Kolossale Liebe

Gespräch zwischen der Kulturwissenschaftlerin Gerburg Treusch-Dieter und Jutta Brückner über „Kolossale Liebe“

Das Unbewusste ist uns so fremd wie die Außenwelt.

G.: Ich werde in den Film eingesogen ohne jede Referenz. Es ist ein Zeitsog, der über Fragmente von Raum führt, ein Fließen … Und das erste Erkennbare, das ich sehe, ist ein Wolf. Sofort habe ich mich gefragt, ob er für Hunger steht, Wolfshunger, aber dann kommt das Tor und der Wolf verschwindet im Schneehaufen hinter dem Tor und ich begreife, dass das Tor die Wildnis abschneidet und nehme meine Symboldeutung sofort zurück.

J.B.: Diese quälende Frage nach den Symbolen kenne ich ja. Das liegt wohl an der Struktur von Kino heute, dass jedes Bild, das sich nicht zwingend in den Handlungsfluss einordnet, sofort zum Symbol gemacht wird. Aber die mehrdeutigen Bilder in diesem Film sind keine Symbole für nichts. Ein Symbol setzt voraus, dass ich einen Begriff materialisieren will, aber meine nicht-realen Bilder stehen nicht für Begriffe wie Sehnsucht, Seele, Liebe usw.

G.: Es gelingt nicht, die Sequenzen symbolhaft zu entschlüsseln. Ich habe angefangen und sofort wieder aufgehört. Sie können nicht gedeutet werden. Es sind Bilder des Unbewussten, die als virtuelle Realität hereinspielen in eine ganz eindeutige Handlung, in der jemand jemanden gerne lieben würde, aber nicht kriegt und einen anderen verachtet, aber braucht und deshalb schließlich nimmt. Es kommt hier etwas Fremdes herein, das man noch nicht gesehen hat.

J.B.: Es gibt so viele Dinge, die im realistischen Film absolut nicht realistisch sind, sondern Konventionen des Zeigens. Die Art, wie Leute essen, wie sie miteinander reden. Auch die stotternd spontane Sprache im amerikanischen Film ist hoch künstlich. Ich wollte zeigen, wie sehr das Unbewusste in einen normalen Dialog einbricht, eine zweite Realität immer anwesend ist, wenn ganz eindeutige Dinge passieren, Menschen sich mit vernünftigen Worten verständigen, usw. Insofern behaupte ich, dass dies ein vollkommen realistischer Film ist …

G.: … das Unbewusste ist uns so fremd wie die Außenwelt. Immer, wenn es um das Unbewusste geht, ist die Außenwelt da. Die Innenwelt bricht hier in der Gestalt der Außenwelt ein. Und so werden psychische Räume geöffnet, aber nicht abgefilmt.

J.: Wie filme ich den Anteil des Unbewussten, den es in allen unseren Handlungen und Sätzen hat, das war immer ein ästhetisches Problem für mich. Wir wissen ja, dass das Individuum nicht König ist im eigenen Haus. Aber wer regiert und wie zeige ich das? Dieses Problem stellt sich hier. Natürlich habe ich auf die Diskussion der Romantik zurückgegriffen, wo ja Naturbilder als Metaphern des Unbewussten gesehen worden sind. Und natürlich ist es nicht falsch, wie die Romantik es tat, das Wasser, von dem Rahel in bestimmten Situationen überspült wird, metaphorisch zu deuten. Aber wenn man genau hinsieht, sieht man im Wasser einenFuß und noch ein paar Dinge. Und damit hört die Metapher auf

G.: Wir wissen, dass 99 % unserer Wahrnehmung ‚sinnlos‘ sind. Das Unbewusste hat keine Sprache.

J.: Was ich durch die modernen Medien heraustreiben möchte, ist die in den Kopf getriebene „erkaltete Herzensschrift“, wie die Autobiographie genannt worden ist. Die Sprache ist nicht mehr im Körper eingeschlossen, sie hat sich befreit ins Bild und das heißt, sie hat sich abgelöst. Daneben gab es natürlich auch noch sehr eindeutige Vorstellungen davon, was ich erzählen wollte und die waren nicht mit irgendeiner Geschichte zu realisieren, wie dies ja der Fall wäre, wenn es nur um die Struktur des Unbewussten gehen würde, sondern was ich erzählen wollte, ging eben nur mit dieser Geschichte einer deutschen Jüdin in der Romantik …

G.: … die ihr Leben verbringt mit Briefeschreiben. In ihren Briefen werden die Worte zu Kapital. Varnhagen erzielt dann daraus Zins und Zinseszins. Das ist die Ebene der nachvollziehbaren Handlung mit ihren Metaphern, dem Spiegel als der unendlichen Reflexion, den Bildern für das Lebendig-Begrabensein, oder den Bildern der Schamlosigkeit, des Selbsthasses, eingesperrt in eine Schüssel, ihr Geschlecht. Rahel hätte wahrscheinlich gesagt: „Mangelnde Grazie“, aber dieser Selbsthass sprengt genau so alle Grenzen, wie ihre Körperlichkeit auch in den realen Bildern ständig an Grenzen stößt.

