen. Es wurde aber so schön improvisiert, dass wir ganz schnell merkten, nämlich schon am zweiten Tag, als wir die Muster sahen: Hier entsteht etwas. Das war vor allem auch dem Kameramann zu verdanken. Der arbeitete mit Mitteln, die ich bis dahin noch nicht gekannt hatte, vor allem mit Spiegeln. Spiegel haben viele Bedeutungen. Sie sind die Metapher – im filmischen Sinne – für Identität bzw. die Suche nach Identität. Bild und Abbild. Die Art und Weise, wie der Kameramann die Spiegel einsetzte, faszinierte mich. In „Ein Blick und die Liebe bricht aus“ werden die Räume mit Hilfe der Spiegel neu geschaffen.

ER: Ich finde es hoch interessant – du hast mir die Geschichte ja schon einmal mehr oder weniger ähnlich erzählt -, dass dieses Technisch- Künstlerische für dich eine so riesige Rolle gespielt hat. Aber eigentlich ist es immer so: Wenn man etwas macht, muss man letztlich mit Werkzeugen arbeiten und mit Methoden. Aber ich denke überhaupt nicht an die Spiegel, wenn ich diesen Film sehe, ich denke nur daran, dass es für mich der klassische Film einer geronnenen Distanz ist. Dieser Film ist überwältigend. Er ist einerseits ganz böse, böse gegen die Menschen, und zwar nicht nur gegen die Männer, die beiden Geschlechter sind vollkommen gleichberechtigt, wie sie ihre Kämpfe gegeneinander und miteinander führen. Die Frauen sind um keinen Deut besser – wenn ich mal die Indianerin ausnehme, die sozial deklassiert ist und infolgedessen wirklich Opfer ist. Die anderen Frauen sind keine Opfer, sie sind im Gegenteil sogar die besseren Kämpferinnen, weil ja die Männer eigentlich Nichtse sind, die aber nun einmal die Macht haben. Die Frauen müssen kraft ihrer Persönlichkeit gegen sie kämpfen. Das sind harte Kämpfe, und man hat das Gefühl, dass zwischen Männern und Frauen eigentlich alles verloren ist. Aber es ist so schön! Es ist so wunderbar dargestellt – Bild, Musik, Tänze, die Bewegungen, und ich finde, dass diese Schönheit alles auch wieder menschlich macht. Schönheit ist ja auch ein Moment der Menschlichkeit. Man hat das Gefühl: Dieser Film ist eine Bilanz. Mit diesen Leuten, Männern und Frauen, hast du nichts mehr zu tun. Da ist jetzt das endgültige Urteil gesprochen. Aber Deine nächsten Filme beweisen ja, dass das nicht stimmt.

JB: Es gibt eine Ähnlichkeit zwischen „Tue recht und scheue niemand“ und „Ein Blick – und die Liebe bricht aus“. Nachdem das Leben in „Tue recht… “ erzählt ist, sitzt meine Mutter neben meinem Vater auf dem Sofa und sagt: „Ich würde nie mehr heiraten“ – und dann merkt sie, dass ihr Ehemann neben ihr sitzt – und sie hält ein und sagt: „Ja, man sagt manchmal so Dinge.“ Und danach beginnt der von Josef Schmitt gesungene Schlager: ‘Es wird im Leben Dir mehr genommen als gegeben‘. Und dann sagt sie auf dem dunklen Abspann: „Nächstes Jahr wollen wir den Speicher ausbauen für ein Gästezimmer, und dann kaufen wir uns auch ein neues Schlafzimmer, und mein Traum ist ein Französisches Bett.“ Der uneingelöste Wunsch bleibt hängen. In „Ein Blick – und die Liebe bricht aus“ sind die Machtkämpfe erledigt, die Frauen stehen frierend draußen, es nieselt, sie sind unzureichend bekleidet, haben zum Teil Unterröcke an, zum Teil Männer-Sakkos. Und dann geht unten dieser Tango weiter, und dieser Tango ist trotz allem ein Versprechen. Es funktioniert nicht mehr so, wie es in dem Haus funktioniert hat, die Bewegungen und die Rhythmen stimmen nicht mehr überein, es läuft alles auseinander, gegeneinander, aber dann – mit einem Schwenk über diesen Hof – gibt es noch einmal eine Geige, die eine Melodie so sehnsüchtig drüberzieht….

