Kolossale Liebe
Jutta Brückner
Über historische Filme und vermischte Zustände.
Wie macht man einen historischen Film, wenn der Kampfplatz die Geschichte der Seele ist? Wenn es nicht um die Rekonstruktion von Welt geht, in der die malerischen Details geschichtliche Fülle signalisieren, die Symphonie von Kostümen, Requisiten, Statisten, prallen Charakteren die Überlegenheit der Einbildungskraft über das Loch in der Zeit beweisen sollen, das uns von damals trennt?
In einem Film über Rahel Varnhagen sind Bilder vorstellbar von Rahel, die im Kreis ihrer Verehrer die bewunderswert klugen Sätze sagt, die wir von ihr kennen, oder von Rahel, die, nie abseits in den Kämpfen der Zeit, verwundeten Soldaten Suppe bringt, oder von Rahel, der Initiatorin des Goethekults, die atemlos hinter Goethes Kutsche herläuft und schreit: Aber es ist Goethe! Es ist Goethe! Das kann so sein wie die Schlachtengemälde, die man heute wieder liebt, weil sie versichern, daß die Objekte der Betrachtung sich im Medium nicht auflösen und wenn es schon kein fassbares Heute gibt, so gibt es wenigstens ein fassbares Gestern. In jedem Fall aber wird hier die Geschichte zum Goldglanz, der das Individuum verklärt in Glück und Leid, Feigheit und Heldenmut, die Kontinuität von „Charakter“ und „Identität“ als ewig Menschliches durch die Jahrhunderte behauptet und so mit Erfolg leugnet, daß es so etwas wie „Geschichte“ überhaupt gibt.
Das Erzählen von Geschichte muss mit einer Fremdheit des Blicks und des Erzählens verbunden sein und die muss bleiben, auch wenn und gerade wenn uns das Problem verzweifelt vertraut sein sollte. Für mich hieß das: Das historische Problem als heutiges zu erkennen nicht in der Distanz des Kostüms, sondern in der Distanz einer Erzählweise. Die Art und Weise, die Welt und sich selbst zu erleben, ist ebenso historisch wie die Kostüme und Requisiten es sind und die Geschichte der Macht ist gleichzeitig eine des Blicks und eine der Individualität und deren Grenzen nach Innen und Außen. Entscheidend war für mich deshalb nicht der Zusammenprall der geschichtlichen Kräfte mit dem Raum der Person und der Ort von Tragik oder Heldentum, der da entsteht. Der (im wahren Sinne) „fragliche“ Ort war etwas, was sonst immer als vorhanden vorausgesetzt wird: die Person selbst. Ich wollte die unsicheren Grenzen dieses Individuums zeigen, das sich dem Leben und der Geschichte gegenüber verhält wie eine amorphe Masse, ausgreifend wenn die Zeiten günstig sind und sich zusammenziehend, wenn die nackte Existenz verteidigt werden muss. Die jeweilige Historie als Ermöglichung von Individualität oder deren Verhinderung und das Individuum als der Ort, wo Geschichte sichtbar wird, werden verklammert im Wunsch nach der Biographie. Zur Biographie gehört die Gesellschaft als der öffentliche Ort, wo Identität als historische Spur entstehen kann.
Rahel hat im Morgenrot der jüdischen Emanzipation den Kraftstrom gespürt, der für Ausgeschlossene mit dem möglichen Eintritt in die Gesellschaft derer verbunden ist, die sich schon immer mit Historie umgeben hatten und sie hat auch das Versiegen dieses Kraftstroms mitbekommen, als ihr Salon aufgrund der geschichtlichen Ereignisse verfiel und sie in ihm allein blieb. Dieser erneute Ausschluss ist jetzt um so bitterer, als die Vernichtung von dem, was einmal vorhanden war, zur Kränkung wird. So ist ihr heftiger Wunsch nach dem Anerkannt-Werden, dieses maßlose Einklagen von Beachtung, die hochfahrenden Definitionen ihrer selbst geboren aus der Not, sich einen Ort zu erhalten, an den sie sich als Person retten kann, weil sie sonst nur ein Traumprodukt der eigenen Wünsche bleibt. In dieser Gier nach Geschichte verbirgt sich die Sehnsucht nach dem „Ich“ und die Krisen und Krankheiten sind der Versuch, das Ich ohne Schaden aus dem Geschichtsverlust zu retten. Diese Gier ist eine von Frauen, die zum ersten Mal mitbekommen, was Biographie denn sein könnte, auch außerhalb einer Liebesgeschichte mit einem der Männer, die Geschichte gemacht haben. Männer wissen das, denn ihr Wunschtraum von „growing up in public“ ist immer erreichbare Utopie, weil die Kultur einen liebenden Blick auf sie wirft als das Ebenbild des großen Schöpfers, der präsent bleibt als kultureller Fakt, selbst wenn er nicht mehr Zentrum eines Dogmas ist.