J.: Diese Bilder sind in der Video-Postproduction entstanden. Es hat mich schon seit Jahren interessiert, herauszufinden, wie Video eingesetzt werden kann, um innere Räume zu schaffen. Mich erlöst die Videotechnik vom Zwang der Konkretion, der sonst allen Filmbildern anhaftet.

G.: Es ist ja schon lange darüber gesprochen worden, dass die Videotechnik Bild und Schrift wieder zusammenbringt. Dadurch kann sich dem Film eine Ebene von Faszination erschließen, die er bisher nicht hatte, die Faszination des Textes. Aber das passiert ja ganz selten in Spielfilmen. Es ist, als ob das Narrative sich dagegen sperren würde. Nun hast Du ja hier ein Thema, das sich einer solchen Verbindung geradezu aufdrängt. Der Film geht ja nahtlos aus einem Brieftext in einen Monolog und einen Dialog über. Man weiß ja nie genau, in welchem Moment von Kommunikation man sich befindet. Es ist ein einziger Fluß von Kommunikation…

J.: … der Stoff der Dialoge setzt sich ja aus den Briefen zusammen, die sich Rahel mit Gentz, Marwitz, Varnhagen geschrieben hat. Ich war da den Formulierungen ganz treu, ich habe vieles ganz wörtlich übernommen …

G.: Es ist ein einziger Fluss von Kommunikation, aus dem mal der eine und mal der oder die andere herausragt. Aber dadurch bleibt der Film in einer bestimmten Distanz, er bekommt nie den Charakter der unmittelbaren Handlung. Die erzählte Geschichte bricht sich wie im Prisma. Die Videotechnik schafft endgültig die Analogie von Film und Theater ab. Deshalb bin ich auch verblüfft, wie wenig das ein historischer Film ist, trotz der Kostüme und der Sprache.

J.B.: Ich weiß nicht, ob nicht auch die Konzentration auf einen Raum dazu beiträgt. Der Raum ist ja eigentlich ein Theaterraum. Aber ich glaube, der Eindruck des Historienfilms entsteht immer nur durch historisierende Außenräume. Ein historischer Innenraum ist immer auch eine Metapher für die Erinnerung, das Gedächtnis. Aber mich hat die Tatsache, dass hier eine historische Geschichte erzählt wird, vor ein ganz anderes Problem gestellt. Das Problem hatte ich schon mit meinem allerersten Film: wie filmt man historische Körper? Da geht es nicht nur darum, besonders gut und passend zu besetzen. Historische Personen sind immer Produkte unserer Vorstellungen, es gibt in der Realität für sie keine Analogie. Und hier stieß ich besonders heftig mit der Konkretion zusammen, die Filmbilder ja immer haben. Ich wollte aber, dass sie die Weichheit und Unschärfe behalten, die Vorstellungen nun mal haben. Das ist ja neben anderen einer der Gründe, warum uns Filme nach Büchern immer so sehr enttäuschen, weil sie unsere Vorstellungen konkreter machen, als wir es gern hätten. Wir haben deshalb mit extrem weichem Material gearbeitet, die Umrisse werden dadurch undeutlicher. Ich wollte die Personen in einer Spannbreite zwischen Deutlichkeit und Undeutlichkeit belassen.

Ich vermute auch, dass dies der Wahrnehmung der Romantik entspricht, denn ‚Sehen‘, ‚Wahrnehmen‘ war ja nicht zu allen Zeiten, in allen Epochen das gleiche.

G.: Du hast zwei moderne Zitate im Film, einmal Magritte, einmal Frida Kahlo, sehe ich das richtig?

J.: Ja. Bei allem Authentischen und Historischen, was die Texte und die Handlung angeht, ist es eine moderne Interpretation. Für mich ist Rahels Geschichte, so wie Hannah Arendt sie erzählt – und darauf habe ich mich gestützt – unglaublich modern. Nicht nur, weil wir die Geschichte ja ohnehin nur durch unser Verständnis fassen können. Rahel war eine Moderne vor ihrer Zeit. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es in diesem Film für ganz viele Leute einen Satz gibt, den sie als persönlichen Sinnspruch, als eine Art Lebensmotto, sofort akzeptieren können. Für mich war es der, der auch auf dem Plakat steht: „Das halte der Teufel mit Grazie aus!“

G.: Wenn Du mich jetzt bitten würdest, den Film zu beschreiben, könnte ich das gar nicht. Gut, da ist eine Liebesgeschichte zwischen einer Frau und mehreren Männern, teils rekonstruiert, teils phantasiert, teils real. Das ist aber auch schon alles. Ich könnte keine konsistente Handlung erzählen, aber ich habe den Eindruck, ungeheuer viel gesehen zu haben.

J: Es gibt zwei Fassungen von dem Film. Die erste habe ich 1993 gemacht als Studioproduktion für das ZDF. Aber das, was ich damals wollte, war innerhalb des Budgets und auch der Arbeitsweise der Studios nicht zu realisieren. Ich wollte die Elektronik anders einsetzen, aber das geht nur, wenn du konkret sagen kannst, was du mit welchen Geräten an wie vielen Tagen machen willst, damit das kalkulierbar ist. Aber ich bin ja kein Techniker, der wissen kann, wie man diese hochkomplexen Apparate ausreizt und sie zu anderen ästhetischen Ergebnissen bringt und hätte eine Phase des Experiments gebraucht. Das war nicht möglich. Ich erinnere mich, dass ich ein Gespräch mit einem sehr freundlichen Techniker in seiner Mittagspause hatte, während er aß. Das war der einzige Moment, wo er mir etwas über die Ästhetik der Maschinen erzählen konnte.

