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Der Förderpreis, der heute vergeben wird, ist bestimmt für den „Experimentellen Film“. Als ich gebeten wurde, diese Festrede zu halten, versuchte ich mir klarzumachen, was das denn eigentlich ist und was ihn ausmacht: den Experimentellen Film. Und darüber möchte ich jetzt sprechen.

Was also ist Experimenteller Film?

Diese Frage gibt es, seit es den Experimentellen Film gibt. Und der existiert, seit sich die technische Möglichkeit entwickelt hat, Filme zu machen, die länger sind als eine Filmrolle. Auf Grund ihrer Länge brauchten diese ein Bewegungsgesetz für ihre Erzählung und griffen auf die aus der Literatur und dem Theater bekannten Formen von Narration zurück. Puristen hielten das sehr schnell für Verrat am Filmischen und machten Filme, die sich diesen erzählerischen Codes verweigerten und in der Bildbearbeitung des Einzelbildes und im abstrakten Rhythmus der Formen die Alternative suchten. Die Frontstellung ist also alt: experimenteller Film – Erzählfilm. Wenn man den Katalog der Kunstbiennale durchsieht und die Inhaltsbeschreibungen liest, findet man: narrative Kurzfilme, die in einer ungewöhnlichen Dramaturgie erzählen oder ihre Einzelbilder so stark bearbeiten, dass ihnen jeder Realismus ausgetrieben wird, daneben Animationsfilme und Filme, die ihren Impuls aus den Techniken von Grafik und Design beziehen, Filme über Künstler und Filme, die die Präsentationstechniken und Darstellungslogiken der Bildenden Kunst adaptieren. Und angesichts dieser verschiedenartigen Filme stellt sich die Frage, ob es denn ein gemeinsames Experimentelles gibt außer der Verweigerung dieser klassischen Narration.

Es geht mir hier nicht um eine endgültige Definition, darum haben sich Kunstwerke oder Filme nie gekümmert. Sondern darum, den Ort des Experimentalfilms im Spektrum der bewegten Bilder zu finden, denn da hat sich in den letzten Jahren etwas geändert. Es geht mir um die Richtung und die Bewegung dieser Änderung und man kann sie, so glaube ich, am besten erkennen, wenn man davon ausgeht, dass jedes Kunstwerk einen Kommunikationszusammenhang stiftet. Das Tafelbild war ein paar Jahrhunderte lang in der Kirche der Gegenstand, über den das Gespräch zwischen dem Gläubigen und seinem Gott ging. Das Bild im Museum war das auratische Artefakt in einer Moderne, die die Kunst weitgehend an die Stelle der Religion gesetzt hatte und damit auch einen Teil des religiösen Potentials auf sie übertrug. Im Roman kommunizierte der bürgerliche Leser und, viel stärker, die bürgerliche Leserin mit sich selbst in seiner und ihrer hoheitsvollen Einzigartigkeit. Der Kinospielfilm schließlich brachte den Zuschauer dazu, für eine kurze Zeit im Bauch der Masse zu verschwinden und dort Affekte und Reflexe auszuleben, die aus überwunden geglaubten Lebensperioden stammen. Mit jedem Kunstwerk ist eine spezielle Kommunikationshaltung verbunden: Anbetung, intellektuelle Mühe, Katharsis, Kontrollverlust.

Aber was ist die Kommunikationsform des experimentellen Films?

Film verweist auf Kino. Aber das Kino ist der Raum des Kontrollverlustes und der Experimentelle Film fordert die Denkanstrengung. Auch gute Spielfilme fordern Denkanstrengung, denn ihre Struktur und ästhetische Verfahren erschließen sich nicht im Plot. Aber erzählende Filme belohnen das durch einen Gefühlsbonus, der so gewaltig ist, dass er die Illusion nähert, es gehe ohne Denken, Fühlen reiche. An den Stätten der Moderne tummelt sich der süchtige Mensch, der seine Grenzen verlieren will, nicht der räsonierende, der auf Distanz besteht. Wenn man das Kino den Ort der Masse nennt, dann ist das keine soziale Beschreibung, sondern eine psychologische. Das bürgerliche Individuum, das auf seine Autonomie nicht verzichtet will, muss, wenn es den Erzählfilm im Multiplex sieht, sich in einen Cineasten verwandeln, um als Individuum überleben zu können. Diese Transformation setzt eine Menge an Kenntnissen voraus, die nur über viel Arbeit in viel Zeit zu gewinnen sind. Nur in der Kennerschaft überlebt die Distanz, die den Kunstgenuss des Individuums ausmacht. Das Kinonarrativ aber tut alles, um diese Distanz zu vernichten, sein Ziel ist das Affektmanagement, dem man sich lustvoll ausliefern kann.

