Tue Recht und scheue niemand
von Jutta Brückner

„Tue recht und scheue niemand.“
Dokumentation eines Fotofilms und Filmscript.

Ich schreibe hier über einen Film, den ich 1975 gemacht habe, der nur aus Fotos besteht, aber kein Essay oder Feature ist, sondern eine Geschichte erzählt, wie es ein Spielfilm tut. Er zeigt das Leben einer Kleinbürgerin, die – 1975 war sie 60 Jahre alt – ihr Leben bis zu einem sehr späten Zeitpunkt als unreflektiertes Durchschnittsschicksal erlebt und erst sehr spät beginnt, über sich nachzudenken. Mein Versuch war, das Leben dieser Frau nicht als individuelles Schicksal zu zeigen, eine Ansammlung von Glück oder Pech, sondern als Teil eines historischen Prozesses, der 55 Jahre deutscher Geschichte, die wir kennen. Das Einzelschicksal dieser Frau war mir genauso wichtig wie die Verhaltensweisen, Träume, Sehnsüchte, Ängste einer ganzen Schicht, der kleinstädtisch-bäuerlichen Kleinbürger, aus denen es sich letzten Endes nur erklärt. Der Prozess der Individuation als Wechselspiel von Historie und Biografie.

Ein solches Unternehmen, Persönliches und Historisches, Individuelles und Kollektives miteinander zu verbinden, ist ja nicht neu. Jüngstes umstrittenes Beispiel ist „1900“. Gewöhnlich wird dies im Spielfilm so gelöst, dass eine Inszenierung mit Schauspielern sich die Detailkenntnisse der sozialen Phänomenologie über historische Fotos aneignet und dann mit Maske, Bauten, Requisiten und Kostümen versucht, ein Abbild zu schaffen. Die Verbindung eines historisch-realistischen Ambiente mit einer idealistischen Dramaturgie schafft unseren Abstand zum Film aber nicht als historischen, sondern als den zwischen Bühne und Parkett, Realität und Fiktion. Geschichte wird dabei zum historischen Drama oder zum persönlichen Drama vor historischen Kulissen. Die Alltäglichkeit des Vorgangs, falls sie überhaupt beabsichtigt war, geht dabei verloren. Das Einzelschicksal muss zum Träger paradigmatischer Inhalte überhöht werden, zum Träger von Allgemeinem: der Held (bürgerlicher, antibürgerlicher, sozialistischer).
Durch den Einsatz von Fotos (Fotos aus Familienalben, fotografischen Sammlungen, Vereinsarchiven, Fotos von August Sander, Fotos aus Illustrierten und Katalogen und Agenturtotos) wollte ich der Falle, dass Alltägliches in dieser idealistischen Dramaturgie eine falsche Bedeutsamkeit bekommt, entgehen. Das Einzelne stand als solches in der Reihung des identisch Ähnlichen: ein Famlienfoto von Gerda Siepenbrink in einer Reihe bürgerlicher Familienfotos, wie sie damals üblich waren, ein Fest in einer Reihe von Festbildern, ihre bäuerliche Verwandschaft, nicht identifizierbar als Familie Siepenbrink dargestellt durch Bauern, andere Bauern, noch andere Bauern aus der Sammlung von August Sander. Individualität und Kollektivität konnten nebeneinanderstehen, ohne dass das eine das andere ausgelöscht hätte. Durch die Reihung verschiedener Individualitäten erschien das Kollektiv zusammengesetzt aus Individualitäten und die Individualitäten als Teile eines Kollektivs, ohne dass einem von ihnen das Paradigmatische in die Schuhe geschoben werden musste. Das Allgemeine musste sich nicht im Einzelnen verkörpern und das Einzelne nicht zum Träger von Allgemeinem erhöht werden. So konnte ich zeigen, dass Gerda, die mit 7 Jahren ihren Vater verlor, mit besonderen Schwierigkeiten konfrontiert wurde, ohne dass dadurch ihre Erfahrungen nicht mehr Klassenerfahrungen gewesen wären. In den gleichartigen Fotodokumenten erscheint das Ähnliche ebenso wie der Unterschied.

