Kolossale Liebe

Jutta Brückner

Kolossale Liebe

In meinem Film „Kolossale Liebe“ erzähle ich eine Liebesgeschichte aus der Romantik. „Kolossale Liebe“ ist ein Film über Rahel Varnhagen, deren kolossale Lieben jahrelang haarscharf den Falschen trafen. Die Bil­der erzählen in den Veränderungen der Geschichte immer dasselbe: Die Liebe ist abwesend, sie wird beschworen, zitiert, eingeklagt, aber immer ist sie irgendwo anders. Zum Schluss der Geschichte findet sie sich dann tatsächlich da ein, wo sie hinsoll: zwischen Rahel Levin und August Varnhagen. Die Berliner Jüdin Rahel Levin, berühmt für ihren Salon, in dem Adlige, Bürgerliche und Mitglieder des Könighauses verkehrten, hei­ratet nach 7 stürmischen Jahren endlich ihren jungen Freund und Liebha­ber August Varnhagen von Ense. Die Jüdin Rahel Levy kann durch die Heirat endlich zur Christin Friederike Antonie Varnhagen von Ense wer­den. Und das ist dann das „Happy End“: eine schon 45-jährige Matrone, wie man wohl damals gesagt hätte, empfängt in ihrem Salon den Geheimen Rat Johann Wolfgang von Goethe.

Die letzte Szene sieht dann so aus: Rahel sitzt in ihrem Salon. Gerade hat man noch die wehenden Rockschöße des Geheimen Rats Johann Wolfgang von Goethe gesehen, der ihr einen kurzen Besuch abgestattet hat. Jetzt ist sie wieder allein und fühlt lastend, dass der Verehrte sie im ungraziösesten Moment angetroffen hat, gerade erwacht, im nicht sehr kleidsamen Morgenrock. Und der sehr kurze Besuch des Mannes, für des­sen Werke sie, ständig Briefe über ihn schreibend, sehr viel getan hat, geschah auch nur, um sich für die Weiterleitung eines Paketes zu bedan­ken und besteht hauptsächlich darin, dass sich der Geheime Rat nach dem Herrn Varnhagen von Ense erkundigt, dessen politische Artikel er mit so großem Interesse lese. Dann ist Goethe fort, und eine Stimme erzählt, was sich danach ereignet hat, dass sich Rahel nämlich umkleidet in ein schönes weißes Kleid mit hohem weißen Kragen, eine Spitzenhaube, einen Kan­tenschleier, den Moskauer Schal, eine Braut, ganz in weiß. Gleichzeitig sieht man einen weißen Schatten, der sich in einer imaginären Landschaft auflöst.

Eine von mehreren Facetten ihrer „Kolossalen Liebe“ hat gerade auf Prüfstand gestanden, die zum Geisteshelden. Die Liebe – und dieses Mal ist es die metaphorische zum Geisteshelden – ist schon wieder abwesend. ­Das kolossale Gefühl ist da, wo es schon immer war: bei ihr selbst.

Die Szene ist historisch, Rahel schildert sie in einem ihrer Briefe an Varnhagen. Sie ist schon im sicheren Hafen, verheiratet, getauft, nach Jahren voll von stürmischen kolossalen Liebesgefühlen, und deshalb kann sie diese missratene Begegnung auch als Ritterschlag werten. Noch Jahre früher wäre sie krank daran geworden. Aber im Alter von 40. schon eine Matrone, hatte sie einsehen müssen, dass ihre verschiedenen Anläufe, ihr Leben in eine einzige kolossal brennende Liebesflamme zu verwandeln, gescheitert waren. Um so schneller und radikaler, wenn ein Mensch wie sie darauf besteht, dass die Liebe auch die Befreiung der Worte ist. Die Fiktion eines lebbaren imaginären Liebesuniversums, das in einer gegenseitigen lustvollen Spiegelung besteht und nicht etwa weibliche Verführung gegen männliche Ordnung setzt und in dieser Verkleidung wieder einmal die List gegen die Vernunft, blieb für sie Utopie. Im düsteren Selbsthass macht sie dafür konkrete Gründe aus: zurückgewiesen, weil jüdisch, arm und hässlich. Das, wenn es auch maßlos übertrieben war, trifft einen Kern. Denn wie sollen Anmut und Schönheit entstehen einer Situation von Verachtung und Einschränkung, und wie soll eine rechtlose Frau in der Welt akzeptiert werden, wenn nicht durch die Ordnung und Macht sprengende Schönheit?