Experimentelle Filme treiben die strenge Forderung, dass gedacht, entschlüsselt, gegrübelt und gefragt werden muss, auf die Spitze. Und dieses Denken und Grübeln ist auf keinen Fall zu vermeiden, denn sonst bleiben nur übrig die Urfrage der modernen Kunst: „Was soll das?“ und die Urantwort: „Versteh ich nicht.“ Durch die Forderung nach Denkanstrengung garantiert der experimentelle Film dem Zuschauer den Status als Teil eines bürgerlichen, räsonierenden Publikums traditionellen Zuschnitts, was sonst nur noch im Theater oder in den Museen geschieht, den klassischen Stätten der Individuen im Zeitalter der Masse. Die Zuschauer sind sich dieses Status bewusst und verteidigen ihn. Sie wollen in einen Dialog eintreten und nicht, wie im Spielfilm, die Grenzen ihrer Individualität für ein paar Stunden verlieren und durch Gefühlssymbiose die Distanz zum Kunstwerk vernichtet sehen.

Seit längerer Zeit gibt es im Kino fast keine experimentellen Filme mehr, sieht man von den Kinematheken einiger weniger Grosstädte ab. Der deutsche Autorenfilm in seiner „Sonderentwicklung“ hatte sich noch für seine eigenen Erzählhaltungen beim experimentellen Film bedient und damit auch eine zwar kleine, aber existierende Öffentlichkeit für experimentelle Filme geschaffen. Damals schon wurde klar, dass der Unterschied zwischen dem experimentellen Film und dem narrativen nicht im Bereich der ästhetischen Verfahren liegt, sondern im Affektmanagement. Der heutige deutsche „Qualitätsfilm“, wie der Autorenfilm für Zwecke von Filmförderungen genannt wird, sucht die Nähe der Genres, in denen kollektive Gefühlsprozesse eine Form finden. Für Experimentelles ist da wenig Platz. Das kann man als Verlust werten, nicht nur für den Erzählfilm, sondern auch für den Experimentalfilm. Man kann aber auch sagen, dass der Experimentalfilm im heutigen Kino der Überemotionalisierung nichts mehr zu gewinnen hat. Hier im dunklen Saal, wo sehr einfache Instinkte regieren, werden Dinge verhandelt, die nicht in erster Linie etwas mit Bilderfindungen zu tun haben, sondern mit sozialen Ängsten, kulturellen Brüchen, metaphysischen Wünschen, Transformationen der Essenz des Menschlichen. Von diesen Entwicklungen lässt der Spielfilm im Kino etwas spüren, und wenn er gut ist, tut er dies auch mit Bilderfindungen, die es so noch nicht gegeben hat. Wenn man heute etwas vom Kino fordern sollte, dann nicht, dass es Experimentalfilme zeige, sondern dass es wieder offen wird für den internationalen Autorenfilm, der im amerikanisch dominierten Mainstream untergeht, weil er sich der gewaltförmigen Emotionalisierung verweigert.

Auch das Fernsehen hat in seinen inzwischen durchlaufenden Programmen eine neue Stufe in der Hysterisierung der Bilder eingeläutet. Es partizipiert wie das Kino am gesteigerten Gefühlsrausch und das bestimmt auch die Kommunikationstemperatur, der sich alles, was dort gezeigt wird, aussetzen muss. Und so hat es eine gewisse Logik, dass auch das Fernsehen inzwischen auf den experimentellen Film fast völlig verzichtet. Denn als es ihn dort noch gab, gab es ihn wegen des Kulturauftrags des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und die Zahl der Redakteure, die dies als sinnvoll ansahen, war schon damals klein. Dass es ihn nicht mehr gibt, fällt nur wenigen auf und schon gar nicht den jungen Filmemachern, denn die haben in den meisten Fällen gar keinen Fernseher. Von diesem Medium erhoffen sie sich nichts mehr. Wenn man heute mit dem Verweis auf den immer noch bestehenden Kulturauftrag der öffentlich-rechtlichen Sender einen Sendeplatz fordern würde und – nehmen wir es einmal an – erfolgreich wäre, würde man sehen, wie verloren der experimentelle Film in dem Fernseh-Bilderstrom untergehen würde, denn der Werkcharakter, auf dem er bestehen muss, würde sich unter dem Druck des Programms auflösen.