Dieses Prinzip erschien mir gültig auch dort, wo Gerda, die sehr spät beginnt, sich mit sich selbst zu beschäftigen, als Identität in den Fotos des letzten Filmdrittels auftaucht, Fotos, die ich mit ihr speziell für den Film gemacht habe. Ich habe mir den Übergang zum bewegten Bild versagt, nicht nur um einer formalen Kontinuität zu entsprechen, quasi die Fotos der ersten beiden Drittel vor der mitleidigen Bemerkung in Schutz zu nehmen, sie hätten halt noch nicht „laufen können“, sondern auch aus grundsätzlichen Überlegungen, die sich aus der Geschichte ergaben. Solange Gerda für sich die Verhaltensweisen des „man“ akzeptiert, steht sie unerkennbar in der Menge der Fotos, und unsere Neugierde, wer sie denn wohl sei, wird nicht gestillt. Als sie beginnt, eine bewusste Identität zu entwickeln, tritt sie aus der Reihung des Ähnlichen heraus, aber nur, um gleich in eine andere Reihung einzugehen: die Reihung Ihrer selbst. Fotokomplexe bestimmter Situationen aus Gerdas Berufs- oder Privatleben montieren Fotos wie im Phasentrick: immer sie und doch von sich selbst getrennt, denn ihre neue Identität besteht nur darin, dass sie die alte Frage stellt. Denn: „Man kann mit 60 Jahren sich nicht wieder neu machen“.

Film, der sich derart der Fotografie bedient, hat Chancen, dass eine Dialektik in ihm aufgeht, die nicht vom Autor geplant ist, denn er verbindet die Selbstdarstellung der Epoche mit ihrer Interpretation von ihr. Im Gegensatz zum inszenierten Historienfilm liegt das Subversive hier nicht (nur) in der dramaturgischen Absicht des Regisseurs. Das Foto, das immermehr ist, als wir in ihm sehen und von ihm wissen, kann sich selbständig machen und die ihm aufgezwungene (richtige oder falsche) Interpretation sprengen. In Fotografien eine vergangene Zeit zum Sprechen zu bringen, heißt nicht einfach: ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sondern: unsere historische Position an ihr zu überprüfen. Inszenierte Historienfilme verfallen meistens der Gefahr, Rückprojektionen unseres eigenen Bewusstseins zu sein, des historischen wie auch des formalen Bewusstseins. Der Fotofilm integriert die Formen der optischen und gesellschaftlichen Ritualisierung, er entsteht aus den Partikeln des kollektiven Bewusstseins. Insofern habe ich in ihm auch einen Beitrag zum Versuch einer materialistischen Ästhetik gesehen.

TUE RECHT UND SCHEUE NIEMAND!
Filmscript

Du willst, dass ich Dir mein Leben erzähle, ich weiß aber gar nicht, warum Dich das interessiert. In meinem Leben gab es nichts Besonderes. Wenn ich heute darüber nachdenke, glaube ich, dass ich alles versäumt habe, was wichtig gewesen wäre. Wie man leben sollte, weiß man, wenn es vorbei ist.

[FOTO]
Gerdas Vater verunglückt tödlich, als sie 7 Jahrealt ist.

Die ganze Verwandtschaft aus dem Westerwald kam zur Beerdigung.
Das waren alles reiche Bauern. Die haben uns für ein Spottgeld das ganze schöne Land abgekauft, das mein Vater noch hatte von seinem Erbanteil her. Sie sagten meiner Mutter, dass sie damit nichts anfangen könne. Wer das Land nicht bebaut, der soll es auch nicht haben.

