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Jutta Brückner

Die Filme „Carmen“ von Carlos Saura und „Die Macht der Gefühle“ von Alexander Kluge

Es ist schon schlimm. Jahrelang haben Femi­nistinnen für differenzierte Frauenbilder ge­kämpft und nun das! Ganz zweifellos ist die Carmen eine Projektion sehnsüchtiger bür­gerlicher Männer und ebenso zweifellos eine äußerst zähe, die auch noch als Souvenir von der Leopoldstraße etwas Wichtiges ausdrückt, wie es nur wirklich populäre Mythen können. Hohnlachend können Frauen das natürlich al­les analysieren. Haben sie sich nicht seit ʻ68 heiser argumentiert, dass sie alles das nicht sind, was männliche Phantasie aus ihnen ge­macht hat: weder Mutter/Heilige, noch fem­me fatale/Hure. Sollen alle diese mühsamen Aufklärungsversuche vergessen sein, nur weil Laura del Sol als Urbild Konventionen hin­wegfegender Natur über den Bretterboden stampft und damit ja nicht nur die Männer einfängt, von denen wir ja sowieso nichts an­deres erwartet hätten, sondern vor allem in den Frauen selbst einen verdrängten Raum ihrer eigenen Person aufweckt? Haben Frauen vor lauter Eifer, Männern etwas klarzuma­chen, vergessen, sich selbst von der Richtigkeit dessen zu überreden, was sie so zwingend ver­kündeten?

Die reine Lust an so etwas hat ja etwas Ver­räterisches und die Schlangen von Frauen vor der Kinokasse sind beredt. Frauen sind vielleicht doch nicht ganz auf der Höhe ihres eigenen Bewusstseins. Aber wie könnten sie auch, geht es doch in „Carmen“ um etwas, was die bürgerliche Gesellschaft immer voll Angst vor die Tür gesetzt hatte, wo es sich dann auch in der Gosse kräftig prostituierte: die Triebe. Vor ihnen hat auch die feministi­sche Emanzipationsbewegung zurückge­schreckt, weil sie alles, die Gesellschaft, die Frauen selbst, die Geschichte im Licht der Vernunft baden musste. Und nun kom­men die ungeliebten Vettern durch die Hin­tertür der Kino-Lust, die sich schon immer vortrefflich als Notaus- bzw. -eingang für die schwarzen Schafe der bürgerlichen Familie erwiesen hat, wieder herein. Immerhin wird dadurch noch einmal klar, dass die Neue Frau­enbewegung als Erbe der bürgerlichen Aufklä­rung sich auch mit der eigenen Dialektik der Aufklärung auseinandersetzen muss. Einfach zu sagen, die Lust an „Carmen“ sei re­aktionär. ist bestimmt kein Moment einer sol­chen Auseinandersetzung, denn da wird so ge­tan, als kenne die Geschichte nur eine Bewe­gungen: nach vorn.