ER:…. und es tanzen alte Leute, eine alte Frau und ein alter Mann, und es ist ganz rührend, für mich jedenfalls, die ich sentimental bin. Insofern stimmt das auch nicht ganz, was ich über die Härte dieses Films gesagt habe.

JB: Es gibt diesen offenen Schluss. Und dieser Hof, in dem getanzt wird, wirkt wie ein Gefängnishof, auf der einen Seite wird er begrenzt durch ein unfertiges Haus. Davon findest du ja sehr viele in diesen Ländern. Auch dieses unfertige Haus ist natürlich eine Metapher. Es wird weiter daran gebaut. Jede Generation baut an diesem Haus weiter und wir wissen noch nicht, wie die zukünftige Form aussehen wird, die die Liebe – wenn man die Liebe als ein Haus betrachtet – dann haben wird. Wir wissen es nicht. Wir sind im Moment alle ziemlich ratlos. Aber auch ich baue weiter. Der Film hat übrigens hier auf dem Festival in Berlin, ziemliche Aggressionen ausgelöst.

ER: Warum Aggressionen?

JB: Den Film kann man sicherlich auf verschiedene Arten und Weisen „lesen“, aber man muss ihn lesen, weil er eine hermetische Ästhetik hat. Als der Film herauskam, war eine jüngere Frauen-Generation da, die andere Bedürfnisse hatte und wieder romantische Liebesgeschichten sehen wollte. Es war die erste Generation der Töchter der Frauen, die sich ‘68 in der Frauenbewegung engagiert hatten, und diese Töchter wollten Genrefilme sehen. Sie interessierten sich für das, was Hollywood ja wirklich kann, und nicht für Filme, die immer noch auf die eine oder andere Weise das ernst nahmen, was einmal in der Feministischen Filmtheorie mit großer Leidenschaft diskutiert worden ist: Frauenfilm als Gegenfilm! Und sie wollten Liebesgeschichten sehen und nicht Befreiungsgeschichten. Und bitte nicht solche komplizierte Ästhetik, die man sowieso nicht versteht, und außerdem bitte nicht solche Inhalte, wie ich sie da gezeigt habe. Der Film besteht aus sieben Geschichten, er geht von der Hochzeitsnacht bis zur Scheidung. Aber es sind jeweils andere Frauen. Es sind also sieben in sich abgeschlossene Mini-Geschichten. Im übrigen ist es ein Tango-Film, es gibt fast keinen Dialog, nur ganz wenige asynchrone Sätze, die – wenn du so willst – durch den Raum fliegen, und es gibt einen Brief an die Liebe, der von einer Stimme gesprochen wird, die man nicht identifizieren kann, und der in der Tradition der schwarzen Romantik geschrieben ist. Und diese jungen Zuschauerinnen, die gerade die Liebe, die Verliebtheit entdeckt hatten, waren wütend, dass ich zeigte, wie kompliziert, schwierig, auch wie trostlos und destruktiv Liebe sein kann. Sie wollten sich identifizieren, und das gestattet ihnen der Film nicht. Das erlaubt diese Art von Ästhetik nicht.

ER: Das Wechselbad zwischen Identifizierung und Distanzierung scheint mir typisch für dich zu sein. Eine einfache Identifizierung gibt es schon in „Hungerjahre“ nicht. Man ist oft verwundert über die Reaktionen des Mädchens.

JB: Inzwischen haben sich die Aggressionen gelegt. Neulich war ich mit diesem Film in Köln auf einem Tanzfilm-Festival, und da sagte mir jemand so ganz nebenbei: „Wir haben das alte Werbematerial übernommen, haben nichts Neues gemacht, schließlich ist das inzwischen ein moderner Klassiker.“ Natürlich habe ich mich gefreut. Schließlich hatte es viele Buhrufe gegeben, als man mir im Delphi den ‘Spielfilmpreis der deutschen Filmkritik’ dafür überreicht hat.