Ja, und von dem Geld, was meine Mutter von dem Land bekommen hatte, da kaufte sie eine Gruft erster Klasse für die ganze Familie. Das kann man heute gar nicht so erzählen. Aber sie hatte die Vorstellung gehabt, dass sie alle ihre Kinder zuerst begraben wollte und dann sie zum Schluss. Sie war so verzweifelt, dass sie nicht mehr wusste, was sie allein mit dem Leben machen sollte, und uns wollte sie ja das ganze Elend ersparen. Denn ihre Familie war ja ihr Heiligtum, und sie wollte uns betreuen und beschützen und dafür sorgen, dass ja nichts an uns drankommen würde.

[Off-Stimme]
Die Rechtsanwälte sagen:
Die Frau tut uns leid, aber die Unterstützungskasse des Werkes ist eine freiwillige, nicht einklagbare Leistung. Wenn das Werk nicht mehr zahlen will als den bewilligten Satz, gibt es keine gesetzliche Möglichkeit, es zu zwingen. Herr Pfarrer, wir glauben, das ist ein Fall für die kirchliche Armenfürsorge.

Der Pfarrer und die Presbyter sagen:
Gerade solche Frauen, die früher in guten Häusern gedient haben, heben sich vorteilhaft von der Rohheit des Charakters und der Sitten ab, die sonst in den unteren Klassen allgemein sind. Hier ist ein solcher Fall. Wir können nur lindernd eingreifen, wir bitten Sie, Herr Direktor, als Vertreter des Werks Ihren Standpunkt noch einmal zu überdenken.

Der Direktor sagt:
Ich wiirde durch Mildtätigkeit meine Arbeiter ermuntern, die Sicherheitsvorkehrungen genauso zu missachten wie Herr Siepenbrink es tat. Seine Frau sagt: Einmal in der Woche kann eines der Kinder zum Freitisch kommen und sich auch für die Geschwister in der Küche etwas einpacken lassen.

Nein, das wäre für unsere Mutter undenkbar gewesen, von der Wohlfahrt zu leben. Man hat ja früher auch eine ganz andere Einstellung zu Wohlfahrt und Fürsorge gehabt. Ich weiß aber noch, dass mein Bruder keinen Konfirmationsanzug hatte und der Pfarrer kam und wollte ihm einen Anzug von der Wohlfahrt besorgen. Das wäre für meine Mutter nie in Frage gekommen. Sie hat es dann doch geschafft, ihm einen Anzug zu kaufen, aber wie sie es geschafft hat, kann ich Dir nicht sagen. Wohlfahrt in Anspruch nehmen, das war damals schon so gut wie asozial. Sie meinte, wenn man erst einmal so weit gekommen ist, dann hat man sich aufgegeben.

Deswegen hat sie wohl auch so großen Wert auf Anstand und Sauberkeit gelegt. Wir Mädchen hatten nur ein gutes Kleid und das wurde jede Woche gewaschen und das dauerte immer einen
Tag. Und an dem Tag mussten wir in geflickten Sachen im Haus bleiben und durften uns nicht vor der Tür zeigen. Und das durften wir niemanden erzählen

Ja, ihre Kinder waren ihr Stolz und auf die Erziehung hat sie allergrößten Wert gelegt. Nun kam das aber auch, weil sie Erstmädchen gewesen war bei einem reichen Fabrikanten, und dadurch hat sie gute Manieren mitbekommen. Und so wollte sie auch ihre Kinder erziehen. Sie wollte wohlerzogene Kinder haben, die sich nicht schmutzig machten, ja, die immer schön leise waren und höflich, zurückhaltend und sehr gefällig. Und deswegen hat sie uns auch viel bei sich im Haushalt gehalten. Ja, manchmal hab ich schon die andern Kinder beneidet, wenn die draußen spielten.

Früher waren die Leute so genau. Was die Kinder machen durften, weiß ich nicht. Wir durften uns gar nichts erlauben.

[Off-Stimme]
Erst die Arbeit, dann das Vergnügen
Arbeit und Tugend sind der größte Reichtum.
Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert.
Abenteuer ist meist nicht geheuer.

[Kinderstimmen Off]
Unsere Mutter steht am Herd und kocht, unser Vater ist ein fleißiger Arbeiter. Am Sonntag gehen wir alle zusammen spazieren.
Unser Herr Lehrer hat mit uns unsere schöne Heimat durchwandert. Wir sind sehr dankbar.