Eines scheint mir sicher zu sein: die star­ken Gefühle, die der Film weckt, entstehen nicht am klassischen Angelpunkt der Liebes­momente, denn die sind wirklich kaum vor­handen, auch nicht am Liebesmord, der fast unwillig diskret hinter der Kulisse erledigt wird, als rage hier etwas in das Stück herein, das einer anderen Logik gehorcht. Saura hat die klassische Carmen-Geschichte mit dem Pygmalion-Mythos verbunden. Aus der prole­tarischen Zigarettenarbeiterin wurde die bür­gerliche Ballettelevin, die sich aus der be­herrschten Schülerin in die herrschende An­gebetete verwandelt, ein „Emanzipations“pro­zess, der allein schon vieles in den vielen Frau­en aufrührt, die immer noch von der klassi­schen Symbiose der Arbeit mit IHM zusam­men träumen. Gefühle werden behauptet, sie finden kaum statt. Weder Laura del Sol noch Antonio Gades besitzen die Fähigkeit, Gefühle melodramatisch oder psychologisch auszu­drücken. Eruptiv und hölzern gleichzeitig um­kreist dieser Tanzfilm sein Zentralthema: die Leidenschaft. Leidenschaft in den beiden sehr unterschiedlichen Formen, die sie annehmen kann. Einmal als Auslöschung alles Unter­scheidungsvermögens und aller Realitätsbezü­ge von Gefühlen, als Trunkenheit, die einen sonst Nüchternen überfällt (Antonio). Zum an­deren als der erotische Brenn­stoff von Freiheit, der mit Carmens Existenz so untrennbar verbunden, dass sie nicht ein her­ausgehobener ekstatischer Zustand blinder Sinnesvergessenheit ist, sondern im Gegenteil das luzide Band zur Realität. Carmens Leiden­schaft ist wie eine Energie, in der sich jemand fortwährend als Person neu schafft, das Gravi­tationszentrum einer Kraft, die durch die Lie­be nicht leidenschaftlicher und nach dem En­de der Liebe nicht melancholischer wird. Ein­fach deshalb, weil sie nicht von einer Liebes­geschichte abhängt, nicht von einem Objekt, an dem sie sich entzünden könnte. Das macht Carmens Promiskuität so grundlegend anders als die des Don Juan. Es ist eine völlig narzisstische Leidenschaft, die sich selbst Objekt ge­nug ist, aber gerade deshalb eine Kraft und Konsistenz hat, die man nur mit einem be­schreiben kann: die Fähigkeit zur Freiheit.

Nun hat der Narzissmus keine gute Presse, weil er uns immer nur im Zusammenhang mit „narzisstischen Defiziten“ begegnet. Das ent­spricht vielleicht auch unserer Situation. Lei­denschaftliche Liebe muss oft genug dafür herhalten, neurotische Defizite vollzupumpen. Das war gerade für Frauen immer ein Problem, denn ihre gesellschaftlich verordnete Unmün­digkeit, ihr erzwungener Un-Reifezustand, ihre finanzielle Abhängigkeit erlaubte ihnen selten die konkrete narzisstische Kompensation durch Dinge, sondern drängte sie immer wie­der auf die umfassende Entschä­digung durch den Mann, der sie erhob und ver­vollständigte. Diese Strickmuster von Bezie­hungen, in denen gerade die allumfassend vage Leidenschaft sich so gut zur Heilung von un­sichtbaren brennenden Wunden eignet, ist auch heute in vielen Beziehungen anzutreffen, die sich emanzipiert glauben. Carmens Leiden­schaft muss sich nicht auf Objekte schmeißen, um narzisstische Wunden zu verbergen. Mit viel Berechnung – und das heißt: mit enormem Realitätssinn – lebt sie ihre Triebe in der Lust an sich selbst. Sie verliert sich nicht in eine un­erklärlich gequälte Dumpfheit wie Antonio, sie muss sich auch nicht beherrschen, wie es Rückgrat preußischer Erziehung gewesen ist, sie genießt ihre Triebe narzisstisch, was aber ­nicht im geringsten heißt, dass sie sich auf sie schmeißen würde wie auf ein Beweisstück gegen Intellektualität. Gerade damit machen wir hierzulande ja viele Erfahrungen! Narzisstisch, aber ohne jede Koketterie, und deswegen weder selbstverliebt noch selbstgefällig. Was aus ihr spricht, so wie Carlos Saura sie zeigt, ist nicht einfach das Tier, die ungebrochene Natur, sondern „eine geglückte Sozialisation, die keine narzisstischen Defizite gelassen hat.“
Aber solche Ausdrücke helfen uns nicht weiter, sie verstellen eher. Denn was an Sauras Film fasziniert, ist gerade, dass er nicht psychologisiert, nicht erklärt, nicht ableitet, nicht argumentiert. Ein Film von Behauptungen, keiner der Gründe. Aber einer, der seine Be­hauptungen körperlich einlöst. Beim Tanzen geht es nicht um den leidenschaftlichen Charakter, den leidenschaftlichen ­Gedanken, die leidenschaftliche Moral, son­dern um den leidenschaftlichen, – nicht den hysterischen! – Körper als Zentrum der Frei­heit, die keine andere Basis haben kann als das. Anderes ergibt sich leicht aus dieser Mitte: die Spannung zwischen der Form und ihrer Auflö­sung, zwischen Starre und abrupter Bewegung, Pose und Aufhebung. Die Triebe werden Form. Erlöst aus ihrer Abgespaltenheit und ihrer unglücklichen Existenz als Ticks formen sie einen Leib, der durchdrungen ist von der ­Erotik als Freiheit und in narzisstischer Leiden­schaft einen luziden Bezug zur Realität und zur eigenen Person hat. Freiheit wird uns vor­geführt als Aufbruch aus der Starre, Sprengen von Grenzen, was ja weit entfernt ist von der Formlosigkeit, mit der wir oft Befreiung ver­wechseln. Die ungraziösen und oft gewaltsa­men Tanzschritte des Flamencos zeigen Frauen die Bewegungen ihrer eigenen Emanzipation.