Die neue Öffentlichkeit, in der sich der experimentelle Film seit einigen Jahren bewegt, ist die der Galerien und Museen. Und ich interpretiere dies nicht als erzwungene Emigration, weil die klassischen Orte der Bilder sich verweigern. Dem Film erwachsen durch die neue Umgebung große Vorteile, denn der neue Ort verändert seinen Möglichkeitsraum. Er gewinnt neue Fragestellungen und muss sich anderen Kriterien stellen als denen der herkömmlichen Filmkritik. Er findet im Museum und der Galerie die Kommunikationsform, auf die er angewiesen ist. Die Orte der Kunst sind heute auch Orte der sozialen Distinktion. Hier gibt es ein Publikum mit zielgerichtetem Interesse, Neugier und einer gewissen Kennerschaft. Ein Klima der Konzentration verhindert, dass alles sofort wieder entsorgt, wird in der nächsten Eisdiele. Im Museum herrscht nicht einfach das Geschmacksurteil von Tausenden, wie das im Kino und auch im Fernsehen notwendigerweise der Fall ist. Denn das Geschmacksurteil ist so banal wie unbestreitbar. Die Moderne erneuert sich immer wieder über die Ästhetik der Strasse. Kinofilme müssen es ertragen, mit Adjektiven wie „geil“ und „cool“ gelobt zu werden. Es hat aber seinen Vorteil, das sage ich Ihnen als eine, die selbst Kinofilme macht, wenn man sich nicht diesen Verwilderungsprozessen aussetzen muss. Kunst verlangt Aufmerksamkeit ohne Popcorneimer.

Es ist diese Ähnlichkeit der Kommunikationshaltung und der Kommunikationstemperatur, die dem experimentellen Film eine Nähe zur Kunst schafft, ganz unabhängig davon, wie nah seine ästhetischen Verfahren ihr sind. Der Raum des Museums ist aber auch noch auf andere Weise für den heutigen experimentellen Film eine Chance. Denn dem ging es in seiner Geschichte immer um die Befragung der eigenen Grundlagen. Im Kino mit seiner zweidimensionalen Leinwand kann solche Grundlagenarbeit sich nur auf die Zeit beziehen, denn im Kino gibt es keine Möglichkeiten für Dreidimensionalität. Im Raum des Museums und der Galerie kann der Film, nicht länger an die zweidimensionale Beschränkung der Leinwand gebunden, den Raum erforschen, wie die bildende Kunst es tut. Installationen sind nur ein Beispiel dafür. Grundlagenarbeit, mal nicht an der Zeit, sondern am Raum, ist, so glaube ich, ein wichtiges Feld für neue Entwicklungen im experimentellen Film.

Mit den neuen Chancen, die ich hier sehe, sind auch neue Verpflichtungen verbunden: nämlich andere Formen von Finanzierung. Experimentalfilm war – und ist es rudimentär immer noch – ein Bereich der kleinen Filmförderungen der Länder. Da ist er aber immer der kleine, unscheinbare Mitbewerber, der jammernd schreit: „Ich bin auch noch da, aber niemand liebt mich.“ Und es ist wahr, er wird nur geliebt aus schlechtem Gewissen und mit großem Misstrauen. Denn er ist im Konzert der Filme, die alle Geld haben wollen und in den Augen derer, die dies bewilligen sollen, kein „richtiger“ Film. Nicht nur, weil er sein Budget nicht wieder einspielt. Die Förderungen, die immer stärker auf ausgearbeiteten Drehbüchern und sehr genauen Projektbeschreibungen bestehen, tun dies auch aus Erfahrung, dass die Videotechnik die Zahl derer, die bewegte Bilder machen, multipliziert hat und das hat nicht nur zur Befreiung vieler bisher unentdeckter Talente geführt. Das Experiment darf aber nicht zum Feigenblatt für Beliebigkeit und einen Mangel an künstlerischen Fähigkeiten werden.

Die Formen des experimentellen Films können für junge Talente Durchlaufstationen sein auf ihrem Weg zu anderen Formen des Erzählfilms, jenseits des gerade angesagten „state of the art“. Dann sind sie genau das, was im Wort angelegt ist: das Experiment zu niedrigsten Kosten, das ästhetische Wege eröffnet. Das ist bei einer so kapitalintensiven Kunst wie Film immer ein wichtiges Argument. Als solcher ist der Experimentalfilm auch für die wichtig, die auf den Erzählfilm zusteuern. Der experimentelle Film als eigenständige Kunstform aber entwickelt sich zu Großprojekten wie Cremaster, die nur über Galerienverbünde und Kooperationen mit Museen zu finanzieren sind und nicht weniger kosten als ein normaler Autorenfilm. Finanzierungen für diese Kunstform sollten dann auch mit Hilfe der Museen eingerichtet werden. Cremaster 5 bezeichnet sich als Experimentier- und Konzentrationsfeld zu einem Aufscheinen von Möglichem. Hier geht es auch wieder um das Cinematographische, das Geschichtenerzählen, nur in einem anderen Raum und mit anderen Formen der Narration. Die alte Gegnerschaft zwischen den Experimentellen und den Narrativen tritt damit in ein neues interessantes Stadium. Sollte sich herausstellen, dass dies eine kopernikanische Wende gewesen ist, könnten wir sagen, wir seien dabei gewesen.

Jutta Brückner
Jutta Brückner

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