ER: Du hast beschrieben, wie, in gewisser Weise zufällig, dieser Film entstanden ist. Aber auf der anderen Seite hat er in seiner Konsequenz, in diesem Zusammenspiel aller Elemente der Form – Geräusche, Musik, Gestus etc.­–, die ganz hermetisch, klassisch zusammengefasst ist, sehr viel mit dir zu tun. Bestimmt hat es auch damit etwas zu tun, dass du versuchst, die Dinge erst einmal bis zu einer bestimmten Konsequenz zu denken.

JB: Ja, das tue ich tatsächlich. Aber ich arbeite immer gedanklich und instinktiv gleichzeitig.
Und wenn ich mir dann eine neue Plattform erarbeitet habe, dann springe ich ins Material und lasse mich treiben. Ich habe dann meinen geistigen Kompass. Den muss ich immer über Begriffe, Reflexionen, Anschauungen entwickeln. Wenn ich dann das geistige Rüstzeug habe, falle ich hemmungslos in die Phänomenologie der Dinge, der Bilder, der Ereignisse, was auch immer. Dann weiß ich, dass ich dabei nicht verloren gehe. Ich glaube, das ist sehr typisch für meine Arbeitsweise. Insofern ist es bei mir immer ein Hin und Her zwischen dem Verlorensein an die Schönheit des Materials und dem neuen Erarbeiten der Zusammenhänge, die mir gestatten, meinem Ziel entgegen zu rudern, trotz der Überfülle an Material.

ER: Wunderbar, wenn sich das immer so fügt. Manchmal ist das ja auch sehr mühsam.

J.B. Es ist immer mühsam. Es ist kein Arbeitsplan, den ich mir jeden Tag von neuem einpauke. Alles entwickelt sich aus einem Bedürfnis. Ich merke es in bestimmten Momenten: Da steigt das Bedürfnis, wieder zu lesen. Und in anderen Momenten kann ich kein Buch mehr sehen. Dann beschäftige ich mich nur mit Bildern. Dann geht nichts anderes. Insofern ergänzen sich diese beiden Bedürfnisse bei mir.

ER: Ich hatte gedacht, dass diese zweite Etappe, in der es nicht mehr direkt um dich persönlich geht, von dir bewusst gewählt wurde: also etwas Historisches – die Rahel Varnhagen, oder etwas weit Entferntes, räumlich und auch zeitlich, wie etwa Buenos Aires, und dann die Brecht-Sachen, die ja schon mit „Lieben Sie Brecht?“ angefangen haben und immer weitergehen, ich dachte einfach, dass es für dich – da du ja nach wie vor Autorenfilmerin bist, also immer wesentlich über dich erzählst – vielleicht wichtig war, – auch um zu dieser neuen Professionalität und zu einer anderen Art des Filmemachens zu kommen,- dich von fremdartigem Material anziehen oder abstoßen zu lassen. Aber vielleicht ist es doch eher zufällig?

JB: Nein, wenig ist bei mir zufällig. Ich greife in dem Moment, in dem mir ein Zufall entgegenkommt, ihn sofort auf, wenn er notwendig in mein Konzept passt. Aber das Konzept ist vorher da.

ER: Die nicht gemachten Filme sind ja genau so wichtig wie die gemachten: Rahel Lewin, Marieluise Fleißer, Margarete Steffin – und dann könnte man ja auch noch Ingeborg Bachmann dazurechnen.

JB: Ja, das ist eine Kette, und in dieser Kette geht es um das, was ich immer hatte tun wollen: um das Schreiben. Ich habe immer schreiben wollen, bevor ich Filme gemacht habe. Dieser verdrängte Wunsch ist mir geblieben – ich habe dann Essays geschrieben, aber das war etwas anderes. Ich hatte einen Roman angefangen, bevor ich meinen ersten Film gemacht habe. Aber ich konnte mich nicht von innen nach außen ausdrücken. Ich konnte mich nur von außen registrieren. Ich musste wahrscheinlich auch den Blick von außen aus Gründen wählen, die etwas mit einer Grausamkeit mir selbst gegenüber zu tun hatten. Das sind verschiedene Ebenen, die da zusammenkommen.

ER: Aber in den späteren Sachen, etwa dem Rahel-Lewin-Film, hat sich das verändert.