G: Deine Suche richtet sich ja auch immer auf die andere Form, in der Du Deine Interpretationen von weiblichen Biografien erzählen kannst.

J: Ja. Deshalb schien mir die erste Fassung von „Kolossale Liebe“ immer unfertig zu sein. Ich war sehr begeistert von meinen Darstellern, Kirsten Dene und Ulrich Gebauer, aber ich wollte keine Salongeschichte erzählen, in der Menschen miteinander diskutieren, sondern eine Seelenbiografie.

G: Du hast doch zwischen der ersten Fassung von „Kolossale Liebe“ und der Überarbeitung „Ein Blick – und die Liebe bricht aus“ gemacht…

J: Ja, und dabei habe ich gemerkt, was mir an „Kolossale Liebe“ fehlte. Dieser einzige kleine Studioraum, in dem 7 Jahre von Rahel Varnhagens Leben ablaufen, war erschreckend real in seiner Enge, aber das repräsentiert nur einen Teil ihres Lebens. Sie flieht vor dieser Bedrückung immer wieder in imaginäre Räume, die waren aber mit den herkömmlichen filmischen Mitteln nicht herzustellen. Und nach der Erfahrung von „Ein Blick – und die Liebe bricht aus“ habe ich „Kolossale Liebe“ noch einmal in Angriff genommen.

G: Aber die Räume sind doch nach der Aufnahme durch die Kamera festgelegt, Du konntest die Bilder doch nicht mehr ändern…. Aber vielleicht sollten wir erst einmal darüber reden, wie das bedeutet: wenn man einen Film noch einmal überarbeitet nach wieviel Jahren?

J: 4 Jahren. Das hieß auch, dass das Thema sich in neuer Weise und vielleicht leicht verschoben für mich präsentiert hat. Auch Rahel hatte lange Zeit diesen Wunsch nach der Verzauberung, den ich in „ein Blick- und die Liebe bricht aus“ behandelt habe, und ihre Suche nach der Verzauberung endete immer wieder in der Katastrophe, weil sich zum Teil auch umgekehrte Pygmalion-Geschichten darin verbargen….

G: ..wahrlich, wahrlich …….

J: ….. sie hatte mit allen Mitteln versucht, das Verlangen nach der Verzauberung irgendwie aufrecht zu erhalten und sich selber auch in dieser Verzauberung zu halten. Denn wenn ein Teil der Welt entzaubert wird, bleibt man davon ja nicht unberührt. Erst als sie ganz am Boden ist, als sie erkennt, dass ihre Suche nach Liebe immer nur die Suche nach Leben war, ist sie bereit, Varnhagen den Brief zu schreiben: „Jetzt kommst Du auf der Stelle und heiratest mich. Ich gestatte dir keine Sekunde länger, dich da draußen auf Kriegsschauplätzen herumzutreiben und schöne Abenteuer zu erleben, während ich hier herumsitze und aus der Gesellschaft ausgeschlossen auf Dich warte.“ Und er tut es.

G: Der Mann ist die Eintrittskarte in die Gesellschaft, d.h.: sobald er fehlt, wird deutlich, was er verdeckt.

J: „Kolossale Liebe“ erzählt, wie Rahel erkennt, dass sie bisher einem falschen Traum nachgelaufen ist, dem Traum nämlich, dass die heilige Liebe vom Himmel auf die Erde fällt, und jetzt das Leben in der Form der irdischen Banalität akzeptiert, weil nur so das Eingeschlossensein zu beenden ist.

G: Die Teilhabe der Frau an der Gesellschaft geschieht immer nur um den Preis des sich Ausschließens und des Rückzugs auf ihren Bereich, den sie verwaltet, nur dann gehört sie dazu. Der Mann, der Vater ist das Scharnier. An dieses allgemeine Leben, das Rahel will, kommt sie nur heran über Varnhagen und gleichzeitig ist das dann nicht das Leben, wie sie es sich vorgestellt hat. Das heißt eben: diese Verbindung von allgemeinem Leben und Liebe gelingt ja offensichtlich nicht. Wenn wir von diesem fiktiven Rahmen gesprochen haben, der die Paarbeziehung inzwischen ist, wenn wir meinen, auf ihn nicht verzichten zu können, ist es möglicherweise eine Bedingung der Möglichkeit, die Frage des Ausgesetzt-Seins aufs Äußerste auszureizen? Bedingt das Eine das Andere, und zwar im paradoxen Sinn und nicht im dialektischen Sinne? Wenn man sich ausliefert, wenn man eine Aussätzige bleiben will, ausgesetzt sein will, weil man keinen Ersatz will, muss dann – ja, so wie es die Lösung der Rahel war – und die Steffin wäre ja auch am liebsten die Frau von Brecht geworden…

J: Im Fall von Rahel wird zuerst einmal ihr Selbstbild beschädigt. Sie hatte immer gesagt: Ich kann nicht fordern, was nicht freiwillig gegeben wird. Jetzt sagt sie: Ich hole mir jetzt durch die Forderung nach Heirat, worauf ich ein Anrecht habe, erst einmal, eine Basis, auf der ich meine physische und materielle Existenz leben kann.

