Kolossale Liebe

Aus einem Gespräch mit der Dramaturgin und Filmkritikerin Erika Richter

ER: Es gibt zwei Fassungen von „Kolossale Liebe“, wie ist es dazu gekommen?

JB: „Kolossale Liebe“ war eine MAZ-Produktion. Das „Kleine Fernsehspiel“ hatte die Verpflichtung, eine gewisse Anzahl an MAZ-Produktionen zu machen und eine Studioproduktion war in der Zeit des Autorenfilms nichts, worum man sich gedrängt hat.

ER: Was bedeutet Studioproduktion?

JB: Ich wusste, es gibt immer drei, vier Kameras auf dem Set. Die musst du also so positionieren, dass du, während die Darsteller spielen, die richtige Einstellung finden kannst – denn Du sitzt während die Darsteller spielen oben im Mischraum, und das wird gleich gemischt. Du schneidest nicht hinterher, sondern du mischst sofort. Das hat mich herausgefordert. So etwas hatte ich noch nie gemacht.

ER: Das stelle ich mir aufreibend vor.

JB: Ja, es verlangt Übung. Es war etwas ganz, ganz Neues für mich. Ich wollte die Ideen, die ich hatte, diesem neuen Professionalismus unterwerfen. Das hat eine Rolle gespielt. Das, was alle anderen Regisseure in die tiefste Verzweiflung getrieben hätte, hat mich gereizt: Ich will die Geschichte der Rahel Varnhagen erzählen, und zwar über sieben Jahre, und ich habe nur einen einzigen Raum! Da muss ich mir ja etwas einfallen lassen! Mich hat das Thema fasziniert, diese neue Art von Professionalität hat mich fasziniert, und es hat mich ein Zwang fasziniert. Ich lasse mich immer von Zwängen antreiben, weil ich gegen diese Zwänge dann rebellieren kann, darf, muss. Dieser Zwang war: Wir haben einen einzigen Studioraum und dieses Studio kann nicht umdekoriert werden, und es ist außerdem noch klein, weil es ein kleines Fernsehspiel war. Wie erzähle ich sieben Jahre aus dem Leben einer Frau in diesem einen Raum? Es geht nur, wenn der Raum zu einem Seelenraum wird. Alles, was sie in dieser Zeit erlebt hat, wird ausgedünnt zu einer extremen Form der Auseinandersetzung mit sich selbst und den beiden Männern. Mich hat gereizt, wie man mit so etwas fertig wird. Räume haben für mich immer eine metaphorische Bedeutung. Sie sind nicht einfach nur Orte, an denen etwas passiert. Also gab es mehrere Herausforderungen, die sich in diesem Film treffen.

ER: Du bist eine Abenteurerin!

JB: Ja, das bin ich wohl. Das Ergebnis war dann so, dass ich nicht einverstanden war.

Das Raumproblem ist mein Zentralproblem. Ich habe aber lange nicht gewusst, warum. Inzwischen weiß ich es. Seit ‘68 haben Frauen sich gefragt: Was ist das weibliche Begehren? Vom männlichen Begehren gibt es 2 000 Jahre lang Zeugnis. Aber was ist nun das weibliche Begehren? Eine der Theorien sagte: Das weibliche Begehren – im Gegensatz zum männlichen – ist der Raum. Und zwar im doppelten Sinne des Wortes: das Begehren des Raumes – da die Frau ja immer auf das Haus angewiesen war – und der Raum als etwas, was die Frau ganz stark mit sich selbst identifiziert, anders als der Mann, der ihn erobern muss. Auch die weibliche Anatomie ist ja stärker ein Raum als die männliche. Da kommt die metonymische Ebene mit der metaphorischen zusammen. Als ich noch Serien-Drehbücher mit einem Regisseur schrieb, gab es immer folgende Überlegung: „Wenn die letzte Szene in der Küche war, wohin können wir die nächste Szene legen, in den Keller, auf den Dachboden in den Garten oder was ist sonst noch möglich?“ Nach dem Prinzip der größtmöglichen Variabilität von Räumen arbeiten viele Drehbuchautoren. Und bei mir ist es genau umgekehrt. Ich habe ungeheure Lust, einen einzigen realen Raum zu haben und viele imaginäre Räume aus ihm zu erschaffen. In „Kolossale Liebe“ habe ich die Abgeschlossenheit eines Raums mit Spiegeln durchbrochen.