In dieser Leidenschaft verbindet sich Freiheit mit Erotik. Nicht die klassische Erotik als Genuss jenseits der Geschäfte, für die auch die Frauen sich immer eine Nische von Verhalten und Kostümierung präpariert hatten: Korsett, Strapse, schwarze Strümpfe, Dekollete und Stöckelschuhe, in verschärftem Falle Leder und Peitsche. Dieser unglückliche Traum eines tiefen Sendungsbewusstseins, den die „Flambier­te Frau“ von Robert van Ackeren gerade vorgeführt hat, reserviert für die Erotik einen abgegrenzten Bereich von Handlungen, zweck- und ziel­gerichtet, aber abgespalten aus dem Betrieb des täglichen Lebens als eine Oase, in der die in Urschuhe und Latzhosen zurückgequälten Triebe jetzt für eine begrenzte Zeit wieder her­vorgeholt werden. Zu keiner Zeit verhüllt der Film Körper, um sie dann um so besser enthül­len zu können, zu keiner Zeit muss sich das aseptisch gewordene Fleisch oder die Arbeits­maschine mit solchen Hilfen wieder in Körper zurückverwandeln. Wenn Carmen Antonio in seiner Wohnung aufsucht, um mit ihm zu schlafen, ist das auf keinen Fall mehr, eher so­gar weniger erotisch, als wenn sie mit ihm tanzt. Ihre Erotik hängt sich wie ihre Leiden­schaft nicht ans Objekt, sondern schafft die Vermittlung zu ihrem eigenen Körper.

Das hat ebenso viel mit einem verklärten Bild von weiblicher Gefühlssicher­heit als Natur zu tun wie mit der alten bürger­lichen Vorstellung des autonomen Individu­ums. Das Traumbild eines Lebens, in dem in leidenschaftlicher Freiheit Sinnlichkeit, Arbeit und Liebe nicht zu verschiedenen Bereichen gehören, erscheint hier im Modell von Welt, die auf das Maß der Probebühne geschrumpft ist und jeden abstrakten Konflikt personifi­ziert: im Mann. Damit wird für Frauen wieder die vertraute Situation des weltlosen Lebens zwischen zwei Personen hergestellt, die heute bei zunehmender Fragmentierung aller Zu­sammenhänge wieder ein Wunschtraum ist. In dieser geschlossenen Welt des nicht-entfrem­deten Lebens gibt es zwischen den vielen As­pekten unserer Wirklichkeit keine Blockaden. Hier kann Carmen Zentrum eigener Aktivitä­ten sein, Individuum in seiner Einmaligkeit der Synthese von männlichen und weiblichen Eigenschaften, Macho-Frau, die verfügt, nicht über sich verfügen lässt. Ein Flamenco-Kenner erzählte mir, dass sie im Tanzstil vor allem in der Beinarbeit, viel „männlicher“ ist als ihre Rivalin, die die klassischen, der Frau reservier­ten Bewegungen der Hände macht. Viel mehr eine Befreiungsfantasie als eine Liebesfan­tasie. Hier verbindet sich ein alter Wunsch­traum der Vermischung von Natur und Ge­schichte mit den Vorstellungen vom ganzen, aus männlichen und weiblichen Anteilen be­stehenden Menschen. Und das zielt uns direkt ins Herz.