So geht sie den pragmatischen Weg. Lieben tut sie den, der bei ihr bleibt, der sie liebt, wie sie ist, kein Bild aus ihr macht oder doch dasjenige, das auch sie gerne der Nachwelt überliefern möchte. Lieben tut sie den, der sie braucht, und brauchen tut sie den, der sie liebt und den sie deshalb auch liebt. Dass der dann 14 Jahre jünger ist, ist ein Schönheits- fehler, aber auch die Bedingung dieser Alliance, die eben keine Mesalliance ist. Denn so hat jeder vom anderen was: Sie hat ihn erzogen, ihm ihre Lebenskenntnis und -erfahrung vermittelt, ihm seine Präpotenz und Eitelkeit, die zu miserablen Gedichten geführt hat, ausgetrieben, und er hat ihre Briefe zu seinem Lebensinhalt gemacht und langsam daneben ein realistisches Interesse an politischen Dingen aufgebaut, das ihn dazu befähigt, ein geachteter politischer Historiograph zu werden. Was hier aus was entsteht, war, nachdem sich alles gefügt hatte, nicht mehr zu bestimmen. Sie braucht den viel jüngeren Studenten, weil der ihre Lebenskenntnis und -erfahrung braucht und ihre Fähigkeit, Menschen zu deren eigenem Wesen zu verhelfen. Sie braucht ihn, weil sie ohne gesellschaftlichen Stand, Rang und Namen nicht leben kann. Und als Jüdin in einer erneut judenfeindlichen Umgebung (es ist nach der napoleonischen Niederlage schon wieder Restauration in Deutschland) einen Garanten für ihr Überleben haben muss, und das heißt: einen, der sie heiratet. Um so besser, dass Varnhagen noch rechtzeitig einen alten dubiosen Adelstitel ausgegraben hat. Er braucht sie, weil er großen, aber hohlen Ehrgeiz hat und nicht weiß, womit er ihn füllen soll. So macht er sie und ihre berühmten Briefe zu seinem Lebenszweck, bis er Stück für Stück Interesse an den politi­schen Dingen entwickelt. Diese Entwicklung verdankt er ihr und ist ihr dankbar dafür.

Doch wo bleibt da die Liebe? Was hat das alles mit Liebe zu tun? Rahel schreibt am 3. oder 4. Hochzeitstag, getrieben von latenter Unruhe: Bereust Du’s? Er hat es nicht bereut, aber diese tiefe Unruhe, dass ein sol­ches Modell eben ein spießerhaftes, voll Kosten- und Nutzenrechnung sei, trieb sie um. Und dass Zeitgenossen so über diese Verbindung gedacht haben, wusste sie sicher auch. Aber ist menschliches Vertrauen wirklich so spießerhaft? Ist es heute nicht vielmehr der total entfesselte Trieb­mensch, der außer seiner Bedürfnisbefriedigung nichts anderes sieht, der eher dcn Namen Spießer verdienen würde?