ER: Aber war in dieser Situation von Anfang an für dich klar, dass du keine Geschichte aus der Gegenwart nimmst, sondern eine historische Person. Oder hat sich das zufällig ergeben?

JB: Ich wollte etwas über Rahel Varnhagen machen. Das hat sich ergeben über das Buch von Hannah Arendt: Rahel Varnhagen, Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. Dieses Buch habe ich sehr geliebt. Es ist ein unerhört kluges Buch, auf eine gewisse Weise auch „autobiographisch“ für Hannah Arendt, wenn man dieses Wort nicht zu eng nimmt. Ich fand es sprachlich sehr dicht und gleichzeitig die Gestalt der Rahel so modern, weil sie ihre Makel so beschrieb: Frau, Jüdin, arm, hässlich. Dies alles führt sie als Gründe an, warum sie nicht wirklich dazugehörte, bzw. sie man so leicht wieder entfernen konnte. Die Bürde des jüdischen Schicksals war jedem klar. Armut ist auch heute das größte Hindernis, wenn man als Frau allein lebt. Und mit der Hässlichkeit geschlagen zu sein, was Rahel von sich selbst glaubte, öffnet den ganzen Kosmos der weiblichen Scham und des weiblichen Schicksals. Hannah Arendt hat geschrieben: Schönheit gibt Souveränität. Nicht Geist oder Klugheit gibt Frauen Souveränität, was ja das Recht des Schweigens, des sich nicht immer Beweisen-Müssens, in sich schließt. In unserer Zeit des hysterischen Schönheitskultes ist das ganz aktuell. Und der Mangel an Schönheit bedeutete lange, dass der klassische Aufstieg für Frauen, der über eine reiche Heirat, versperrt war. Arendts Unterschied hat mir damals auf eine unmittelbare Weise eingeleuchtet. Insofern habe ich Rahel als eine sehr moderne Gestalt begriffen. Dann kam aber hinzu, dass ich mit dem ganzen Interesse für diese historische Person merkte, dass es die Möglichkeit einer Studioproduktion gab mit den Herausforderungen, die ich schon beschrieben habe. Das war sehr wichtig und ausschlaggebend.

ER: Und warum warst Du mit der ersten Fassung nicht einverstanden?

JB: Ich war mit den inszenierten Stellen einverstanden, ich habe Kirsten Dehne verehrt, ich habe Ulrich Gebauer verehrt – das war keine Frage, – aber der Film sah nicht so aus, dass ich zufrieden war.

ER: Du warst mit Dir selbst nicht einverstanden.

JB: Ich war nicht unzufrieden mit mir als Regisseurin, aber nicht einverstanden mit mir als Autorenfilmerin. Das Filmische gefiel mir nicht. Ich hatte gehofft, dass ich nach der unmittelbaren Studioproduktion das vorhandene Material noch einmal über die elektronische Postproduktion bearbeiten konnte. Diese Möglichkeit gab es nicht. Ich hätte es anmelden müssen, dann hätte man es kalkulieren müssen, ich hätte genau wissen müssen, welche Maschinen ich für welche Zwecke brauchte. Ich hatte naiverweise gehofft, ich gehe in ein Studio und sage: „Nun zeigt mir doch mal, was möglich ist“ und die sind so nett und zeigen mir das. Dass das aber eine Woche Arbeit ist für mehrere hochbezahlte Techniker und ich vielleicht danach noch keine einzige Sequenz wirklich bearbeitet habe, weil ich immer noch überlege, welche die passendste der Möglichkeiten ist, die mir hier demonstriert wurden – diese Art von Freiheit, die man manchmal braucht, hatte ich mir vorgestellt, und die war nicht möglich, weil die Elektronik noch viel zu teuer und schwerfällig war. Deshalb war „Kolossale Liebe“ für mich keine abgeschlossene Geschichte und ich habe ihn später überarbeitet.

ER: Und unter welchem Gesichtspunkt hast du „Kolossale Liebe“ nochmals bearbeitet?