G: Mir fällt ein Satz von Ingeborg Bachmann ein, der mich sehr beschäftigt. Die Autorin begegnet sich da in gewisser Weise selbst, sie spricht als Mann in der Erzählung „Alles“, sie lässt dann diesen Mann, den sie spricht, zur Frau gehen, die sie ebenso ist. Und in dieser Weise treffen die sich am Schluss, und er sagt, sozusagen mit der Stimme der Autorin: er geht zu ihr, damit sie ihn in der Welt hält und er sie. Wann würde uns das zugänglich sein, dass das „in der Welt sein“ von diesen Strukturen abgekoppelt sein könnte, oder ist es gar nicht wünschenswert? Das ist ja die große Frage, ob das nicht letztlich das Problem ist, dass es sonst noch immer keinen Ort an der Teilhabe der Gesellschaft gibt, es sei denn über die Eintrittskarte „Ehe“.

J: An dieser für mich ungelösten Frage halte ich fest. Und meine Dramaturgie hält sich daran, dass dieses Material löcherig ist. Ich baue den Raum von innen aus. Ich durchlöchere den Raum mit Spiegeln, ich spiegele Fenster ein an Stellen, wo Wände sind. Auf diese Weise schaffe ich die Illusion, dass diese Wand transparent ist oder durchlässig.

G: Aber konntest du die Geschichte in der Überarbeitung denn neu interpretieren?

J: Ja, wenn auch die Form, die man einer Geschichte gibt, Interpretation ist, und das glaube ich. Für mich ging es beim Bildermachen immer um das Hinausgehen über die Ränder der Bilder. Seit meinem ersten Film war das Fürchterlichste für mich immer die Frage der Kadrierung, des Abschneidens links und rechts. Wo schneidet man durch die Wahl des Bildausschnitts die unendliche Fülle der Möglichkeiten des Raums ab, denn unsere reale Wahrnehmung ist ja schweifend, die Kamera schneidet daraus ein Segment. Wenn man kadriert, schafft man einen völlig neuen Raum. Ich bin damit nie zur Ruhe gekommen. Die Kamera ist in der Hinsicht ja wirklich ein männliches Auge, kein weibliches Auge und das Auge der technizistischen Moderne. Ich habe in der Überarbeitung von „Kolossale Liebe“ die Bilder mit Hilfe der Elektronik übereinander geschoben. Mehrere Räume flossen jetzt ineinander. Und so ergab das einen Strom von Rahels Erinnerung, der nichts abschneiden will, der auch Unchiffriertes zu Wort oder ins Bild kommen lässt, halb Gesehenes, halb Bewusstes, unterschiedliche Grade an Realität. Der Film erzählt jetzt nicht einfach eine Geschichte aus der Romantik, sondern eine über die romantische Wahrnehmung, die ja eine vor-technische war, eine unzerstückelte. So ist es von dem Salonstück zu einem Stück über Rahels Wahrnehmung geworden.

G: Der Zusammenhang, ästhetisch gesehen, zwischen „Ein Blick- und die Liebe bricht aus“ und „Kolossale Liebe“ liegt auf der Hand. Ich denke jetzt zuerst einmal an das Fenstermotiv. Schon, wenn das Brautpaar als Hochzeitsfoto im Spiegel steht, dann fällt ja von hinten das Fenster rein, so dass der Raum gleich unendlich geöffnet ist. Mir fiel sofort ein: Das ist wie die von Foucault interpretierte Ordnung der Dinge, von Velasquez, gemalt in „Las Meninas“, dort ist es der Maler mit der Palette, von dem aus die gesamte Komposition dann läuft. Es geht aber jetzt einen Schritt weiter, denn Du bist ja nicht mit der Palette drin im Bild. Das heißt: es ist ja wirklich das eingefangene Bild und der Einfangende ist nicht drin im Bild. Nun wird der Raum geöffnet in der Spiegelung und es kommt ein Gegenraum rein, angedeutet durch das Fenster. Wir selber als Zuschauer sehen in den offenen Raum, blicken in alle drei Dimensionen, sprich in den Raum, innerhalb dessen der Spiegel steht, dann der Spiegel selbst als Spiegelung der beiden, das ist der zweite Raum, von hinten kommt der dritte Raum rein. So gesehen säße ich in der vierten Dimension. Und was mich interessiert ist, wie diese Raumbehandlung, sagen wir mal, ausfranst …….

J: Wo du nicht mehr von Kadrierung reden kannst, denn es gibt unendlich viele Kadrierungen in der Binnenmontage.

G: Du gehst ja eigentlich davon aus, dass der kadrierte Raum schon das entstellte Begehren ist. Hast du die Konzeption, die auf der Spiegelung, zum Teil der unendlichen Spiegelung, aufbaut, schon in „Kolossale Liebe“ gefunden?