Rahels Geschichte ist für die Romantik untypisch. Rahel lebt in jener Zeit, in der sich die Liebesvorstellung, von der wir noch zehren, in voller Blüte ausgebildet hat: Die Liebe auf den ersten Blick, die aufblitzende Erkenntnis des tiefsten Wesens einer anderen Person allein durch den Anblick, die selige Aufhe­bung der unangenehmen Grenze zwischen Innen und Außen, der Punkt, wo Geschichte und Natur sich wieder versöhnen, weil das Notwendige und Erhoffte als spontane Leistung und Freiheit in die Welt tritt. Nun war allerdings schon in der Zeit der Romantik klar, dass dieser Liebestraum ein tief literarischer war, das Begehren der Worte und der Augen eher als das des Fleisches. Die schöne, aber ferne Erscheinung, durch den Blick erhascht und still gestellt als Bild, war das Zentrum einer ungeheuren Beschleunigung von Phantasie. Die romantische Liebe war das Gefühl, in dem das Individuum sich selbst feierte als grenzenlos, als den Brennpunkt narzisstischer Wünsche. Und das Begehren war nie so rein wie im Begeh­ren seiner selbst, und das heißt in der Zurückweisung dessen, was Liebe eigentlich ausmacht: nämlich der Vermischung.

In die Realität überführt, „eingelöst“, nahm sie sofort die Form der Tra­gik an, weil sie mit fremder Materie zu tun hatte und ihr das Objekt unter den Händen und anderen Sinnen verschwand. Im Liebesleid konnte auch das noch aufgefangen werden als Selbstge­nuss in Trauer. Was aber passierte, wenn das alles: die ewige Hoffnung und die notwendig damit verbundene ewige Enttäuschung nicht mehr möglich sind, weil die Grundlagen der Existenz davon berührt werden?

Rahel muss das erfahren, und das macht sie für Heutige so interessant.

Ihre Maßlosigkeit in der Liebe hat einen tief romantischen Zug, und das führt sie immer wieder an den Rand von Zusammenbrüchen. Aber Rahel hat noch etwas anderes, was dieser Liebesvorstellung wie Sperrgut im Wege liegt: sie liebt das Leben – gerade weil sie weiß, wie leicht man es verlieren kann. Die Erinnerung an die Pogrome war dieser Jüdin noch frisch. Rahel entdeckt etwas, was sonst in der Vorstellung von der romantischen Liebe fehlt: dass es eine Realität gibt, auf die sie, wie sie nun mal in die Welt gekommen ist, nicht verzichten kann. Wenn jemand durch Liebe zur Welt kommen möchte, zu der der Zugang bis dahin beschränkt oder sogar versperrt ist, dann wird das Ausbleiben dieses scheinbar luxuriösen Gefühls zur Axt, die an die Wurzeln der Existenz gelegt wird. Rahel entdeckt: „Früher schrieb ich alles der verliebten Liebe zu und war doch nur die Sehnsucht nach Leben im allgemeinen.“ Im Wort „verliebte Liebe“ ist mehr an Erkenntnis drin, als ein ganzes Zeitalter danach bereit war nachzuvollziehen.