Denn hier sehen wir nicht einfach unsere per­sönlichen, narzisstischen, sondern unsere ge­samtgesellschaftlich-emanzipatorischen Defizi­te. Zwangsläufig gestoppt durch ein technisier­tes und bürokratisiertes Verständnis von Gleichberechtigung und Chancengleichheit, wie es Frauen in den Korridoren der Ämter entgegenschlägt, hochgepäppelt von staatli­chen Hilfen, die das Überleben garantieren, nicht das Leben (und für die Frauen auch dankbar sein müssen, denn was wäre, wenn noch nicht einmal …) so nun also sind Frauen heute weit entfernt von jenem emanzipierten Zustand von Gesellschaft, den zu erreichen sie doch einmal aufgebrochen waren. Und der ja auch die Bedingung fürs emanzipierte Gefühl wäre. Angesichts der gigantischen, entpersön­lichten, bürokratischen Apparate, die uns alle verwalten, sind Gefühle von Autonomie, Frei­heit und Erotik wie Holzschwerter und allen­falls kommt das unemanzipierte Gefühl von hilfloser Wut hoch. Die Gesellschaft stellt sich Frauen immer noch entgegen, selbst wenn die Barrieren in die Funktionale gerutscht und so scheinbar unsichtbar geworden sind. Sie bietet Frauen noch immer nicht die Möglichkeit eines gelungenen Selbstgefühls als Mensch. Und so werden beim Ansehen des Films die Defizite bewusst, die urbürgerlichen Hoffnun­gen, mit denen die Emanzipationsbewegung angetreten war und die nicht eingelöst sind. Es war immer, von Anfang an, um die Möglich­keit eines besseren Lebens und Liebens gegan­gen, um die Möglichkeit, die verschiedenen Bereiche des Lebens in ein Verhältnis zuein­ander treten zu lassen, das dem von kommuni­zierenden Röhren entspricht, die Triebe nicht im Keller einzusperren und vom vernünftigen Kopf relegieren zu lassen. Diesem Ziel sind wir in den letzten Jahren ganz sicher nicht näher­gekommen. Die Geschlechter sind androgyn geworden aus Angst. Wir müssen heute Dinge, die lange als nichts angesehen worden sind als erste Schritte, verteidigen wie letzte Errungen­schaften.

Und nun tanzt diese Person daher und zeigt uns, dass unser verkürztes Leben sich ohne größeren Gewinn an Freiheit mit einem Triebverzicht zufriedengibt, der sich oft auch noch affirmativ emanzipatorisch gebärdet, viel Resignatives, wenig Befreiendes, viel Kompro­misse, davon wenig aus Überzeugung, die mei­sten aus Not. Es kommt wahrscheinlich ein solches Knäuel an Bedürfnissen in diesen feucht-warmen Rezeptionswollüsten zusam­men, dass man sie gar nicht alle aufzählen kann: die Sehnsucht nach dem anti-psycholo­gisch direkten, nicht mehr ableitbaren, spren­genden, unbedingten Gefühl, nach Selbstaffir­mation, nach einem Körper, von dem die Lei­denschaft Besitz ergriffen hat, nach der Welt, in der alles konkret ist — und der Überdruss an Liebe als Therapie, an Schuldbewusstsein und Unsicherheit, was ja immer noch die meisten Handlungen von Frauen begleitet, die Müdig­keit an den ständigen, kleinen Schritten, die allen Mut nur in Zähigkeit verwandeln — und die Aussicht auf eine nahe Katastrophe, die als Verbrechen schon geplant wird, wie Ronald Reagans Leibarzt gerade ausgeplaudert hat. Der tiefe Zweifel, ob die Gesellschaft heute oder in den nächsten Jahren so veränderbar sei, dass Frau­en so in ihr leben können, wie sie wollen, Der Film erreicht – nicht nur – Frauen in einem kritischen Moment ihrer Geschichte.