J: Nein, ich habe den Weg über „Ein Blick – und die Liebe bricht aus“ gebraucht. Ich habe aber schon in der Urfassung darauf bestanden, dass in Rahels Raum, der in dem Studio eingerichtet wurde, drei Spiegel sind und zwei davon sind sich genau gegenüber. Es war ja eine Studioproduktion mit 3 MAZ-Kameras und deshalb war das für die Kameraleute ungewohnt und mühsam, weil sie jetzt nicht nur aufpassen mussten, dass sie sich selbst nicht gegenseitig über die Kabel fuhren, und noch dazu, dass sie sich nicht gegenseitig im Spiegel sahen. Aber es gab über die Spiegel viel mehr perspektivische Möglichkeiten in diesem einen Raum, selbst wenn die Bewegungsfreiheit eingeengt war.

G: Mit Spiegeln zu arbeiten ist ja ein klassisches Mittel der Filmkunst…

J: ….aber es ist unüblich in MAZ-Produktionen auf beschränktem Raum, eben weil es ständig die Gefahr gibt, dass die Kameras sich selbst sehen. Es hat mich aber gereizt, weil die Elektronik im Gegensatz zum Film eine große Tiefenschärfe hat. Es kam mir sehr viel mehr auf die möglichen Perspektiven an als auf die Bewegung. Das Wichtigste war da schon für mich der Blick auf den Raum und nicht die Bewegung im Raum. Und auch die diagonalen Blicke aneinander vorbei, die zu leeren Blicken werden, weil der andere, der gemeint ist, nur über den Spiegel zu sehen ist. Bestes Beispiel ist die Szene zwischen Marwitz und Rahel auf dem Bett, in der sie den letzten Vorstoß macht, um ihn als Liebhaber für sich zu interessieren und er ihr mitteilt, dass er sich in Fräulein Schleiermacher verliebt habe. Ihre Blicke gehen diagonal aneinander vorbei, sie treffen sich nur im Spiegel, während ihre Körper sich sehr nah sind und sie sich gerade ihre größten Intimitäten erzählen. Aber es gibt keine gemeinsame Intimität. Seine ist nicht ihre, und ihre ist nicht seine.

G: …ja, das ist sehr subtil gemacht…….

J: Ich war also vorbereitet, als ich in Buenos Aires auf einen Kameramann traf, der gleich in einem der ersten Bilder, die er machte, nicht im klassischen Sinne den Spiegel einsetzte, um eine Person zu spiegeln, oder um eine Perspektive, die sonst schwer oder gar nicht zu kriegen ist zu ermöglichen. Nein, er spiegelte leeren Raum. Das war für mich die Apotheose überhaupt. Der leere Raum! Und da habe ich gemerkt, danach suche ich seit Jahren. Kein Mensch, mit dem ich bis dahin zusammengearbeitet hatte, hatte das je gemacht. Und ich weiß auch nicht, ob es vorher überhaupt schon einmal so gemacht worden ist.

G: Das ist ja spannend.

J: Wenn im sichtbaren Raum leerer Raum gespiegelt wird, sich also der Raum mit dieser Spiegelung von anderen leeren Räumen als Raum zersetzt, dann verliert der Raum seine Konkretion. Und er tritt ein in seine Symbolisierung als weibliches Begehren. Das zweite ist mir neulich erst aufgefallen. Eine Gruppe von Frauen sprach darüber, was denn nun eigentlich das weibliche Begehren sei. Es gibt in diesem Sinne kein Bild, kein Zeichen. Da tauchte der Satz auf: das weibliche Begehren ist der Raum. Und das konnte ich sofort für mich akzeptieren, weil mein größtes Problem immer der Raum war und die Symbolisierungen des Raumes, die Imaginierungen des Raumes. Wie mache ich aus einem konkreten Raum einen nicht konkreten Raum? Denn neben den topographischen Räumen gibt es ja ganz viele andere: die Räume der Erinnerung, die Räume des Unbewussten…. Und wie umgehe ich damit gleichzeitig die Beschränkung auf den abgeschnittenen, künstlichen Raum, den die Kamera schafft.

G: Ich werde jetzt erst selber durch dich darauf gestoßen, zu sehen, dass Du als Frau Raum bist. Wir hatten ja schon mal von dem Körperraum gesprochen, der geöffnet wird, eben durch deine Art und Weise der Bilderfindung. Also die Frau ist Raum, das hat auch was mit der Schwangerschaft zu tun, dass wir uns als Raum wahrnehmen, das Geschlechtsteil ist innen, jedenfalls im Körperinneren. Da kann der Blick nicht hin. Deshalb wird ja auch das Auge der Frau – wenn man sich die Symbolisierungen anguckt- immer mit dem Geschlechtsteil gleichgesetzt. Ein Buch könntest du darüberschreiben, von wo aus eine Gleichsetzung Auge – Frau – Geschlecht in Gang kommt. Die Ausscheidungen des Auges, die Tränen, sind ja auch ein wichtiger Teil der Flut der Flüssigkeiten, die dem Weiblichen assoziiert werden. Luce Irigaray und andere haben das ja aufgenommen, theoretisch, die Frage der Flüssigkeit. Der Raum als Begehren der Frau, zumindest der Raum als Ausdruck des Begehrens der Frau, das ist mir jetzt neu. Ich habe das bisher auch noch nicht gefunden, und das finde ich ganz ungeheuerlich gut. Dann ist es aber eigentlich der Schlüssel für diese Frage, von wo aus entrinnt man dem Blick der Kamera ……

