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Texte zum „Begehren“
 

Jutta Brückner

Der Körper als Gefäß

Über Godards Film „Je vous salue, Marie“

Der Skandal, den der Film ausgelöst hat, wurde damit begründet, dass er blasphemisch sei. Blasphemie als Beschimpfung von etwas Heiligem kann in der erzählten Geschichte liegen, aber auch in der Form; in der eine scheinbar konventionell erzählte Geschichte in Bilder gefasst wird. Dieses Problem auf Godards Film angewandt, heißt die Frage stellen: Was für eine Geschichte erzählt Godard und wie erzählt er sie? Und ich frage dies nicht aus einem religiösen Verständnis heraus, in dem Bereich bin ich nicht kompetent, sondern mit dem Besteck der feministischen Filmanalyse und Filmtheorie.
Der unmittelbare Eindruck zeigt uns einen Film, der einen Mythos nicht in und durch die Form der Erzählung transzendiert, sondern in ein Alltagsgeschehen integriert. Marie als Tochter eines Tankstellenpächters und Joseph als Taxischauffeur sind Übersetzungen der biblischen Gestalten, die die Normalität und die (marxistisch gesprochen) Klassenzugehörigkeit ihrer Vorbilder haben. Die Geschichte wird jetzt erzählt, wie sie zwar in der Bibel nicht erzählt wird, aber erzählt sein könnte: die Ungläubigkeit Maries, das Misstrauen Josephs, eine erneute Intervention des Engels, ein ratloser, und doch geschwätziger Arzt, Marie und Joseph akzeptieren langsam ihr merkwürdiges Schicksal, schließlich wird das Kind geboren. Bis hierhin gibt es noch keine Friktionen zwischen Mythos und Film, wenn man davon absieht, dass Godard, der zwar kein psychologisierender Erzähler ist, nicht umhinkommt, mit einem Minimum an Psychologie zu arbeiten, weil es sich um Gestalten handelt, die in unserer Welt leben. Dies ist der Preis, den er für die Verbindung von Mythos und Alltag zahlen muss. Und sei es auch nur, dass das Unverständnis für das, was sich ereignet, zu einer Häufung von verbalen und physischen Grobheiten führt, die der Hintergrund für ein durchgehend aggressives Klima in diesem Film sind.