Wir haben uns dann sehr zurückgezogen. Wir schämten uns, dass es uns so schlecht ging. Wir sahen das als eine Strafe an und deshalb wurden wir auch schweigsam, denn die anderen wollten uns ja doch nur aushorchen. Aber niemand sollte wissen, wie schlecht es uns ging, denn wir wollten ja geachtet sein. Meine Mutter sagte immer: „Bleib gern allein, halt Dich wohl und rein, willst Du geachtet sein“. Du kannst Dir nicht vorstellen, was es damals für eine Frau bedeutete, keinen Mann mehr zu haben. Sie war plötzlich ausgesperrt.

Als ich in die Lehre kam, ging es uns schon besser. Das war aber schon 1931. Meine Lehrstelle war aber in einer anderen Stadt, und jetzt musste ich jeden Tag mit dem Zug fahren und einmal umsteigen. Kurz vor 8 war ich dann im Ort und bin dann in den Wartesaal 3. Klasse gegangen und hab‘ mich seitlich auf eine Bank gesetzt. Der Ober ließ mich in Frieden, der wusste, dass ich hier nichts verzehrte. Da saßen viele Mädchen, die aus anderen Orten kamen und die noch nicht in ihr Geschäft oder Büro konnten. Und ich holte sofort meine Handarbeit heraus. Ich konnte nicht eine Minute müßig sitzen. Von eins bis drei hatten wir Mittagpause, und weil ich nicht nach Hause fahren konnte, setzte ich mich wieder in den Bahnhof, in den Wartesaal oder auf eine Bank und dann aß ich aus einem Henkelmann. Und wenn ich fertig war, hab ich wieder meine Handarbeit herausgeholt. Dann habe ich die Reisenden und die Züge beobachtet. Die Herrschaften, wie die ausgestiegen sind mit Koffern und Gepäckträger. Damals sagte man ja noch Herrschaften. Da hab ich gesehen, wie sie zur See fuhren oder ins Gebirge. Da stieg doch manchmal der Rochus in mir hoch, und ich dachte: Warum Du nicht? Warum musst Du hier Dein Leben auf Bahnhöfen verbringen und so mühsam Dein Geld verdienen?

Dass es vielen Leuten damals schlecht ging, davon haben wir nicht viel gemerkt. Mein Bruder war arbeitslos, aber wir Mädchen haben gut verdient. Wir waren ja so übereifrig und taten immer mehr, als wir mussten, dass niemand daran dachte, uns zu kündigen. Damals fingen wir an anzuschaffen: einen Teppich und eine schöne Stehlampe und einen schönen Wohnzimmerschrank. Und damals haben wir uns alle neu eingekleidet. Wir waren ja geschickt und konnten nähen. Und die Stoffe bekamen wir ja billiger über Provision, denn meine eine Schwester war Tagesnäherin und ging mit den Stoffkollektionen der großen Versandhäuser zu ihren Kunden.

Ja, mit Politik war bei uns gar nichts drin. Ich weiß aber noch, dass man damals überall hörte: Der Führer verspricht Arbeit und Brot. Und da ist mein Bruder, der arbeitslos war, auch in die SA gegangen, weil er dachte, dann kommt er schneller an Arbeit ran. Aber als er merkte, was da los war, ist er schnell wieder rausgegangen. Aber sonst hatten wir mit Politik gar nichts zu tun. Um uns herum wohnten viele SA-Leute und Nazis. Und meine Mutter war immer sehr vorsichtig. Wenn wir von jemandem wussten, dass er ein Nazi war, dann taten wir auch so, als ob wir welche wären, damit uns ja nichts Unangenehmes passieren konnte. Wir kümmerten uns gar nicht darum, was draußen passierte. Für uns war die Hauptsache, dass wir unser Geld verdienten und anschaffen konnten.