JB: Da hat es sich verändert. Ich bin dann Stück für Stück herangekommen an – wenn du so willst – die Dramatik eines leidvollen Prozesses, aber eben nur über andere Personen. Wie weit das heute inzwischen autobiografisch möglich wäre, weiß ich nicht. Ich glaube, dass heute jede Form von nicht-dokumentarischem Zugriff auf mich selbst als autobiografischem Material lakonisch wäre, aber sentimental-lakonisch. Die Dramatik ist wahrscheinlich etwas, was man nur mit einer Kunstfigur kann. In die kann natürlich ganz viel Eigenes einfließen – das ist schon klar.

ER: Ich war immer ziemlich sicher, dass deine Filmarbeit viel mit der Frauenbewegung der Bundesrepublik zu tun hat, von ihr in gewisser Weise mit geprägt ist. Aber wenn ich dich jetzt höre, scheint es mir bei dir ein weitestgehender individueller Prozess zu sein. Ich habe sogar das Gefühl, dass es für dich ziemlich egal sein könnte, wie sich die Frauenbewegung um dich herum darstellt.

JB: Ich habe nie Filme für die Frauenbewegung gemacht oder politische Filme in dem engeren Sinne, dass am Schluss irgendwelche Fahnen flatterten oder Erkenntnisse ausgesprochen wurden. Aber ich habe zusammen mit der Frauenbewegung bestimmte emotionale und intellektuelle Kurven erlebt. Das war zunächst der Moment einer Befreiung, die sehr viel mit sich befreienden Aggressionen zu tun hatte gegen diese unverschämten Männer, die glaubten, ein Recht auf alles zu haben und die anderen Lebens- und Erkenntnisformen von Frauen gar nicht wahrnahmen. Durch eine neue Generation von jungen Frauen, die dieselben Bedürfnisse haben, die jede junge Generation hat, nach Liebe und Verliebtheit, nach Glück und Hoffnung, verbunden mit der festen Überzeugung, dass sie es so viel besser machen wird als die Generation vorher, ist etwas sehr Irritierendes, aber auch sehr Heilsames in die Emanzipationsbewegung der ‘68 hereingekommen. Zwar hat diese junge Generation auch etwas sehr Naives, denn sie ist sich nicht im Klaren, dass alles, was sie als Ergebnisse des emanzipativen Kampfes als gegeben nimmt, leicht wieder annulliert werden kann, andererseits hat sie aber auch meiner Generation klargemacht, dass unser Emanzipationsmodell ahistorisch war, weil es unsere Erfahrungen absolut gesetzt hat, ohne daran zu denken, dass Lebensalter und biologische Kurven immer auch den Punkt, von dem aus wir diskutiert haben, entscheidend bestimmt haben. Ich denke, es ist der Moment gekommen, wo einige sehr wichtige Positionen der Frauenbewegung in der alten Bundesrepublik von den Frauen heute neu diskutiert werden müssen. Denn über die große Rolle, die Erfahrung für Emanzipation spielen kann und muss, konnten wir ‘68 nichts aussagen. Wir verstanden uns als jung und revolutionär. Erfahrung ist keine revolutionäre Kategorie.

ER: Und welche Erfahrung wäre das?

JB: Die Erfahrung zum Beispiel, dass nicht alles, was Mütter und Tanten und Großmütter an Lebensweisheiten überliefert haben, Zeugnisse von Sklavendasein waren, sondern oft Beweise von Klugheit, die wusste, dass Menschen Prozesse durchlaufen, dass Geschichte kein feministisches Heilsgeschehen ist, dass Individualität, so wie die Emanzipationsbewegung sie definiert hat, mit einem Menschenbild verbunden ist, das aggressive Autonomie über alles stellt; dass Glücksvorstellungen unideologisch sind und jeder Ideologie trotzen….

ER: Euer Emanzipationsbegriff war für uns in der DDR ein wenig Furcht einflößend.
JB: Ihr habt es – eine bestimmte Zeit lang – sicherlich besser gehabt, weil Gleichberechtigung bei euch von Staats wegen erlaubt, offiziell propagiert wurde. Wir mussten alles für uns erfinden, erst einmal gegen die Familie, gegen die Gesellschaft, gegen den Staat. Da wird man notwendigerweise immer extrem und zum Schluss sogar destruktiv gegen sich selbst. Aber das hat auch zu kulturphilosophischen Erkenntnissen geführt, die, jenseits politischer Forderungen, auch heute noch ganz wichtig sind.