J-. …insofern sie segmentert, kadriert. Es geht mir um das Durchbrechen dieses Raumes, jetzt nicht in der gewaltsamen Form als Zerstörung, sondern als Aufhebung durch Multiplizierung, indem er doch noch besteht als unendliche Möglichkeit. Und hier ist die Frage dann sehr schnell, wie kann man das einsetzen, ohne die Narration zu verlieren. Bei „Lieben Sie Brecht?“ habe ich ja die ästhetischen Möglichkeiten, die ich mir inzwischen erarbeitet hatte, alle eingesetzt. Ich habe mich bemüht, die richtige Balance zu finden zwischen Erzählung und formalen Innovationen, denn diese Balance ist mir wichtig. Sie ist meine Form von Netz. Ich bin ja keine Experimentalfilmerin, weil ich mich immer für Menschen und ihre Geschichten interessiere.

G: Diese Balance wäre ja nicht möglich gewesen, wenn es nicht diese beiden anderen Filme gegeben hätte…

J: Nein, die waren wesentlich und sie stehen ja auch für sich. Es waren ja keine Experimente, die man macht, wenn man nur etwas ausprobieren will.

G: Für mich ist die Kontinuität in der Wahl der Mittel zwischen diesen Filmen ganz klar…

J: Ja, aber nur sehr wenige Zuschauer achten heute auf so etwas. Das Interesse wird gefesselt von der Geschichte, die sich authentisch gibt, als rolle sie jetzt in diesem Moment vor den Augen des Zuschauers ab. Die Art, sie zu erzählen, vermittelt sich für viele nur subkutan. Film ist heute keine Erzählung, sondern Erlebnis von Authentizität. Es ist ja erstaunlich, wie stark das Bedürfnis nach Authentizität heute ist, als würde man dem eigenen Leben nicht trauen.

G: Du hast ja das Gewicht der Erzählung nie gering geachtet….

J: Nie! Aber es ging mir immer darum, dass andere Erkenntnisse und Gefühle auch anders erzählt werden müssen. Und dabei geht es mir nicht um Stil. Stil ist für mich eine Kategorie der Beschränkung. Es ging mir immer darum, die jeweils in meinem Sinne richtige Form für die Geschichte eines Menschen zu finden, die innere und die äußere Geschichte und wie sich das miteinander verschränkt.

G: Es ist ja auch das Einzige, was einen wirklich bewegt ……

J: Ja, weil auch wir im Leben davon bewegt werden. Aber ich wollte, auf die unterschiedlichsten Weisen, immer „anders“ erzählen.

G: Wobei ich mich jetzt gerade frage, also das mit dem Raum …….Die Philosophie hat ja schon seit 600 vor Christus das Problem, ist die Frau das Unbegrenzte oder das Begrenzte, das ist ja nun der Ausgangspunkt aller Philosophie. Wie grenzt man diesen Raum ein? Genau das, was du da aufbrechen willst. Und gelungen ist es ja, die Frau zu immobilisieren auf den Innenraum des Hauses, was Du ja andauernd zu durchbrechen versuchst und dann auch faktisch machst, so gesehen hättest du ja auch Architektin werden müssen…

J: Ja, meine Ausbauleidenschaft wird mir auch ständig vorgeworfen, ich finde nichts so aufregend, wie vorhandene Wohnung mit Durchbrüchen und Ausbauten zu verändern…

G: Drücken wir es doch noch mal mit der Psychoanalyse aus: die Neurotisierung der Frau drückt sich ja im permanenten Möbelrücken aus.

J: ..Ständig, ständig,

G: .. unfähig den Raum selbst noch aushalten zu können und ihn doch auch nicht durchbrechen zu können. Also darüber könnten wir jetzt noch Stunden reden…

J: …. als Endlosschleife in einer Form, die auch das neurotische Begehren reproduziert.

G: Also da ist der Raum das erzwungene Begehren der Frau, ein völlig entstelltes Begehren. Aber wahrscheinlich wendest Du dich deshalb vom möblierten Raum ab und willst den leeren Raum, weil im möblierten Raum sie selbst auch das Möbel ist. Das ist ja in „Hungerjahre“ ganz deutlich. Dem gehen aber voraus diese endlosen Klärungen, in welcher Weise kann man die Materie -gleichgesetzt mit Frau – überhaupt organisiert werden. Wie kann man sie zerschneiden, passivieren, das Aktive wegkriegen, und wenns denn doch irgendwie da ist, wie kriegt man das Aktive unter den Bedingungen der Passivität, des Mangels in sie rein, also da wurde wirklich in unserer Kulturgeschichte keine Mühe gespart. Immer kann nur der Geist, über den man ja gar nichts sagen kann, er ist ja einheitlich in sich selbst, immer gleichbleibend, nur er kann ja über das andere reden…

J: Das ist unser Bild von Identität…

G: .. die wenn sie überhaupt über sich etwas aussagen will, eigentlich das tote Auge ist. Das ist die vierte Konnotation bei Bataille, dass dieses Auge an sich, ja, nennen wir es jetzt das Auge nach innen und außen, gleichzeitig das stillgestellte, das tote Auge ist. Das ist das Auge des Geistes, das sich überhaupt nie sehen kann und nur darauf angewiesen ist, zu überwachen. Es kann ja überhaupt nichts anderes machen. Es hat ja keine Materie, gar nichts, glotzt nur immer die Anderen an. In diesem Sinne: wie können wir die Materie unterteilen? Was für Kadrierungen gibt es da, kann man die dann noch mal in sich schachteln und so fort und sie mechanisieren, automatisieren, maschinisieren, heute wird sie elektronifiziert. Das sind alles Sachen, die in die Geschichte dieser verbauten Medien, – Deine Frage: welche Ästhetik ist da verbaut? – hineingehören.