Einem Film, der von diesen Voraussetzungen ausgeht, sind zwei Dinge nicht selbstverständlich vorhanden: „Geschichte“ und „Individuum“. Das Fehlen des einen stellt ihn als historischen Film in Frage, das Fehlen des anderen als narrativen Film. So habe ich mir diese 6 Jahre zwischen dem Fall Preußens unter Napoleons Ansturm und der endlichen Hochzeit mit Varnhagen, in denen sie im Film nicht einmal das Zimmer verlässt, ausgesucht, um ästhetisch über die Abwesenheit von Geschichte und die Herstellung ihres Anscheins im Film nachzudenken und die Grenzen zwischen dem Körper im Raum und der Einbildungskraft zu erforschen. Rahels Blick fällt auf Steine, zersplittertes Glas und verbrannte Bücher aus einer Pogromvergangenheit, die noch nicht überwunden ist, auf Milch und Honig als Zeichen eines historischen Versprechens, das sich für sie so nicht einlösen kann, auf Schuhe und Koffer aus einer Zukunft, der sie nur entrinnt, weil sie 150 Jahre zu früh geboren wurde. Die Geschichte dringt bis in ihre Einbildungskraft ein und bemächtigt sich ihrer, aber das Geschiebe der Heere in Mitteleuropa ist doch nur das Geräusch der vorüberziehenden Truppen und eine Schleifbahn von Unordnung zwischen dem Fenster und ihrem Bett. Weil es keinen gesellschaftlichen Ort für ihre Erfahrungen gibt, sie nicht Inhalt von „Geschichte“ sind, kann das „Ich“ in den Momenten des freud- und leidvollen Überschwangs nur in die Innenräume fliehen. Aber da entsteht ein Sog, der ebenso viel ermöglicht, wie vernichtet. Die innere Grenzenlosigkeit der Einbildungskraft als eine Erfahrung, ohne die sie ihr Leben nicht leben könnte, negiert, was Rahels gesellschaftliches Leben ausmacht: Witz, Auseinandersetzung, Klatsch, scharfsinnige Kommentare, dialektisches Spiel, der lustvolle Gebrauch aller Fähigkeiten, die ein Gegenüber voraussetzen. Sie, die sich selbst sieht als eine, die für die Gesellschaft gemacht ist wie keine andere, wird in den Momenten der seelischen Innenräume zu einer, die begraben wird unter Massen von Erde, an einem Wasser kniet und mechanisch immer wieder ihr Kleid auswringt, als durchscheinender Schatten immer wieder dieselben Räume durchquert und über eine spiegelglatte Eisfläche humpelt. Sie halluziniert sich als Metapher. Aber diese Metapher zeigt sich nackt und saugt alle Wirklichkeit auf. Die Innenräume, die sich über freigesetzte Metaphern und in der Auflösung von Räumen und Raumgrenzen bilden, verschlingen auch die Objekte. Rahel sagt: „Wenn man sich den Leuten nur öffnen könnte, wie einen Schrank und sie würden alles sehen, in Fächer sortiert, sie würden endlich zufrieden sein.“ Außen und Innen sind unter dem Druck der übermächtigen Einbildungskraft und der wilden Historie ihrer Zeit nicht mehr getrennt. Die fragile Grenze der Person, die das doch scheiden müsste und durch diesen Akt entstehen würde, bröckelt unter zu viel Weltverlust. So ist ihr Salon gleichzeitig Lebensraum, Seelenraum, der Raum ihres Kopfes und ihr Körper als Raum.
Die ästhetischen Möglichkeiten, so etwas zu erzählen, haben etwas zu tun mit Verflüchtigung von allem, was zwar biografisch überliefert, aber dieser Interpretation unwesentlich ist und mit einer Überkonkretisierung von seelischen Bewegungen und Spuren und Zeichen. In der Verflüchtigung lösen sich die Beziehungen zwischen den realen Dingen der Welt auf, bis nur noch einzelne übrigbleiben, an denen sich der Blick der in ihren eigenen Kampf Eingesperrten festsaugen kann und die dadurch eine ganz übermächtige Bedeutung bekommen durch Isolierung: die Milch, die Steine, die Schüssel, der Tisch, das Wasser, das Feuer. Diese Dinge sind die Brücken, auf denen Rahels Einbildungskraft entlangbalanciert, bis sie sie in die für sie richtigen Zusammenhänge gebracht hat: in die der Schande, der Demütigung, des Verlassenseins, gleichgültig, in welchen Zusammenhängen sie in Wirklichkeit stehen mögen.