Wenn ich nicht arbeitete, war ich immer mit meiner Mutter zusammen. Theater gehen, Kino gehen, Wirtschaft gehen, Tanzen gehen, das gab es bei uns nicht. Aber nicht, weil wir kein Geld hatten, sondern weil ein anständiges Mädchen so lange bei der Mutter bleiben soll, wie es irgend möglich ist. Das hatte meine Mutter ja auch geschafft. Sie hatte eine so starke Willenskraft, dass wir nichts vermissten. Im Wintertag haben wir eigentlich immer dagesessen und gehandarbeitet. Wir waren immer beschäftigt. Meine Schwestern haben auch mal gelesen; ‚Ben Hur‘ weiß ich noch und ‚Quo Vadis‘. Lesen gab es ja für mich nicht. Und sonntags gingen wir mit unserer Mutter spazieren. Ich war eigentlich nie mit Kolleginnen zusammen aus, und deswegen hab ich ja in dem Sinne gar keine Jugend gehabt. Weil wir nicht wussten, wie es war, haben wir es damals nicht vermisst. Heute denkt man schon mal, wie alles gewesen wäre, wenn wir die Möglichkeit gehabt hätten, anders zu leben.

Drittes Reich?

Mein Trachten ging dahin, ich wollte einen Angestellten heiraten. Ich hab zwar nie ans Heiraten gedacht, mein Beruf machte mir große Freude. Aber wenn ich mal heiraten würde, dann nur einen Angestellten. Arbeiter kamen für mich nicht in Frage. Das lag auch daran, dass ich damals glaubte, der Mann muss geistig hochstehen, viel, viel höher als die Frau. Sie muss zu ihm aufblicken können, und er muss die geistige Verantwortung haben. Und natürlich hat auch eine Rolle gespielt, dass Arbeiter sich die Hände schmutzig machen, und dann hatte ich die Vorstellung, sie sind rau und hart und laut und machen zweifelhafte Andeutungen. Und solche Männer konnte ich ja überhaupt nicht leiden. Wenn solch einer kam und mich bloß an der Schulter antippte, dann machte ich mich so steif und war so abweisend und stellte mich einfach so gerade hin, dass niemand es wagte, mich anzurühren. Und ich hatte direkt eine Angst und Scheu vor Männern, dass die irgendwie was gewollt hätten. Aber was die wollten, das wusste ich ja nicht. Ich hatte Angst, die würden irgendwie mir gegenüber unanständig werden.

Auch Georg hat sich schließlich nur mit mir treffen können, weil der Angestellter war, französisch sprach und dann war er Buchhalter und das war in meinen Augen ein hervorragender Beruf.

Ja, ich überleg‘ mal, wann war das. Ja, das kann gewesen sein, das war vor Kriegsausbruch 1939. Da hat Georg mich mitgenommen zum Rhein hin, denn alle seine Freunde waren arbeitslos und wenn sie gestempelt hatten, dann gingen sie wieder dorthin, da hatten sie ein Zeltlager und verbrachten da den ganzen Tag. Aber das hat mir nicht gefallen. Das war so ein richtiges Lotterleben. Sie waren zwar alle sehr nett, aber das Leben und Treiben, das missfiel mir. Ja, ich hab einfach alles mitgemacht. Ich hab mitgelacht, auch wenn ich die Sachen nicht verstanden habe. Aber hinterher hab’ ich doch zu Georg gesagt: Du, da geh ich nicht mehr mit.

[Doku: Schneider erzählt einen Witz, um zu sehen, ob Gerdaa sich schämt.]

Wir haben dann sehr schnell geheiratet und ein Jahr später, da haben wir eine sehr schöne Neubauwohnung bekommen. Wir haben ein Schlafzimmer gekauft, aus Rüster, und die Küche, das war eine Wohnküche, aus Nussbaum. Wunderschön auch. Aber die Wohnung, das war mein ganzer Stolz. Ja, und dann ein Jahr später, da kam die Ursula, und Georg und ich, wir haben uns wahnsinnig gefreut, denn wir wollten beide so gern ein Mädchen haben. Und dann waren wir so richtig eine glückliche Familie.