J: Vielleicht hilft es uns weiter, wenn ich sage, so wie ich den Spiegel einsetze, ist er ja keine Metapher, es sei denn man definiere ihn als leere Metapher und von da kommen wir wohl ganz schnell wieder zum leeren Blick und zum leeren Raum. Aber ich würde auch sagen, er ist ein Medium, aber kein Medium im Sinne eines technischen Hilfsmittels, sondern ein Medium fast im parapsychologischen Sinne des Wortes, in dem etwas erscheint, was auf andere Weise nicht erscheinen kann…

G: Ich meine ja, dass das in Kolossale Liebe schon passiert. Da kommt es, da kriecht es schon ran, da quillt es ja rein…..

J: Empfindest Du es so?

G: Das ist unglaublich, das ist Materie in Bewegung. Du beschreibst ein weibliches „Ich“, das diese Materialität im Spiel hält. Denn die hat, – wenn sie entschlüsselt wird in ihrer ganzen Textur – einen anderen Reichtum als den des Geistes.

J: Ich habe ja vieles ganz unbewusst gemacht, ästhetische Entscheidungen sind immer unbewusst. Aber darum ging es mir: der Raum und die Materie des Unbewussten…

G: Der Raum ist übrigens immer unbewusst. Das schreibt ja auch schon Kant mit dem Transzendentalen, der ist immer vorausgesetzt und wir können ihn in der Erfahrung erfahren, aber was ist es eigentlich? Er überliefert das Ganze dann der Vernunft, aber du willst es ja gerade nicht der Vernunft….

J: Nein, ich will es gerade nicht der Vernunft überliefern …..

G: Deshalb kriecht es da ja nun schon aus allen Ecken und Enden rein und durchkreuzt auch schon die Spiegelmetapher. Beispielsweise diese Schüssel, die da schwappt, das ist ja eine völlig andere Art des Spiegels, wo nie klar ist, ist da eigentlich was in der Schüssel, oder spiegelt sich was in der Schüssel, also da kommt ja schon eine ganz andere Umgangsweise mit dem Materiellen rein. Ich gehe davon aus, dass man „Ich“ nicht reduzieren darf auf eine Subjektivität, wie sie ein Teil der Psychoanalyse konstruiert. Ein solches „Ich“ enthält nur die Gier nach gesellschaftlicher Anerkennung und die ist ja nur über phallische Werte zu haben. Man muss den Blick weiten.

J: Das ist auch genau das, was viele Zuschauer immer wieder ratlos lässt, gar nicht so sehr die Frauen übrigens. Es ist erstaunlich, dass die Frauen in ganz vielen Fällen auf die „Kolossale Liebe“ sehr positiv reagieren, das ging bis zu Tränen. Ich denke, das hat etwas damit zu tun, dass dieser Film trotz seiner vielen und schönen Sprache, die ja direkt aus den Briefen von Rahel Varnhagen stammt, Fragen auf einer Ebene gestellt und beantwortet hat, die weit vor dem Verbalen liegt. Deswegen wirkt der Film offenbar auch nicht intellektuell, im Gegensatz zu „Ein Blick- und die Liebe bricht aus“, der wirkt auf viele ausgesprochen intellektuell.

G: Auf mich überhaupt nicht, ich habe ja gesagt, ich habe das Gefühl, ich habe ihn gestern gesehen. Also mir kriecht der total unter die Haut offensichtlich, und ich sähe eigentlich eher zwischen diesen beiden Filmen die Kontinuität: die Entdeckung des Raumes, wie du das vorhin beschrieben hast und von da aus ein völlig anderes Weiterarbeiten an „Kolossale Liebe“.

J: Ja, das ist es auch. Das Umdeuten der Urfassung durch eine andere Interpretation des Raumes. Der erste Satz der zweiten, überarbeiteten Fassung ist: „In einen Toten geht man hinein wie in eine offene Stadt.“ Ich habe diesen Satz von Sartre benutzt, um klar zu machen, dass ich einen Film über eine historischen Figur nicht einfach im üblichen filmischen Präsens machen wollte.

G: Also von wo aus kann der Raum als Begehren nicht nur der Frau, sondern auch weitergehend, ohne dass man sich an den Begriff der Frau hält, erfahren werden? Gut, jetzt kannst du sagen von einem Flugzeug, du kannst auch sagen, ich nehme eine fahrende Kamera, du kannst auch sagen, ich fahr Fahrrad oder geh zu Fuß. Es ist letztendlich der Ausgangspunkt der Frage notwendig der, du kannst ihn nur von der eigenen Bewegung erfahren, nur wenn du dich in Bewegung setzt. Jetzt kannst du alle Medien dazuschalten, aber nur wenn du dich in Bewegung setzt, lieferst du nämlich in Bewegung deinen Blick einem Medium ab, so und so chemisch oder elektronisch fixiert, das die Bewegung fortsetzt. Aber an sich ist der Ausgangspunkt die körperliche Bewegung. Und insofern würde die körperliche Bewegung dann ihre Zeit in sich tragen, denn Raum und Zeit sind ja noch mal ein heißes Thema, das ist ja jetzt noch gar nicht angesprochen gewesen.