Und – der Vorwurf – er klärt natürlich nicht darüber auf. Er macht sehnsüchtig und süchtig. Das liegt einmal an der Gewalt des Tanzes, der Befreiung ohne Begründung ist. Die Sucht nach Körper, immer mehr Körper kann sich im Tanz legitimieren, da, wo noch erfahrbar ist, was Körper sein kann, wenn er nicht Se­xualmaschine oder aseptischer Gesundheits­träger ist. Das liegt aber auch daran, dass er Frauen kathartische Therapie bietet ohne die Mühe von Analyse. Deshalb auch muss der Ki­nobesuch wiederholt werden, wegen dieses schönen Gefühls. Carmen wird zum Kultfilm, zur Regression statt zur Erkenntnis, wenn er beim Zusehen nicht verlängert wird in unsere Wirklichkeit herein und vor allen Dingen in unsere Geschichte. Wenn er nicht als Folie ge­sehen wird, vor dem sich unsere Schwierigkei­ten abzeichnen, sondern als einfaches Angebot zur Identifikation. Wenn wir alle nur noch den Kopf in den Nacken werfen, starr gucken, Ba­llettstrümpfe tragen und morgen Flamenco ler­nen wie heute Aerobic.

Wenn wir beim Anse­hen des Films uns aber ständig selbst mitsehen, dann wird klar, warum die Leidenschaft uns so mit­reißt, dass wir glänzende Augen bekommen. Denn sie ist immer noch das einzige Verhalten zur Welt und zu uns, wenn wir nicht auf alles verzichten wollen. Das Verhältnis von Frauen zur Welt ist notwendig pubertär: trotzig, for­dernd, verzweifelt und so wenig ausgewogen, wie diese Welt es bestimmt. Da stößt sich alles im Raum, praktisches Verhalten, Leidenschaft, Melancholie, Sentimentalität, Vernunft, alte und neue Selbstverleugnung und Egoismus, Empfindlichkeit, Reizbarkeit, Larmoyanz, die immer damit verbunden sind, wenn sich psychische Strukturen umbauen, ohne dass sich die Gesellschaft verändert, der sich einnistende Zweifel, wenn man das Alte nicht mehr will und nicht mehr kann, aber das Neue auch noch nicht so richtig. Das frei flottierende Elend treibt zu sehr unemanzipierten Gefühlen: Sehnsucht nach …, Wut auf …, Angst vor …, das heißt aber auch: geschichtlichen Gefühlen, Gefühlen, die unserer Geschichte entsprechen. Wo der Austausch zwi­schen den kommunizierenden Röhren gestört ist, gibt es Überfülle neben gähnender Leere, Hochspannung neben Apathie. Die misshandelten Triebe rächen sich täglich, stündlich.