Auch hier keine Anzeichen von Blasphemie, wenn man nicht in dem ständigen Insistieren Josephs auf den „Beweis“ für das Unglaubliche, auf seinen Wunsch, den Körper Maries zu sehen und zu berühren, Blasphemie sehen will oder in der dunklen Stunde Maries, wo sie eine Art Anfall bekommt und Texte von Artaud zitiert, die von der Erfahrung sprechen, an den Rand der Gesellschaft gerückt worden zu sein, da, wo der freie Fall beginnt. Dann ist das Kind da, wir sehen die Familie im Schwimmbad und bei einem Ausflug, wir sehen den kleinen Jungen, der sich aus seinen Spielkameraden seine Jünger wählt und ihnen neue Namen gibt und wir sehen Marie allein beim Einkauf, den Engel, der jetzt ein normaler Nachbar im Mercedes ist und der sie grüßt und als letztes Bild ihren Mund, den sie gerade geschminkt hat, weit geöffnet, ein schwarzes Loch. Als Bild verstörend und nicht erklärbar im Zusammenhang der Sequenz, ist er eine Warnung, dass die beruhigenden Worte der Filmkritik, die sich gegen Verbot und den Vorwurf der Blasphemie ausgesprochen hatte und deshalb natürlich darauf bestehen musste, dass Godard in diesem Film den Glauben gefunden habe, wohl eher getrieben waren von einem wichtigen politischen Impetus, nämlich der Abwehr der Zensur, aber nicht so sehr von einer genauen Lektüre.
Ganz sicher ist, dass Godard Marias Geschichte zuallererst einmal als der Filmemacher gelesen hat, der er ja ist. Zusätzlich hat er diese Geschichte durch das Säurebad der psychoanalytischen Betrachtung wahrgenommen, wie der Rekurs auf die Zitate von Francoise Dolto im Szenario beweist. Das heißt: es kommen zusammen die Talente und Idiosynkrasien eines Mannes, der in vielen Filmen Frauen immer als ein Mysterium umkreist hat und die eindeutige Parteinahme einer Kinderanalytikerin für „das Kind“. Von daher sind die wichtigen Eckpfeiler benannt: so wie in der Interpretation von Francoise Dolto Marie mit einem Kinderwunsch ausgestattet wird, aber mit keinem anderen Wunsch oder Begehren, so in der Sicht von Godard mit der Erotik der sehr jungen, mädchenhaften Frauen, an denen das französische Kino so reich ist und die bei Godard selbst sich in seinen späten Filmen in zunehmendem Maße so weit verjüngen, dass zum Schluss fast nur noch Kinder übrigbleiben. Die Person, die hier im Schnittpunkt steht, Marie, ist denn auch eingefangen in der Art von Bildern, die die Gespielinnenerotik des „jeune couple“ seit den frühesten Filmen von Godard auszeichnet. Das heißt aber auch, dass im Gegensatz zur biblischen Geschichte hier die Erotik eine enorme Rolle spielt. Joseph will sehen und berühren und er will mit ihr schlafen und seine Frustration ist so groß, dass der Engel als Disziplinarmacht noch einmal eingreifen muss, um ihn zur Pflicht zu mahnen. Der Leib Maries wird von Joseph begehrt und nicht als heiliges Gefäß respektiert. Insofern handelt es sich wirklich um eine Profanierung. Zwar hat Joseph ihn noch nicht berührt, aber sein Wunsch, es ständig zu tun, ist schon eine Attacke auf die Unberührbarkeit, denn er drückt ja aus, dass dieser Leib irdische Gelüste wecken kann und in seinen Phantasien durchaus ein berührter und das heißt beschmutzbarer ist. Die Schranke, die das Heilige vom Profanen trennt, wird in der Inszenierung der Bilder nicht respektiert. All die vielen Bilder von Maries halber und ganzer Nacktheit, die dazu geführt haben, dass dieser Film in einigen Videotheken in der Abteilung „Pornofilme“ (ganz sicherlich Abteilung „Softporno“) steht, sind filmgeschichtlich kodiert als Momente von Erotik, ob ausgeübt oder versagt und tauchen die Gestalt der Jungfrau in ein Begehren, das nicht nur ihre Jungfräulichkeit nicht respektieren will, sondern im Gegenteil gerade von ihr angestachelt wird. Maries Leib wird gesehen im Phantasma Josephs. Er wird in das Zwielicht der Inbesitznahme getaucht.

Nun ist ein Teil dieses Problems der Tatsache geschuldet, dass im Film jeder Körper inszeniert werden muss und es gibt ja in der Marienikonologie genug Beispiele für eine Erotisierung der Jungfrau. Aber in den Zeiten, in denen sich die Kunst noch an die religiösen Themen halten musste, war die Aufladung der Gestalt durch andere Wünsche als die frommen ein Vorgang der Bewusstwerdung einer außerreligiösen Wahrheit. Dies gilt für heute nicht mehr und es ist durchaus eine Inszenierungsweise vorstellbar, die Marie gezeigt hätte, wie Bresson es mit seiner Mouchette macht. Stattdessen gibt es im Film nackte Frauenkörper, die der Marie und der Eva, in langen und konzentrierten Einstellungen. Und es handelt sich dabei nicht um die verschämte Nacktheit, mit der ein Körper, nachdem er aus dem Bett gestiegen ist, so nah am Objektiv vorbeigeht, dass er ohnehin die Linse verdeckt. Gibt es einen Unterschied zwischen der vorgeschichtlichen Nacktheit der Eva, die nach dem Sündenfall bedeckt wurde und der Nacktheit Marias, mit deren Gehorsam der Weg beginnt, auf dem die Sünde aus der Welt geschafft wird?
Mit anderen Worten: Wie inszeniert Godard seine Jungfrau?
Zwei Antworten. Die erste: „Ein jungfräuliches Bild ist ohne Spuren, ohne Abdrücke.“ (Godard) Welche Spuren und Abdrücken könnten das sein? Spuren von Biografie, von Gebrauch, von Entwicklung, d.h. Spuren von Geschichte? Dann gäbe es jungfräuliche Bilder nur vor dem Eintritt in die Geschichte? Soll das die lange Einstellung von Eva bedeuten, die, kurz nachdem sie gemeinsam mit dem Professor beschlossen hat, dies sei jetzt der Ort und die Stunde, durch das Klingeln des Telefons gestört wird, hineilt, sagt, sie könne heute Abend nicht und sehr lange, nackt wie sie ist, neben dem Tisch stehen bleibt, sich eine Zigarette anzündet und vor sich hinsieht?