Das Leben inmitten einer Gesellschaft und nicht an ihrem Rand erscheint ihr, die in jeder Hinsicht eine Aufsteigerin ist, als etwas Kostbares. Sie kennt auch das Wort von der vernünftigen Liebe, die im 18. Jahrhundert eine völlig vertraute Vorstellung war, auch wenn sie ganz und gar nicht bereit war, dieser Vorstellung von der Gleichheit der Interessen, der Herkunft, der Gewohnheiten und der Gefühle, die ja auch immer Ergebnisse von geschichtlichen Prozessen sind, zu folgen. So kann sie auf Dauer nicht in maßlosem selbstzentrierten Gefühl auf etwas verzichten, was sie doch noch gar nicht richtig gehabt hat: Teil an der Wirklichkeit der anderen. Rahel will und muss in die Welt hinein und da sie sich diesen Zugang auch nicht erkaufen kann, sie hat kein Geld, geht das nur über die Liebe. So steht sie plötzlich mitten in einem untergründigen Strom, den es, unabhängig, welche Liebesvorstellung das Zeitalter gerade hatte, für Frauen immer gegeben hat: dem gesellschaftlichen Aufstieg durch Schönheit. Schönheit als die beste Ausstattung für eine weibliche Karriere als Maitresse oder Ehefrau war viele Jahrhunderte lang für Frauen die Brechstange, um unzugängliche Verhältnisse aufzubrechen, Waffe im Lebenskampf, Instrument weiblicher Eroberungswünsche dort, wo ihnen der Platz nur allzu genau vorherbestimmt war. Dieses nüchtern instrumentelle Verhältnis der schönen Frauen zu ihrer eigenen Schönheit konnte sehr wohl den Anschein von reizender Natur annehmen, die den männlichen Blick blendete als ästhetische Offenbarung und zum Ausgangspunkt einer tief romantischen Liebe wurde. Dessen ungeachtet wussten Frauen, dass Schönheit keine Offenbarung, sondern eine Mitgift ist. Nur, was macht eine, die in die Gesellschaft hinein will, aber über diese Mitgift nicht verfügt? Rahel hielt sich für hässlich, andere gehen nicht so weit, aber durch besondere Schönheit war sie nicht ausgezeichnet. Gerühmt wurden ihr Witz, ihre Intelligenz, ihre Spontaneität, nicht ein edler Hals, schöne Augen, zierliche Hände und Füße.

Rahel kehrt die Rollen um. Ihr Freund Gentz, später ein enger Mitarbei­ter Metternichs, hat es ihr vorgelebt. Er bewunderte sie ungemein als Briefpartnerin und Freundin, die er detailliert über seine liebende Schwärmerei ­für ein schönes Wesen unterrichtete. Rahel machte es ihm nach. Nur musste sie leider erkennen, dass das Objekt ihrer Schwärmerei, ein schöner Spanier, eigentlich, wenn sie vor sich selbst ehrlich war, nur so beschrieben werden konnte: „Er war ein Bild, gemacht für meine Sinne. Ein ewig schöner Gegenstand für meine Augen. Er war im Übrigen ganz gewöhnlich und dumm, er hatte es keineswegs verdient.“ Die Subjektwer­dung der Frau durch den romantischen Liebesblick auf ein männliches Objekt ist misslungen. Denn zwar hat sie den Mann zum Bild gemacht, aber dann muss sie die Leere dieses Bildes beklagen. Dass es leer und dumm sei und die Liebe nicht verdient habe, hat kein romantisch lieben­der Mann seinem geliebten Frauenbild je vorgeworfen, denn seine gren­zenlos schwärmende Liebe war umgekehrt sogar angewiesen auf die Grenzenlosigkeit und Leere des Objektes. Die Rollen sind nicht einfach umzukehren. Die Phantasie ist ein Vogel im Käfig des gesellschaftlichen Gefüges. Wie soll die romantische Liebe gedeihen, wenn der Part, der schweigen und sich anschauen lassen soll, redet, und der, der redend schwärmen soll, sich anschauen lässt und, da er das Reden nicht lassen kann, vielleicht dummes Zeug sagt? Die romantische Liebe scheint eine ebenso schwierige Beziehung zum Wort zu haben, wie sie eine innige zum Bild hat- aber dieser Satz, wie alle generalisierenden, gilt nur, wenn man genau die Geschlechterpositionen bestimmt.

Vielleicht war es einfach Rahels Fehler, dass sie zu viel und zu klug geredet hat? Denn die Liebe auf den ersten Blick, die ja die romantische Urerfahrung ist, macht ja Schluss mit aller Sprachverwirrung und aller Dif­ferenz, die durch Worte in die Welt gekommen ist. In den seligen Momenten, wo zwei sich ganz einig sind, gibt es nur noch den Gesang, das Schweigen oder das Orgasmusgestammel. Alle drei stellen die Spra­che still. Die Sprachfiguren, die um die Liebe kreisen, haben nur eins im Sinn: sich aufzulösen in dem großen Sog der Sprachlosigkeit, der nicht vor, sondern nach der Sprache kommt. Die Liebe – in ihrer romantischen Form – ist das schwarze Loch in der Existenz, wo diese bodenlos wird und in sich selbst verschwindet.