Filme, die so abstrahierend mit Realität verfahren, sind gewöhnlich auf der Suche nach der Reinheit als ästhetischem Prinzip. Sie haben einen Stil, in dem sich die Strenge eines Autorengewissens den Personen als Haltung mitteilt. Die Personen sind dann von diesem Stilwillen durchtränkt und erhalten auch ohne religiöses Pathos eine Aura der reinen Entrücktheit als Ergebnis eines konsequenten Wunsches nach Ich-Strenge. In meinem Film über Rahel steht das Zusammenspiel von Verflüssigung und Konkretisierung aber im Dienst unreiner Vermischung. Rahel ist eine Person, deren Seele die Fingerabdrücke der Geschichte als Schmutzflecken trägt. Und die das weiß. Ihr Elend kommt nicht daher, dass sie die Welt ablehnt als ihr nicht gemäß, eine Anmaßung, die gern als „rein“ begrüßt wird, sondern dass sie von dieser Welt nicht akzeptiert wird als die, die sie ist. Die Ahnung eines Neuen ist untrennbar mit den Traumata der vergangenen Zustände verbunden. Freiheit ist noch nicht zum Fundament von Schönheit geworden, auch heute sind wir davon weiter entfernt denn je, aber die Unterdrückung leistet auch nicht mehr die Verklärung von List als Zauber. Dieser unreine Zustand, Rahels Lebensgewissheit aus ihrer vierfachen Behinderung heraus , wie sie selbst es sah (Frau, jüdisch, arm und hässlich) führt zur mangelnden Grazie der Emporkömmlingin, scheinbar ein Charakterfehler, in Wirklichkeit ein historischer Moment, in dem sich zwei verschiedene Zeitalter wie Gesteinsmassen in ihrer Seele gegeneinander verschieben. Sie selbst lebt nur in und über diesem Abgrund, „ungraziös“ (wie ihre ständige Klage lautet). Der Sturm im Zentrum ihrer Identität erlaubt nicht den verklärenden Abglanz auf eine Person, den der Stil, der sich auf den Prinzipien der romantischen Kinoleidenschaft begründet, immer wirft, immer und vor allen Dingen auf die Frauen.
Rahels Geschichte, als unreine begriffen, würde also nach der Methode des filmischen Realismus rufen, der kein Stil ist, sondern eine Art, sich zu seinen Dingen und Personen zu verhalten. Aber der Realismus kann die Verflüchtigung der realen Zusammenhänge zwischen den Dingen nicht ertragen, die doch hier so wichtig sind. Der Realismus muss voraussetzen, dass der Austausch zwischen Innen und Außen klappt, und das in einer Balance, die keinem Bereich ein Übermaß gestattet und die Metapher an ihrem richtigen Platz aufsucht. Rahels Maßlosigkeiten, die der realistische Film nur als Charakterstudie einer Hysterikerin integrieren könnte, richten sich auf etwas, was ihm wiederum gemäß ist: das Leben in seiner Vermischtheit. Die Abstraktion als Ästhetik der Verweigerung setzt eine Möglichkeit voraus, die für Rahel gar nicht besteht. Sie will mit Unbedingtheit etwas Banales, weder das ewige Leben noch die absolute Kunst, sondern das normale, unbeschädigte Leben in einer Gesellschaft, von der sie akzeptiert wird. Die Unbedingtheit des Anspruchs und das ersehnte Ziel fügen sich aber nicht demselben ästhetischen System. Solange man mit stilistischen Kritierien operiert, wird man also diesen ganzen Film nur als einen „Stilbruch“ werten können.
Ich sehe meine Bemerkungen als einen Beitrag zu einer Diskussion, die von der Überlegung ausgehen kann, dass es der deutschen Filmtheorie an Kriterien für nichtrealistische Filme fehlt. In diesen Zusammenhang gehört auch der nicht mehr neue Gedanke, den aber beständig nur der experimentelle Film vertritt, dass auch das Filmmaterial schon ein ästhetischer Faktor ist und Materialvermischungen deshalb wichtig sein können, weil es einiges gibt, was im üblichen Konkretismus des Filmbildes und seiner Optimierung der hellsten Helligkeit und des am wenigsten sichtbaren Korns nicht aufgeht. Die makellose Technik gehört auch zum Fetischismus der Reinheit. Und nicht zuletzt sehe ich sie als eine Anknüpfung an die Überlegungen, dass die feministische Filmtheorie, die sich ja heute in ihrer Periode der Klassizität befindet, gut daran täte, sich nicht nur mit den Filmen von Männern zu beschäftigen und an ihnen die Formung des Blicks und des Bildes der Frau zu untersuchen, sondern auch Impulse aus den Filmen von Frauen empfangen könnte. Der alten Erkenntnis, dass in einer Periode der Stagnation (oder auch Stagflation) es meistens der Dokumentarfilm ist, der neue Markierungen setzt, sind inzwischen hinzuzufügen die junge Erfahrung, dass moderne visuelle Formen (Videoclip) sich aus dem Arsenal des Experimentalfilms bedienen und dieser damit für breitere Massen selbstverständlich geworden ist. Und die ebenfalls junge Gewissheit, dass die erzählten Geschichten keine Bedeutung mehr haben, wenn sie nicht die Perspektiven von Frauen ernst nehmen und bereit sind, sich darauf einzulassen. Diese Diskussionen haben noch nicht begonnen, aber, angesichts unserer lähmenden Kinorealität, denke ich, es ist an der Zeit.
Geänderte Fassung unter den Titel: Einen historischen Moment im filmischen Raum festhalten in: Frauen und Film , Heft 41, 1986
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weitere Texte zum Film
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