Eine zweite: Marie sagt während ihres Besuchs beim Doktor: „Etre vierge, ca devrait etre: etre disponible.“ Weniger im Konditional zitiert Godard im Szenario diesen Satz, den er von Francoise Dolto übernommen hat, als: „Etre vierge, c’est etre disponible, etre libre. “ Diese verblüffende Interpretation zeigt einen Riss, der durch den gesamten Film geht und der die Möglichkeit einer doppelten Lesart begründet. „Disponible“ bedeutet „verfügbar“ und kann interpretiert werden als „nicht gebunden“ und insofern „frei“. Aber semantisch gesehen ist das Wort geprägt durch eine Passivität, die nach dem schreit, der sie beendet. Verfügbar sein heißt also auch und gerade: Nicht frei sein, insofern über einen verfügt werden kann. Welches der beiden Momente als das wichtigere erscheint, liegt im Auge des Betrachters und ich vermute stark, dass dieses Auge geleitet ist vom Geschlechtsinteresse.

Und das entsprach der historischen Festschreibung, denn über die Jungfräulichkeit der Mädchen bestimmten die Väter und auch darüber, wer Besetzer oder Besitzer der Jungfräulichkeit wurde. Die Jungfräulichkeit bedeutete gleichzeitig Einschließung und Abschließung, aber auch Machtposition. Einschließung als der Zirkulation, dem „Verkehr“ im wahrsten Sinne des Wortes entzogen, unsere deutsche Sprache sagt es ungeschminkt, aber potentiell deshalb für eine Inbesitznahme noch frei. Godard, der die Worte verfilmt, hat Marie an einer Tankstelle angesiedelt und Joseph in einem Taxi. Lauter Verkehr, ohne dass Verkehr stattfindet.

In diese Alltagsgeschichte bringen die beiden Engelteile die erste Irritation, nicht nur weil sie das Nicht-Vorstellbare verkünden. Auch hier ist eine Doppelung der Perspektive sichtbar, weil die Figur aufgespalten ist in zwei Figuren: einen rabiaten jungen Mann und ein kleines Mädchen. Zusätzlich steht in Godards Anmerkungen im Szenario: „L’Ange et la petite fille se tiennent toujours par la main“. Mit dieser Verdoppelung, die ja auch eine Halbierung ist, ist nicht nur der Tatsache Rechnung getragen, dass man nicht weiß, welches Geschlecht die Engel haben, sondern auch, dass sie sehr drohende und sehr freudige Botschaften bringen, dass sie Schutzengel und Engel mit dem Flammenschwert sind. Wenn nun die Engel Marie die Botschaft bringen, dass sie schwanger sein wird, dann sagt einer: „Ne cherche que ta voie.“ Und Marie fragt, wie sie es als gute Französin tun muss: „Ma voie (Weg) ou le son de ma voix (Stimme)“?
Und hier, an diesem entscheidenden Moment des Mythos und der filmischen Erzählung öffnet Godard einen Riss, der nicht nur Thema seines Films sein wird, sondern auch den verborgenen Riss unserer gesamten abendländischen Kultur bezeichnet. Denn die Verkündigung ist ein rein verbales Ereignis, eine Stimme, die sich hören lässt, ein Wort, dem geglaubt werden muss. Gerade als solche aber ist sie der Grund aller Gläubigkeit. Auf dem Zwiespalt zwischen dem Wort und dem Fleisch, dem logos und der Materie ist unsere Kultur begründet, eine Kultur, in der nicht nur das „Wort Fleisch ward“, wie es in der Bibel heißt, sondern in der auch die Frauen seit Aristoteles keine eigene Zeugungskraft haben, das Fleisch, in dem das Kind heranwächst, nichts ist als Gefäß, in das ein Same gesenkt worden ist, der das alleinige Zeugungsprinzip ist. Auf dem Wort, dem Namen des Vaters beruht die Abstammung des Sohnes. Die Mariengeschichte spricht es überdeutlich aus, was zur Essenz eines jeden menschlichen Zeugungsaktes gehört. Und Marie, an der hier die Sichtbarmachung des zentralen Moments unserer jüdisch-christlich- hellenistischen Kultur inszeniert wird, hat sehr wohl ein Recht zu zögern, ob das Wort, das sie hört, auch ihr Weg ist und sie nicht lieber ihren eigenen Weg suchen sollte, indem sie ihrer eigenen Stimme folgt. Aber das wirklich Aufregende an diesem kurzen Moment ist die Tatsache, dass Godard hier deutlich zeigt: Nicht nur ist unsere Kultur auf dem Wort als Gesetz gegründet, sondern auf der Zweideutigkeit des Wortes, auf der möglichen Doppelheit der Interpretation. Der kleine semantische Trick beruht auf der grundlegenden Ambivalenz der Bedeutung des Wortes.