Was muss das aber bedeuten für eine Frau wie Rahel, die sich buchstäblich ins Leben geredet hat, sich erschaffen hat aus Worten? Jede Abweichung von den Liebesgefühlen des Zeitalters, in dem man lebt, ist erst einmal die Erfahrung eines Mangels, eines Leidens. Rahel leidet lange Jahre an diesem Zwiespalt, der nicht zuzuschütten ist. Sie wird eine „Heroine im Leiden“, wie sie es selbst nennt, bis sie erkennt: „Früher schrieb ich alles der verliebten Liebe zu, und es doch nur der Wunsch nach Leben im Allgemeinen. Bedrängt von allen Seiten sah ich mein Heil nur in der Liebe. Dies sehe ich jetzt klar weine, weil mein Herz zu nichts mehr bereit ist.“ Und da es ihr schon wieder an die Existenz geht in einer aufs neue judenfeindlichen Gesellschaft, wird sie nüchtern. Vorbei die Zeiten, wo sie schrieb: „Ich kann nichts fordern, was nicht freiwillig gegeben wird.“ Jetzt schreibt sie Varnhagen, der ihr seit Jahren verspricht, sie zu heiraten, und sich seit ebenso vielen Jahren auf verschiedenen Kriegsschauplätzen herumtreibt, in einer Mischung aus Flehen und Kommandieren, dass er sofort kommen und sie heiraten müsse. Das ist auch für sie der endgültige Verzicht auf romantische Vorstellung, wie sich so etwas zwischen Mann und Frau abzuspielen habe.

Diese Geschichte ist mehr als 150 Jahre alt und doch absolut modern. Die Phantasiefonn der romantischen Liebe, die Entfesselung von Phantasie, die mit romantischen Vorstellungen verbunden war, erlebt heute einen ungeheuren Schub. Wir leben in einem Zeitalter. wo es immer schwieriger wird, mit der Realität zu Rande zu kommen, in dem die modernen Industriegesellschaften gerade mutieren zu Gesellschaften, denen eine kleine Menge realitätstüchtiger Macher die entfesselten Phantasiewünsche einer großen Masse abhängiger Konsumenten in industrielle Produkte umsetzt, wo Triebwünsche mit Phantasiewaren befriedigt werden.

Die Phantasie lädt sich heute eher mit Gewalt auf, und, da die Liebe seit der Romantik als eine Phantasieform, vielleicht sogar die bedeutendste in allen Köpfen leeren Raum zur Verfügung stellt, der sich ständig danach sehnt, sich zu füllen, Hohlform für Imagination, bleibt auch das, was man heute über die Liebe sagen kann, von diesem Gewaltschub nicht unberührt. Verschiedene Hollywoodfilme legen davon Zeugnis ab, zu welchen Verbindungen es da kommen kann. Hollywood ist da auf seine bewährte Weise näher an den Zivilisationsschüben, in denen wir uns befinden, als die romantischen Liebesfilme, die es immer noch gibt und die bevölkert sind von lauter Revenants. Aber dass es sie noch gibt, muss Anlass zum Nachdenken sein, denn offenbar beziehen sie sich auf ein tiefcs und möglicherweise völlig unstillbares Bedürfnis. Ist es das Schwarze Loch in der Existenz, das gefüllt werden muss? Welche vielleicht ganz unterschiedlichen Bedürfnisse befriedigen so unterschiedliche Filme wie „Pretty Woman“ und „Les amants du Pont Neuf“?