J: Überhaupt nicht, ich wage mich im Moment nur so daran, dass ein Schritt zurück im Raum bei mir einen Schritt zurück in der Zeit ergibt.

G: Ja, weißt du, wann das der Fall ist? Deshalb sind diese beiden Filme an die stumme Dimension gebunden. Bei „Ein Blick – und die Liebe bricht aus“ ist es die stumme Dimension des Körpers, in dem sich öffnenden Raum und in der „Kolossalen Liebe“ ist es die hereinkriechende Materie, die ja auch stumm ist. Rahel spricht ja ständig – aber sie spricht mit sich selbst,

J: Sie entäußert sich als Material.

G: Die Materie steckt da drin im Material. Das fällt mir auch auf in deinen Filmen, dass die Frau in der Position ist, dass sie in irgendeiner Weise immer den Mann erhält. Das lässt sich nicht einfach auf die Leben gebende Position der Frau oder Mutter fixieren, sondern es ist ein mehr in der Schwebe gehaltenes Moment. In „Kolossale Liebe“ erhält die Frau den Mann bis hin zu dem Verwundern, dass sie es immer noch zu nichts bringt, obwohl sie eigentlich in diesem Sinne alles in der Hand hätte. Er will von ihr etwas haben, er will an sich genau die Materialisierung ihrer Existenz haben, wenn ich jetzt an diese Schränke mit den Briefkartons denke. Und da liegt für mich die ungeheure Bedeutung, die du dieser Metapher des Materialen in Verbindung mit der Matrix, Frau usw. gibst. In „Lieben Sie Brecht?“ ist es das gleiche.

J: Auch Margarete Steffin, die Mitarbeiterin von Brecht, ist Hüterin der Manuskripte.

G: Das Materiale ist bei dir anders gefasst, als es bisher immer diskutiert wurde, dass die Frau den Mann reproduziert, dass sie die Gebärfunktion hat, dass sie Muse sein kann. In dem Sinne arbeitest Du eben nicht psychoanalytisch und in dem Sinne ist das Materiale zwar mit dem Moment der Mater verbunden, aber Du reduzierst die Frau gleichzeitig nicht darauf, das ist gar nicht dein Problem. Die Frau ist nicht als mater die Gebende, sie ist das Materiale, die Frau als das Materiale …..

J: Für mich war ganz wichtig, dass Rahel eben keine Mutter ist. Steffin ist auch keine Mutter. Nachdem ich „Tue recht und scheue niemand“ und „Hungerjahre“ gemacht habe, die sich ja zueinander verhalten wie die beiden Seiten einer Medaille und wo das Problem „Mutter“ zentral war, erzähle ich nur noch „Mater- und Material-Geschichten“ über Frauen, die keine Mütter sind.

G: Die Frau bewegt sich immer auf der Grenze, wo Kultur noch mal von Anfang an zu beginnen hätte und doch gleichzeitig nie beginnt. Die Frauen sind ja dauernd dabei, diese Grenze einschreiben zu müssen, aber auf dieser Grenze kommen sie nicht vor. Denn da, wo Kultur dann beginnt, sind sie nur ihr Substrat und da, wo die Kultur das ausscheidet, was nicht Kultur wäre, nicht Gesellschaft wäre, da sind die Frauen mit ausgeschieden. Und deshalb bewegen sie sich immer auf dieser Grenze, wo sie zunichte werden oder genichtet werden oder nicht sind, nicht „Ich“ sagen können. Und ich meine mehr und mehr, man muß dieses Nichts-Sein, oder diese Lücke als Chance begreifen, und mir kommt vor, dass Du in deinen Filmen nie diese Lücke abgedichtet hast, sondern sie immer zum Tragen hast kommen lassen. Dieses Nichts, was gleichzeitig einschließt, sich in dieser Materialität zu bewegen und eine andere Form des „Ich-Sagens“ zu lernen. Also ganz explizit hast Du das bei der Varnhagen gemacht, weil sie es ja auch alles formuliert. Du hast nie eine Ersetzung vorgenommen im Sinne von: „Gut, man hat mich gesellschaftlich zu Nichts verdammt, jetzt sage ich hier mal mit dem Brustton der Überzeugung, ich mache mich zum weiblichen Subjekt, ich decke das alles zu, und ab da -was weiß ich-kann ich reihenweise platzieren, was ich für meine Werke halte.“ Das hast du nicht gemacht, bisher ist mir in deinen Filmen auch noch kein feministischer O-Ton begegnet……

Gespräch zwischen der Kulturwissenschaftlerin Gerburg Treusch-Dieter und Jutta Brückner
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Kolossale Liebe

Aus einem Gespräch mit der Dramaturgin und Filmkritikerin Erika Richter

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