Godard schließt den Zwiespalt, den er hier kurz angerissen hat, schnell wieder und bringt die aufgerührte Geschichte zur Ruhe, oder doch zumindest zu einer Scheinruhe. Das abendländische Trauma, d h. der Skandal, den das Fleisch für den Geist bedeutet, wird von Marie auf sich genommen und sie wird sich bemühen, ein Körper für den Geist zu sein. Die Abweichung, die das Christentum hier gegenüber älteren hellenistischen Vorstellungen hat, liegt aber darin, dass dieser Körper jungfräulich sein muss. Denn es sind ja zwischen dem Himmlischen und dem Irdischen durchaus andere Arten der Begegnung denkbar. Jupiter nähert sich Alkmene, ohne darauf zu bestehen, dass der Sohn, den er mit ihr zeugt, in einem jungfräulichen Leib gedeiht. Bei Kleist kreist seine ständige Unruhe um die Frage, ob er oder nicht doch der andere besser ist, ein sehr menschlicher Wettstreit, in dem die Frau Richterin ist, ihr also eine gewisse Kompetenz in dieser Frage zugesprochen wird. Auch wenn man das als romantische Interpretation einer späteren Zeit zuordnet, ist doch klar: der Himmlische hat sich eine Sterbliche ausgesucht, die verheiratet ist. Das Bestehen auf der Jungfräulichkeit ist aber die notwendige Basis im System einer Vorstellung, in der die eigentliche, die wichtige Kopulation nicht die zwischen zwei Körpern ist, sondern zwischen dem Geist und dem Körper stattfindet, wo das Männliche mit dem Geist assoziiert wird und das Weibliche mit der Materie. Immer ist der männliche Same der Geist, der logos, aktiv und der weibliche Körper das Gefäß, die Materie, passiv.
Da das Wort aber nicht mit einem anderen Fleisch konkurrieren kann, muss die Frau unberührt sein, d. h. ohne eigene Geschichte und Erfahrung, denn sonst könnte sie die Hybris des Wortes zurückweisen und es als das identifizieren, was es ist: nur ein Wort. Insofern hat Joseph das individuelle Problem der Eifersucht, was ja ein ganz quälendes Gefühl ist, aber die Wertordnung, die ihm den schöpferischen Platz zuweist, ist ganz ungebrochen. Und auch wenn er sagt: „Je ne serai que ton ombre“ und Marie Antwortet. „Mais I’ ombre de Dieu.“ heißt das: auch noch als Schatten ist er Gottes Ebenbild.