Ich wollte immer bei einem Kind bleiben, denn das Kind, das sollte alles haben, ich wollte ihr alles mitgeben, was man ihr nur mitgeben konnte. Sie sollte nichts entbehren. Nur nicht, dass sie uns später mal sagen könnte, ich habe ja was vermisst. Und vor allen Dingen sollte sie mal einen guten Beruf erlernen. Ich hatte ja davon geträumt, das sie mal Studienrätin werden sollte. Da hat man ein gutes Einkommen, ist auch ganz unabhängig. Gott, und man ist auch gar nicht darauf angewiesen zu heiraten.

Da ich ein Kleinkind hatte, wurde ich nicht kriegsdienstverpflichtet, denn viele Frauen wurden ja dorthin verpflichtet und ich glaub’ in Munitionsfabriken und Nachrichtendienst und Nachrichtenfront und wie sich das alles so nannte, weiß ich nicht. Hab ich mich auch gar nicht drum gekümmert. Und ich hatte das nicht nötig.

Im Mai 1946 kam Georg schon aus Gefangenschaft zurück. Ja, und dann kam das Schlimmste auf uns zu, das war der Hunger und das Frieren. Dann kam ich auf den Gedanken, ein Atelier in unserer Wohnung aufzumachen. Denn viele Leute hatten ja noch die schöne weiche Wolle aus Frankreich, die ihre Männer ja mitgebracht hatten. Die Soldaten hatten ja ganz Frankreich leergeräumt. Und nun wollten die Frau ja was aus dieser Wolle gestrickt haben. Das Geschäft florierte sehr gut, und jetzt konnte man wenigstens zum Schwarzmarkt gehen und die verteuerten Sachen kaufen, die Lebensmittelsachen. Da gab es Fleisch, Butter, Öl, Mehl, nur musste man es für teures Geld bezahlen. Als die Währungsreform kam, da war am nächsten Tag alles im Geschäft mit Waren gespickt. Jetzt hatten wir das Schlimmste überstanden. Gott und ich dachte so, jetzt gehts bergauf. Man hatte einen solchen Nachholbedarf. Ach Gott, ich hätte so gern ein neues Wohnzimmer gehabt und neue Betten, denn die alten hatten im Krieg sehr gelitten. Und dann auch, ich wäre gern mal in Urlaub gefahren.
Ja, Georg war ja Buchhalter bei einer Zeitung, da konnte man keine großen Sprünge machen. Aber deswegen hab ich dann als Verkäuferin im Kaufhaus angefangen.

Freut Euch des Lebens, solange das Lämpchen noch glüht, pflücket die Rose, eh sie verblüht.

Das war nun doch viel Arbeit, der Beruf und der Haushalt; denn ich bin ja sehr ordentlich und ich wollte auch meinen Haushalt nicht verkommen lassen. Das Geld, was ich dann verdiente, davon haben wir uns angeschafft und dann haben wir uns auch ein gebrauchtes Auto gekauft. Damit sind wir jeden Sonntag rausgefahren.
Ja, was ich mir im Stillen vorgenommen hatte, aber mit Georg konnte ich ja darüber nicht reden, ich wollte so schrecklich gern ein Haus haben. Georg wollte ja absolut nicht. Aber ich habe ihm solange zugesetzt, bis er einverstanden war. Und dann sind wir in eine Bausparkasse gegangen. Wir hatten überhaupt kein Eigenkapital und die Häuser, die ich im Auge hatte, die waren ja alle zu teuer. Wir haben lange gesucht und sehr spät fanden wir Reihenhäuser. Da war allerdings die Baufirma pleitegegangen, und die Häuser waren schon fast verwahrlost und auch nicht ganz fertiggestellt. Das war weit draußen vor der Stadt. Dann haben wir doch das Haus mit viel Arbeit und Mühe langsam so hergerichtet, wie wir es uns vorgestellt hatten.

Jetzt muss Gerda wieder jeden Morgen mit dem Zug zur Arbeit fahren und einmal umsteigen.