Zu vermuten ist, dass das nicht ganz genau so für Männer gilt. Vielleicht fällt es ihnen leichter, das Plenum der Gefühle zu disziplinieren und den Regeln der Parlamentarischen Demokratie entsprechend neue Koalitionen, Allianzen, Bündnisse einzugehen. Dann hängt das damit zusammen, dass Männer in diese Welt hereinwachsen wie in ein angestammtes Erbe, das man als Besitz möglichst gut verwalten soll. Frauen brauchen noch Antriebskräfte für Eroberungen, sie müssen nicht nur um diesen Besitz kämpfen, sondern auch darum, erst einmal als Erbinnen anerkannt zu sein und nicht zuletzt darum, den Mut zu haben, diesen Anspruch vor sich selbst erst einmal geltend zu machen. „Es gibt kein Beispiel, dass Freiheit freiwillig gewährt worden wäre.“ (Martin Luther King). Die innere Kolonisation durch Kultur bewirkt gerade, dass die Fähigkeiten, ein machtvolles „Ich“ mit starkem Anspruch auszubilden, beschnitten werden.

So kann die narzisstische Leidenschaft zum Tor für die Geburt eines „Ich“ werden, das in den neurotischen Denkprozessen immer wütender verfehlt worden war; eines „Ich“, das den Mut hat, Leidenschaft nicht nur für Objekte aufzubringen, die dann auch gleich wieder vereinnahmt werden müssen, damit man sich das Übermaß der verschenkten Substanz, ohne die man nicht leben kann, auch wieder einverleiben kann. Ich kann dem anderen nur dann recht tun, – mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit -. wenn ich ihn nicht dazu benutzen muss, dass mir wiederum recht getan wird. Das wirklich und wahrhaftig emanzipierte Gefühl, das Frauen heu­te haben können, ist das leidenschaftliche Ge­fühl der Emanzipation, mit der sie die Frag­mentierung ihres „Ich“ überwinden.

Auch die Gefühlswelt ist zweigeschlechtlich wie der Mensch. Alexander Kluges Plädoyer für eman­zipierte Gefühl hat Nähe zu seiner Auffas­sung der Produktionsweise der Frau als Mut­ter: jemandem geben nach seinen Bedürfnissen. Nur wird hier das Modell zweiseitig: weil ich Dir gebe, was Du brauchst, gibst Du auch mir, was ich brauche. Ist das aber nicht die von al­len Triebwidersprüchen gereinigte, fast libera­listische Vorstellung der Zirkulation von Ge­fühlswaren im geschlossenen Marktaustausch, in dem jeder durch Altruismus auf wundersa­me Weise zur Befriedigung kommt? Eine Vor­aussetzung dafür wäre die Identität der Be­dürfnisse, beziehungsweise, dass alle Bedürfnis­se gegenseitig tauschbar sind, der gleiche Zu­gang zum Markt und die Ausklammerung der Triebe. Aber weder zum Markt der Gefühle noch zu anderen Verteilermechanismen haben Frauen den gleichen Zugang und ihre Gefühls­produktion hatte und hat bis heute in ihrem Leben einen ganz anderen Stellenwert als die des Mannes. Das Marktmodell ist geschichts­los. Zu vermuten ist außerdem ein (fast) Gene­rationsunterschied zwischen den Männern, die angefüllt mit nur in der Öffentlichkeit produ­zierten Gefühlen hochmotiviert in Stalingrad saßen, so hochmotiviert, dass sie ihre primären Gefühle gar nicht mehr wahrnehmen – und den Frauen der Adenauer-Zeit, die zusammengepresst vor lauter Trieb-Verdrängung an­gesichts privater und öffentlicher Gefühls­scham Sehnsucht nach einem Gefühl hatten – irgendeinem, das die Ich-Verarmung hätte auf­heben können. In diese versteinerten Leiber bringen Gefühle Aufruhr, das heißt Leben. Die Emanzipation der Leiber, materialistisches Fundament jeder Emanzipation, kann aber nur basisdemokratisch und nicht parlamenta­risch in Gang gesetzt werden. Sonst wird die Eman­zipation keine sein, oder nur die alte falsche, wenn sie nicht einen Körper hat. Sonst wird alles nur wieder idealistisch vom Kopf aus or­ganisiert und die Hierarchie von Keller und Dachboden bleibt unangetastet. Diese Grund­lage feministischen Denkens zeigt sich in der Sprache. Alexander Kluge beschreibt, um neues Licht auf alte Zusammenhänge zu werfen, Gefühle in biologischen, physikalischen, juristischen Aus­drücken. Innere Vorgänge in den Termini der äußeren, arbeitsteiligen Wissenschaft. Es reicht, ein paar Bücher von Frauen zu lesen, so unterschiedliche wie von Christa Wolff, Jutta Heinrich oder Anne Duden, um zu sehen, dass Frauen äußere Vorgänge in den Ausdruckswei­sen der inneren Körpervorgänge beschreiben. Das alles heißt nun aber nicht, dass wir uns auf Körpergefühlen ausruhen würden, sondern es ist nichts weiter als eine geschichtliche Wei­se der Betrachtung. Nicht umsonst haben wir so lange auf Rationalität gepocht. Unsere Ge­fühle sind abgeleitet aus der Geschichte von Realitätszusammenhängen, mit denen wir nichts mehr zu tun haben. Sie sind entstanden im Bodensatz der Geschichte, die gar nicht mehr die unsere ist. Wir leben aber nicht mit dem Wissen aller Zeiten in uns. Das, was uns trägt, wie die Wasseroberfläche das Schiff, ist nur die letzte Schicht, das 19. Jahrhundert.