Das Gefäß Frau ist bei Godard noch von einem Mysterium umgeben. In dem Augenblick, wo das Mysterium entschleiert ist, bleibt die nüchterne Vorstellung eines Behälters zurück und wir sind bei den möglichen Aufspaltungen in soziale und biologische Mutterschaft und allen anderen Formen der Gen- und Reproduktionstechnologie im Reagenzglas, das ja auch ein Gefäß ist. Marie, die sich nun bemüht, ein Körper für den Geist zu sein, tut das in einem Ringen, das weit über eine mögliche Interpretation als himmlische Leihmutterschaft hinausgeht. Godard hat gerade nicht einen Film gedreht über das alte Vorbild neuer Technologien, eine Versuchung, der eine feministische Filmemacherin sicher erlegen wäre. Godards Marie nimmt die Herausforderung an, die damit verbunden ist, ein Körper für den Geist zu sein und in den Artaud-Texten wird nun das Schicksal, das der Zwiespalt von Körper und Geist in der abendländischen Geschichte gefunden hat, auf eine bestimmte Weise durchdekliniert.
D.h.: Godard entschleiert keinen Mythos, sondern lädt ihn sogar noch auf. Maries Ringen um ihr merkwürdiges Schicksal hat etwas Heldenhaftes und Berührendes. Das hat auch viel zu tun mit der Art, wie ihre Körperlichkeit schwankt zwischen den typischen Godardbildern der Erotik und der Kindlichkeit, mit der hier von der Kleidung über die Großaufnahme der Knie Unschuld mit Kindlichkeit konnotiert wird. Diese Art der Annäherung stammt aus Godards Bilduniversum und schon seine frühesten Filme waren davon gezeichnet.
Und auch Josephs Unglauben und sein Drängen, sich zu überzeugen, ob Maries Behauptung wahr sei, sprengt zwar den Rahmen der Überlieferung, nicht aber den Rahmen dieses jüdisch-christlich-patriarchalischen Mythos. Er soll erzogen werden, an das Unsichtbare zu glauben. Das geht nicht ohne Schwierigkeiten ab. Und dann überzeugt er sich und es spricht die sinnliche Evidenz dafür, dass Marie recht hat. Hier folgt er dem alten männlichen Reflex – und auch dem Reflex des männlichen Kinos – dass nur wahr ist, was zu sehen ist. Das Innere des Geheimnisses des weiblichen Körpers, das, was nicht zu sehen ist, nur zu fühlen, wird ihm nur zugänglich über den Blick. Auch er ist hier am Anfang eines Weges, es ist der Weg der Organisation der Sinne, an dessen Ende die männliche Sichtweise steht, wie sie sich aufs höchste konzentriert im Pornofilm findet, der sich vergebens darum bemüht, in immer neuen Einstellungen das innere Geheimnis der Frauen dem Blick zu enthüllen, und deshalb in seinen gewaltsameren Varianten auch schon mal in Versuchung ist, diesen Körper zu zerstören. Und auch die Tatsache, dass Schwangerschaften heute von Phasenbildern des Ungeborenen im Körper begleitet werden und auch zum Teil so eingesetzt werden, um abtreibungswillige Frauen daran zu hindern, abzutreiben, ist eine Station auf dem Weg. Denn: was man sieht, ist wahr und dieser Satz ist als männliche Verengung des Problems der Wahrnehmung natürlich längst ein Axiom unserer Kultur.
An dieser Stelle läge die Möglichkeit der engsten Zusammenführung zwischen dem Kino als der Organisation von Blickstrategien und der Geschichte. Nicht umsonst haben Jahrhunderte vor uns die Begegnung eines Mannes mit dem Ungeborenen so inszeniert: Er tastet und legt sein Ohr an ihren Bauch. Was nun passiert hier?
So bleibt Godard im Rahmen der Tradition der Marienbildnisse. Das Bild Maries geht durch die vielen Formen durch, die Maria, immer in der Anspannung zwischen der frommen Verehrung und der Verkörperung höchster fleischlicher Schönheit in den Jahrhunderten angenommen hat. Er schickt sie als Bild durch die abendländische Kultur, lässt sie mal diese, mal jene Pose einnehmen und das Bild ihres Leibes wird zunehmend dem ähnlicher, was er als erstes im Zusammenhang mit ihr einführt: der Ball, der Ballon. So wird Maries Schicksal schon vorweggenommen in dieser runden Lederkugel, die schon einmal in einem frühen Film für ihn Schwangerschaft abbildete: „Une femme est une femme.“ Das gilt nach wie vor: der Mann bleibt hilflos vor dem Phänomen. Insofern hat der Film etwas sehr Nostalgisches. Godard knüpft in der Erotik seiner Frauenfiguren an seine ganz frühen Filme an und öfter ist man nicht ganz sicher, ob man hier nicht Anna Karina wiedersieht. Oder einem Dialog aus „Masculin-Feminin“ lauscht. Wenn Godard dann noch im Szenario sagt, dass das von Marie erwartete Kind nicht eines der Passion sei sondern eines der amour, dann ist der falschen Nostalgie fast zu viel getan, denn Liebe ohne Leidenschaft war exakt das, was Frauen durch die Jahrhunderte die Lust verwehrt hat.
Und wir sind schon fast am Ende des Films, haben uns daran gewöhnt, dass hier in einer ungewöhnlichen und auch intelligent-kruden Weise und sicherlich mit Schlenkern, die dem Dogma peinlich sein können, vielleicht auch ein bisschen blasphemisch ein Mythos so erzählt wird, dass die Grundlagen unseres abendländischen Denksystems für Momente aufblitzen, da passiert plötzlich etwas völlig Unerwartetes. Das Kind ist auf der Welt, es läuft mit seinen Kameraden, den Jüngern, davon, um die Geschäfte seines Vaters zu besorgen. Und Marie holt ihren Taschenspiegel heraus und schminkt sich die Lippen. Ihr Mund ist ein schwarzes Loch, umrahmt von zwei roten Fleischzonen. Und das Ganze ungefähr leinwandfüllend, ein kühnes, vielleicht obszönes, auf jeden Fall völlig unerwartetes Bild. Es ist klar, dass hier etwas aufscheint, was ungewöhnlich ist. Ein französischer Kritiker schrieb dazu, es handele sich hier um den Mund, Träger des Wortes. Aber das Wort, um das es in diesem Film und dem Mythos ständig ging, kam nicht aus Maries Mund. Es kam aus dem Mund des Engels als Träger und Überbringer der Botschaft und das Körperteil von Marie, der dem entspricht, ist das Ohr, was ja auch in der alten Metapher von der Empfängnis durch das Ohr ausgedrückt ist. Warum also plötzlich dieses Bild?
Drei Möglichkeiten: im Rahmen der Geschichte wird Marie hier das, was sie vorher nie gewesen ist, eine kokette Frau, d.h. eine Frau, die sich ihres erotischen Wertes bewusst ist und ihn pflegt. Sie ist nicht mehr jungfräulich, weil sie jetzt ihrem Körper einen Abdruck hinzufügt und es ist nicht ohne Bedeutung, dass der Satz, den Joseph an anderer Stelle gesprochen hat: „Ich werde dich nie berühren“ an keiner Stelle des Films aufgehoben wird. Sie selbst ist es, die durch den Gebrauch des Lippenstifts und durch die Art, wie sie ihn, obszön fast in den Mund steckt, die Vorstellung, die bisher mit ihr verbunden war, durchbricht. Die Jungfräulichkeit als Geschichtslosigkeit wird also nicht durch die Inbesitznahme des Mannes beendet, sondern durch sie selbst.
Im Rahmen des Mythos und in seiner Fortspinnung aber kann dieses Bild etwas Anderes bedeuten: das Wort, das nie in Frauenmund beheimatet war, auch jetzt noch nicht ist, soll es aber werden. Der schwarze Schlund, noch leer, ein Loch, wäre dazu bereit. Und die dritte Erklärung, die aus der Verbindung beider sich ergibt: Wenn dieses schwarze Loch, das auch das abwesende Geschlecht ist, gefüllt werden will mit dem Wort, dann muss der Tatsache Rechnung getragen werden, dass der Mund zu einem Loch, dem Geschlecht, gehört, das aus der Kultur ausgeschlossen war als selbständiger Träger eines Geschehens und eines Willens, über das eben nur verfügt werden konnte.