Manchmal, wie ich so auf dem Bahnsteig saß und auf den Anschluss wartete, habe ich so überlegt, dass ich einen großen Teil meines Lebens auf Bahnhöfen gesessen habe, in Zügen und Wartesälen. Dann dachte ich: „Du bist an deinem Elend selbst schuld“.

Deshalb beißt Gerda die Zähne zusammen, denn in 7 Jahren ist das Gröbste abbezahlt.

Als ich dann in Georgs Jackentasche das Foto mit der Widmung fand, bin ich völlig durchgedreht. Ich konnte einfach nicht verstehen, dass man sich aufopfert, ein Leben lang und das ist der Dank dafür. Aber das gab den letzten Anstoß, ich fühlte mich ja so gedemütigt. Aber ich war mir ja mein Leben lang minderwertig vorgekommen, weil ich nicht das Wissen hatte wie andere. Das war auch der Grund, dass ich mich dann um die Stelle in der Bibliothek beworben habe. Natürlich wollte ich mich auch an Georg rächen. Ich wollte ihm zeigen, was er an mir hatte.

Gerda gibt sich große Mühe, alle wissenschaftlichen Bezeichnungen zu begreifen. Ihre Mühe wird belohnt, Sie wird befördert. Sie darf für ihren Chef, der an seiner Habilitation sitzt, bibliografieren. Ihr Chef hat gesagt, sie könne es während der Arbeitsstunden machen. Aber Gerda arbeitet auch Samstags, ohne dass er das weiß. Ihre größte Freude ist es, dass ihr im Vorwort gedankt wird.

Gerda wird noch einmal befördert. Sie darf jetzt hinter einem Schreibtisch sitzen.

Gerda diskutiert mit ihrem Chef, Professor Wernicke, über den Marxismus.

„Man ist ja dumm gehalten worden. Man hat das ja auch alles nicht gewusst, dass es die verschiedenen Klassen von Menschen gibt. Aber meine Mutter hat ja immer schon zu uns gesagt: Hast Du was, dann bist Du was! Aber, ach Gott, es ist ja auch klar, dass die oben kein Interesse daran haben, dass wir darüber etwas lernten, was es so mit den Produktmitteln auf sich hat. Wissen bringt Macht, wie schon der Volksmund richtig sagt. Ich persönlich hab das ja am eigenen Leib schon erfahren, wie das ist, wenn man in der Entfremdung arbeitet. Man schafft und schafft, und doch ist alles sinnlos.

[Off-Stimme]
Prof. Wernicke fragt: Meinen Sie das ökonomisch oder psychologisch?

Ja, ich meine, was brauchen so viele Leute so große Bungalows und Autos? Da kommt doch nur der Neid auf. Und der Neid und Klatsch bringt doch alles Elend in die Welt. Wenn der Staat daherkäme, – bei uns geht das ja nicht, weil wir nur ein kleines Einfamilienhaus haben und mein Mann braucht sein Arbeitszimmer – aber wenn nun das Haus größer wäre und da käme der Staat und würde sagen. „Hier setzen wir nun noch jemand rein“ – dann würde ich sofort sagen: „Selbstverständlich!“ Das muss dann eben so ausgebaut werden, dass man sich nicht belästigt fühlt. Und mit dem Treppenputzen, da muss man sich eben einigen.
Man hat ein Recht auf das, was man sich erarbeitet hat. Denn wenn der Mensch was leistet, will er ja auch belohnt werden. Aber mehr muss gar nicht sein. Wenn alle, die sich Herrschaften schimpfen, sich mal ihre Hände schmutzig gemacht hätten, wäre es mit dem Hochmut schnell vorbei, und dann würde denen auch ein Licht aufgehen.“

[Off-Stimme]
Prof. Wernicke will schon seit einiger Zeit das Zimmer verlassen. Er sagt in der Tür: Aber Sie sind doch nicht etwa Maoistin?