Von da her greifen wir gierig nach einem Mo­dell an Intensität, das damals die Freiheit durch die Mauern an Konventionen hindurch­sprengen wollte, heute aber die inneren Barrie­ren sprengen könnte, die uns den Weg zu uns selbst versperren. Es war Simone de Beauvoir, die davon gesprochen hat, dass die Frauen sich erst einmal mit sich selbst identifizieren müssten. Gefühle als Momente von Geschichte leben, der eigenen biographischen, der allgemein historisch und nicht als Momen­te einer dumpfen und unerklärlichen Ewigkeit, ist ein erster Schritt zu ihrer Emanzipation, denn dann sind sie Zeichen der Zeit und ver­binden uns mit der Erde und nicht mit dem Himmel.
Wenn wir unseren Gefühlen dieses Geschichtsbewusstsein aufnötigen, ihnen ihre eigene Ge­schichte immer wieder vorerzählen, dann wer­den sie nicht schwächer, aber luzider und emanzipierter. Wenn wir uns erlösen könnten von dem puritanischen Gedanken, dass ein Ge­fühl sich immer auf etwas anderes beziehen muss als auf uns selbst, wenn wir die verdrängten narzisstischen Anteile an unseren Gefühlen nicht nur zulassen. sondern auch bewusst ma­chen, dann schließen sich Leidenschaft, Tech­nik, Rationalität und Spiel nicht mehr aus. Der spielerische Umgang mit der Realität ist Kreativität. Spielen hat nur im Deutschen den Beigeschmack von „nicht ernst sein“. Sonst bedeutet es: eine lustvolle Weise, in der beim Erproben von Zusammenhängen die Spielenden sich als in der Welt-Seiende erpro­ben. Kreativer Umgang mit sich selbst heißt: dass sich meine Gefühle ihrer Geschichtlichkeit bewusst sind und dabei ihren eigenen Vollrausch genießen, denn das Gefühl, zu sich selbst geschichtlich auf Distanz gehend, kann diese Distanz im Selbstbewusst wieder überwinden und so zu Selbst-Bewusstsein kommen. Das wäre dann der Naivität zweite Stufe, die Spielen wieder gestattet. Das Leid wäre damit nicht aus der Welt, aber ein Happyend hätten wir trotzdem nicht nötig. Es ist eine Utopie, die uns aus der Romantik herüberweht.

Ästhetik und Kommunikation, 1983, Heft 53/54
Ästhetik und Kommunikation, 1983, Heft 53/54

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