Diese Einstellung, die in ihrer ästhetischen Komposition so ungewöhnlich ist, dass ihr nur eine extreme Erklärung gerecht werden kann, macht aus Maries Geschichte, so wie sie im Film erzählt worden ist, eine Vorgeschichte, auf die jetzt ein andere folgen wird. Die Organisation des Geschlechterverhältnisses war immer auch Organisation der Macht und diese Macht- und Geschlechterorganisation, wie sie aufbauend auf Aristoteles für 2 Jahrtausende vor allem vom Christentum geprägt worden ist, kommt heute in einer letzten Volte an ihr Ende, da durch die Gen- und Reproduktionstechnologie das Gefäßhafte der Frau ohne jede Verbrämung offen zu Tage liegt aber gleichzeitig auch schon ausgelagert wird. Jeder Bruch ist immer gleichzeitig Kontinuität und Bruch. Vorgeschichte und die andere Geschichte, die sie beenden wird und von der wir und Godard noch nichts wissen, sind getrennt durch dieses Loch. Diese Einstellung ist der Schlüssel dafür, den Film rückwärts lesen zu können, im Riss, der sich immer wieder in ihm auftut, eine bewusste Doppelung der Lesart zu erkennen, eine Ambivalenz, die mit den beiden möglichen Blicken auf unsere Kultur, dem herkömmlichen, in der jüdisch-christlich-patriarchalischen Tradition stehenden und dem feministischen, der sich früher nie artikulierte, aber als Wahrnehmung immer da war, unaufhebbar verbunden ist. Diese Wahrnehmung war immer zeitlos. Weil sie an die Materie gebunden war, konnte sie gleichzeitig als jungfräulich und als uralt erscheinen, auf jeden Fall ohne eigenes Wort und unterworfen der Formung und der Stimme des Anderen.