Nein, ich lass mir heute nichts mehr sagen. Deswegen hab‘ ich auch damals mitdemonstriert gegen die Notstandsgesetze. Mein Gott, hab‘ ich eine Angst gehabt. Wenn eine Kollegin nicht mit dabei gewesen wäre, wär ich bestimmt davongelaufen. Da hab ich mich ja doch geniert und bin weiter mitgegangen. Früher hab ich vor der Polizei immer Angst gehabt. Heute hasse ich die Polizei direkt. Die Polizei denkt ja auch nur ans Kontrollieren, Bestrafen und Zuschlagen. Und wenn jemand laut ist, dann bin ich stumm. Ich bin dann gehemmt und hab wahrscheinlich auch Angst, einfach. Deshalb hab ich auch mein ganzes Leben mich nicht durchsetzen können. Und wie andere Frauen das so machen mit Augenwackeln und Poschmeißen, das lehne ich ab. Ich wollte immer moralisch einwandfrei sein.

Ja, Moral, das war für mich immer die Nummer 1. Als Georg einmal böse war, hat er gesagt, ich sei verhärtet und intolerant. Vielleicht stimmt das sogar, aber man kann mit 60 Jahren sich nicht wieder neu machen; man kann sich nicht mehr ändern, man wird nur unzufrieden mit dem, was ist.

Man darf nicht aufhören zu lernen. Deswegen lese ich so viel. Aber nicht Bücher. Das Phantasierte interessiert mich nicht. Aber im Fernsehen die politischen Sendungen, Quizsendungen, Lembke: „Beruferaten“. Der hat so was Menschliches. Aber sonst interessiert mich nur Tagespolitik, denn denen muss man ja auf die Finger sehen, dass die uns nicht verschaukeln. Am Hauptbahnhof kaufe ich einmal in der Woche alle Zeitungen. Georg versteht das ja nicht. Ich bin heute viel politischer als er. Früher gab es immer nur Verbote und Paragraphen und jetzt will ich wissen, was dahinter steckt.

Das Alte will ich eben nicht mehr und das Neue, weiß ich auch nicht, wie das geht und deshalb tut man das Alte doch immer wieder. Man sollte eben mutiger sein. Aber wer soviel Angst gehabt hat wie ich, der kann nicht mutig sein. Der wird nur zornig. Die Kräfte in einem Menschen, die stauen sich ja auf. Und dann kommt es einmal zum Platzen und man ist sehr explosiv. Man braucht Mut, damit man mutig sein kann. Und man will ja auch gemocht werden. Und wer sich verlassen fühlt, ist nicht mehr mutig.

Früher habe ich immer gedacht, eine glückliche Ehe, das hab ich mir immer so vorgestellt: man macht eben alles gemeinsam. Heute weiß ich, jeder bleibt für sich allein.

Musik:
Still wie die Nacht und tief wie das Meer soll Eure Liebe sein…

Ja, wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, ich würde alles anders machen. Ich würde wahrscheinlich nicht mehr heiraten. Ich würde mir eine kleine Wohnung nehmen, und dann hab ich ja ich ja einen guten Beruf, der mir Freude macht. Und ich würde von Anfang an alles mit Georg besprechen: Was er macht, was ich mache, was wir uns anschaffen, ob wir in Urlaub fahren……ach, so … ja, man sagt manchmal so Dinge.

Joseph Schmitt singt:
Es wird im Leben Dir mehr genommen als gegeben.
Ja, das ist so im Leben eben, das merke Dir.
Du musst es lernen, es steht Dein Schicksal in den Sternen
Es wird entschieden in den Fernen und niemals hier.
Drum hab Vertrauen, alles wird gut.
Es wird im Leben Dir mehr genommen als gegeben.
Ja, das ist so im Leben eben,
hab Mut, hab Mut!

Im nächsten Jahr wollen wir den Speicher ausbauen für ein Gästezimmer. Dann kaufen wir ein neues Schlafzimmer und mein Traum ist ja ein französisches Bett.

In „Ästhetik und Kommunikation“, 28 , 1977
In „Ästhetik und Kommunikation“, 28 , 1977

weitere Texte zum Film

Impressum       Kontakt