ER: Die bundesdeutsche Frauenbewegung war mir fremd. Sie war für mein Leben nicht von dringender Wichtigkeit, obwohl ich sogar in meinem Umfeld in der DDR genügend Dinge sah, die eure Forderungen und eure Haltungen als berechtigt bestätigten und als notwendig erscheinen ließen, aber die Bewegung als solche, vielleicht waren es auch mehr einige ihrer Vertreterinnen, war mir unheimlich. Aber was du heute erzählst, finde ich hochinteressant, und ich beginne, manches zu begreifen.

JB: Ich glaube, das Furcht einflößende kann sein, dass Emanzipation, die so sehr auf Autonomie setzt, wie wir das getan haben, sowohl alles leisten will, als auch alles beansprucht und deshalb für den anderen gar keinen Platz mehr hat. Und ihr Elend liegt dann darin – die Erfahrung haben viele Frauen gemacht -, dass sie den anderen dennoch braucht. Der kann aber dann nicht mehr sein als nur der Körper im Raum. Ich glaube, ihr habt viel von einer oft platten Emanzipationsrhetorik mitbekommen und wenig von dem, was inzwischen an Universitäten als Feministische Wissenschaft betrieben wird und zu aufregenden und wichtigen Erkenntnissen führt. Die Emanzipation ist ja nicht nur ein privater Prozess, der gelingt, oder auch nicht, und insofern auch politisch ist, weil ja das „Private das Politische ist“, wie wir damals gesagt haben. Der Feminismus hat auch die Paradigmen von Erkenntnis verändert. Dass zum Beispiel Filmtheorie generell ohne Feministische Filmtheorie und ihre Überlegungen, die den Blick betreffen, gar nicht zu denken ist, wird zwar in den USA überall anerkannt, stößt bei uns aber auf Unverständnis. Deutschland hinkt bei allem, was die Frauen angeht, aus historischen Gründen weit hinterher. Oder wenn zum Beispiel feministische Wissenschaftlerinnen bei den Grundlagen unserer Kultur, im griechischen Denken, nachforschen, warum die Frau immer als Gefäß angesehen wurde, das nicht produktiv ist, sondern nur reproduktiv, eben Behälter, in den man etwas hineintun muss, was ja alles die weitestreichenden Konsequenzen für jeden Aspekt unseres Lebens hat, fängt es an, wichtig und aufregend zu werden für alle. Und wenn man das alles einbezieht, muss ich sagen, dass ich der Frauenbewegung nicht nur viel verdanke, sondern dass ich mir auch mein Leben ohne sie gar nicht vorstellen könnte. Aber gerade sie hat mir dazu verholfen, zu sehen, dass das, was mich angetrieben hat, sowohl in den Formen von Erkenntnis wie in denen von Ästhetik, die Auseinandersetzung mit der Figur der Mutter war, die der Kern des Patriarchats ist. Und da heute diese Figur ihre beherrschende Macht verliert durch die neuen Gen- und Reproduktionstechnologien, muss man alle Geschichten, die zeigen, was es war, was es noch ist und bald nicht mehr sein wird, erzählen.

ER: Du hast mir erzählt, dass du „Kolossale Liebe“ noch einmal überarbeiten möchtest, ein drittes Mal. Warum? Das hast du mit keinem anderen Deiner Filme gemacht.

JB: Margarete von Trotta hat mir einmal gesagt: „Jeder von uns hat ja seinen Film, es ist nicht immer der beste, aber es ist der, der einem am nächsten ist.“ Bei ihr ist es „Schwestern“. Ich war natürlich immer der Meinung, dass es bei mir „Hungerjahre“ sei, und sie sagte, bei dir ist es die „Kolossale Liebe“. Offensichtlich hat sich das für sie so vermittelt. Nun ist ja mein gesamtes Werk autobiographisch, aber es stimmt schon, dass „Kolossale Liebe“ der Film ist, der für mich noch offen ist. Ich trete immer wieder neu in ihn ein. Auf diese Weise variiere ich den Satz, der zu Beginn gesprochen wird: „In einen Toten tritt man ein wie in eine offene Stadt.“

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