Als solche hatte sie auch immer einen beschränkten Eigenbereich, der in seinen Einzelmomenten der Formung durch das Wort entglitt. Diese „Frauenwelt“ wird heute in der letzten krisenhaften Zuspitzung der abendländischen Kultur vollkommen in das männliche Herrschaftsschema integriert. Der vorläufig einzige Zugewinn ist die Erkenntnis.

Es soll hier Godard nicht zum Feministen gemacht werden. Das ist er sicherlich nicht. Und sein Film lässt noch genug andere Lesarten offen. Aber sein seismografisches Bewusstsein für kulturelle Prozesse, das ihn „La Chinoise“ vor 68 machen ließ und „Prenom Carmen“ schon bevor eine feministische Lesung der Novelle von Merimée aktuell wurde, hat auch hier reagiert bei der Frage nach der Geburt und der Jungfräulichkeit. Dies ist umso wichtiger, je weniger man ihm zum Feministen erklären kann.
In diesem Zusammenhang muss noch einmal an den Engel der Verkündigung gedacht werden. Seine Zweigeschlechtlichkeit ist vielleicht auch der Tatsache geschuldet, dass Godard sich selbst als einen imaginiert, der dazwischen ist: zwischen der Schweiz und Frankreich, einen, der zwei Namen hat. In einem Interview hat er einmal lange darüber gegrübelt. Ist es möglich, in dem Engel, der dann als ein unerkannter Nachbar die ersten Worte der Verkündigung spricht und sagt, es hat nichts zu bedeuten, Godard zu erkennen?
Das Christentum hat, wie alle Religionen der nachtitanischen Ordnung, den Vorteil, dass Götter möglich wurden, an denen kein Frauenblut klebte, d.h.: nicht über das Blut und Opfer der Frauen geschah die Vergöttlichung, wie noch in der titanischen Ordnung. Aber es geschah als Vereinigung von logos spermatikos und Materie zum Zweck der Zeugung, in welchem Zusammenhang der Begriff der Lust
obszön wirkt. Nicht umsonst begann die Revolte der Frauen mit der Reklamierung der Freiheit der Abtreibung und dem Recht auf Lust, was beides kulminierte in der Zurückweisung der Verpflichtung, Gefäß zu sein.

Dies alles angewandt auf die Frage nach der Möglichkeit eines transzendentalen Stils lässt sofort die Frage auftauchen, ob er nicht das verschweigt, was die immer schon verschwiegene Hälfte unserer Kultur ist: die Materie. Im Überschreiten der Immanenz auf die Transzendenz hin war nach den bisherigen Erfahrungen von Frauen immer so viel von der Vernichtung oder doch Zähmung des Fleisches die Rede, dass es wohl sinnvoller wäre, erst einmal die Realität in allen ihren Aspekten ernst zu nehmen, gerade auch in der Ambivalenz des Wortes und der Doppelheit der Interpretation. Transzendenz, für die die Materie immer noch der Brennstoff ist, ist nur dem abendländischen Skandal verhaftet und von dem einzigen Bemühen getragen, die Materie zu vernichten. Im Überschreiten des Realen, in seiner Negation, war schon so viel weibliche Versagung immer enthalten. Worum es also gehen würde, wäre: endlich anzuerkennen, dass nicht der Geist den Körper schafft, sondern jeder Geist, wenn er spricht, auch immer vom Körper spricht, dem er angehört. Und das heißt auch: von seinem Geschlecht.

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