Die Frau, die durch ihre Schönheit Karriere macht und dann als Gattin eines Industriemanagers, den sie zum Guten bekehrt hat, also legitim und nicht nur heimlich, erscheinen darf, geadelt durch eine Einrichtung, die, alle Scheidungsziffern sprechen da Bände, vollkommen in Verruf gekom­men ist, ist ein Revenant. Das Kitschbedürfnis, das hier einen Punkt zum Anklammern findet, ist bekannt. Es hat etwas zu tun mit dem Realitätshunger von Frauen in Gesellschaften, aus denen sie ausgesperrt waren. Es hat auch etwas zu tun mit dem alten Traum vom Erkanntwerden durch den puren Blick, der das innere Wesen, den verborgenen Kern der Existenz befreit. Die Liebenden von „Pont Neuf“ beschäftigt ein scheinbar anderes Problem, sie ringen um den Blick selbst. Dieses Mal ist es der Blick der Frau, der von Erblin­dung bedroht ist, und der dazugehörige Mann tut alles, damit sie den ret­tenden Augenarzt nicht findet. Aus diesem Grund wird sogar ein Plakatie­rer abgefackelt. Was muss sie auch selbst sehen, wo doch die natürlich romantische Liebe des Mannes zu ihr darin besteht, dass er sie anblickt als gcliebtes Objekt. In diesem Zusammenhang ist es nicht unwichtig, daß es für viele Filmkritiker der Erwähnung wert war, dass der Autor und Regis­seur des Films lange Zeit Autist war, d. h. einer, der keine Worte macht. Dieser Film sagt es metaphorisch, was das für viele Männer Peinigende heute ist: die Frau beansprucht den Blick. Und das muss verhindert wer­den, um jeden Preis.

Wenn die Liebe sich dermaßen über den Blick konstituiert, kommt sie in große Nähe zu einer anderen Phantasieform, von der wir alle zehren: dem Kino. Die Phantasieform der romantischen Liebe ist die Phantasie­ des Kinos. Beide konstituieren sich im Blick, beide sind denkbar ohne Ton, nicht denkbar ohne die Gier der Augen. Das Kino hat alles, was die romantische Liebe auszeichnet: höchste Intensität bei Einhaltung der Distanz, und so verhalten sich viele Cineasten zur Leinwand wie romantische Liebhaber es tun: sie schauen, sie bewundern, sie schwär­men, lösen sich lustvoll in ihren Gefühlen auf, weil die Distanz durch die Versuchsanordnung garantiert ist. Das Risiko ist dann höchstens, die Kinoerfahrungen und -gefühle wirklich für das Leben zu halten, dieses an ihnen zu messen und zu verurteilen, was nicht wenigen der Cineasten ja dann auch passiert. Die Schwärmerei (für bestimmte Stars, bestimmte Kinogeschichten, selbst die für bestimmte Kinomacher) erfüllt notwendig das Wesen dieses Kinos, sogar noch in den trivialsten Verirrungen. Doch darf darüber nicht vergessen werden, dass es die technische Phantasieform selbst ist, die geliebt wird. Da die Romantik in der Moderne sich in die Technik geflüchtet hat, gilt die Schwärmerei einer Erlebnisform, in der sich Nähe und Distanz, die Unbedrohlichkeit und die Verfügbarkeit, die Realität der Bilder und ihr Traumcharakter, der Schnitt als Akt der Trennung und die symbiotische Auflösung in den reinen Bilderstrom auf wundersame Weise paaren. So hat die romantische Liebe in der Moderne endlich ihren Ort gefunden: sie ist zur Ruhe gekommen im Blick des Liebhabers im Parkett auf die Leinwand. Ein tief romantischer Traum hat sich endlich erfüllt: Die Liebe zu den Schatten. Das Liebesobjekt ist ständig da, man muss nur unentwegt ins Kino gehen, und es ist gleichzeitig nie da, unendlich nah und unendlich fern zugleich, gemacht aus reinem Licht, immateriell wie Engel und Geister.