JB: Ich habe mit Video-Techniken die Bilder so bearbeitet, dass sie in Layern mehrere Ebenen gleichzeitig zeigen. Rahel lebt in diesen Jahren der preußischen Niederlage gegen Napoleon, als alle ihre Freunde fort sind, in den Räumen ihren Erinnerungen und ihrer Hoffnungen stärker als im realen Raum und der realen Zeit, die sie als nicht ihr gemäß empfindet. Sie litt gerade darunter, dass sie aus den gesellschaftlichen Verbindungen herausgefallen war. Der konkrete Raum ihrer Wohnung wurde ihr zu einer Last, die imaginären Räume ihrer Gedanken waren eine – manchmal leidvolle – Freiheit. Das entsprach mehr als die erste Fassung der Seelenbiographie, die ich machen wollte. Aber wie kann man das filmisch zeigen, denn Film zeigt ja immer konkrete Räume? Eine Biographie, die in klassischer Weise mit den bekannten filmischen Techniken den Ablauf der Ereignisse erzählt, wäre in diesem einem Raum gar nicht machbar gewesen. Also musste ich mich der elektronischen Medien bedienen, um das Ineinander von realen Räumen und den ‘Räumen der Gedanken’ zu zeigen. Danach habe ich für Arte den Film „Lieben Sie Brecht gemacht?“ Es ist ein narrativer Film, es ist aber auch eine Art von Essay, er hat eine sehr eigene Form. Ich hatte wieder nur einen einzigen Raum, aber dieses Mal hatte ich das selbst so beschlossen. Es war das Krankenzimmer von Margarethe Steffin in Moskau, als Brecht auf der Flucht vor den Deutschen mit dem Rest der Familie schon nach Sibirien reist. Sie stirbt dort. Und auch sie lebt hier in ihren Erinnerungen und der starken Hoffnung, dass sie, wenn sie gesund geworden ist und Brecht nach Amerika nachfolgen wird, er endlich ihren Wert erkennt und sie die wichtigste seiner Frauen sein wird. Diese Geschichte war in ihrer Mischform von Narration und Essay von vorneherein auf die Techniken angelegt, die ich für mich inzwischen entwickelt hatte. Anders als bei „Kolossale Liebe“, wo ich es der Geschichte im Nachhinein abringen musste. Es war, obwohl es wiederum eine Geschichte war, die ich dringend erzählen wollte, auch ein Test für mich, wie ich es schaffen kann, die Befremdung zu mildern, die manche bei der Ästhetik von „Kolossale Liebe“ gehabt haben. Ich wollte wissen, was muss ich machen, dass die Zuschauer sich nicht mehr daran stoßen. Das ist mir, wenn ich den Reaktionen glauben darf, bei „Lieben Sie Brecht?“ gelungen.

ER: So ist es mir nicht gegangen, als ich „Kolossale Liebe“ – mittlerweile auch mehrere Male – gesehen habe. Er ging mir immer sehr nahe. Und zwar fand ich die seelische Situation einer Frau höchst eindrucksvoll, die sich so vielfach geknebelt fühlt und die eigentlich ein so freier Geist ist, die so viele hochfliegende Ziele hat und nichts davon realisieren kann – der Höhepunkt ist der Besuch dieses idiotischen Goethe, der immer nur nach ihrem Mann fragt und nicht im mindesten eine Ahnung davon hat, wen er vor sich hat. Das hat mich stark angerührt – obwohl ich vieles im Einzelnen gar nicht so genau nachvollziehen kann – und hat mich in bestimmter Weise auch wieder an „Hungerjahre“ erinnert. Das ist eine ähnliche Situation – diese Enge –, obwohl man durch die Sprache, durch das ständige Reflektieren der Situation durch Rahel selbst nicht so unter dieser Enge leidet. Es wird immer gegen die Enge gearbeitet. Ihr Kopf arbeitet gegen die Enge, und das fühlt man sehr genau. Auch diese merkwürdigen Bilder dazwischen – zum Beispiel der einsame Wolf, der da über das Schneefeld rennt, oder Hausruinen etc. – geben mir eine gewisse Freiheit, über das Ganze nachzudenken. Ich empfinde einerseits die Enge und das Leiden dieser Frau, aber andererseits habe ich immer auch eine Freiheit, mich dazu zu verhalten. Das hat mir sehr gut gefallen.

in „Film und Fernsehen“
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