Das Kino ist die Vollendung der romantischen Liebesvorstellung. Natürlich wirkt das umso mehr, je stärker sich die Liebesform Kino auch mit Liebesgeschichten anfüllt. Doch nicht alle Liebesgeschichten eignen sich für diesen Verschmelzungsakt. Nur die, die von der Unendlichkeit des Begehrens erzählen, sind die richtigen, die, die dem Tod mutig ins Auge blicken, die mit den Grenzen der Existenz spielen, weil das alles nie seine ästhetische Faszination verliert. Ungeeignet sind jcne, die die Mühen der Ebenen beschreiben, die Suche nach dem Punkt, wo die mühsame Balance beginnt, in der Leben und Lieben zu einer lebbar Synthese kommen. Dies mag ein Film sein, aber es ist nicht das Kino.

Das Kino hat einen Hang zum Opfer, darin ist es der Oper verwandt und dass die Opfer meistens Frauen sind, versteht sich in der von Männern betriebenen Kultur von selbst. Dass Frauen dazu eine andere lebenspraktische Haltung haben konnten und sehr oft mussten, habe ich in dem Film über Rahel Varnhagen erzählt. ­Der Schrei geht um nach neuen Liebesgeschichten, aber die Ansichten darüber, was das sein könnte, gehen weit auseinander. Metaphorisch gesehen: etwas ratlos gehen wir herum wie in einem Haus, das eher einer Ruine ähnelt als einem Heim, in dem wir viel Schutt finden, viele Revenants, alte Kostüme aus Großmutters Schrank, viel Verstaubtes und unendlich viele Sehnsüchte. Kein heimeliger Ort, aber „draußen vor der Tür“ ist es noch unwirtlicher. Und so zimmert sich jeder und jede ganz postmodern und verloren allein, seine und ihre eigene Form mit dem tiefen Wunsch danach, erkannt zu werden durch den liebenden Blick, ernst genommen zu werden in der eigenen Größenphantasie. Den Spiegel, der der oder die andere sein soll, wünschen wir uns getrübt, aber mit der Behauptung, er sei klar. Und manchmal ist es ja wirklich so, dass der reine Glaube an das, was wir sein könnten, wenn er mit unserem gespiegelten Bild verbunden ist, uns zu dem macht, was wir potentiell sind.

Hier kann die Geschichte aber nicht enden, hier muss sie eigentlich erst beginnen. Denn wenn die romantische Liebe und das Kino sich im Blick konstituieren, dann ist das der Moment einer doppelten Differenz, Differenz der Geschichte zu den vom Kino her bekannten romantischen Liebesgeschichten, Differenz der Bilder, in denen sie erzählt wird, zu den uns von Kino her vertrauten Bildern. Mein Blick auf Rahel und Rahels Blick auf sich selbst balanciert auf der Nahtstelle von innen und außen und ordnet die Dinge im Raum und in der Vorstellung auf andere Weise metaphorisch, metonymisch, sich auszehrend, überlagernd, erbleichend, errötend. Der Blick stellt nichts objektiv im Bild fest, weil kein Wahrnehmungsakt, wie die moderne Wahrnehmungspsychologie weiß, gefühlsneutral ist. Das haben Rahel und die Frauen der Romantik schon immer gewusst. Wenn heute diese Einsicht wissenschaftlich legitimiert wird, könnte das trotzdem den Weg öffnen für ein Kino des nicht mehr kontrollierenden Blicks, in dem Frauen ihre eigenen Geschichten und Wahrnehmungsweisen wieder finden, in nicht entfremdeter Form und ohne gegen den Strich lesen zu müssen.

Denn hier enden die Worte und die – nicht beschreibbaren – Bilder beginnen.

In: Schauplatz Liebe, Mannheim 1993
In: Schauplatz Liebe, Mannheim 1993

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Kolossale Liebe

Aus einem Gespräch mit der Dramaturgin und Filmkritikerin Erika Richter

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