Kolossale Liebe

Rolf Richter

Kolossale Liebe

Das Nahe ist nicht immer gleich durchschaubar. In der Kunst ist das Nahe oft ein ernsthaftes Hindernis. Will man es einfangen, sind besondere Wege zu gehen. Einer davon ist hier zu beschreiben: ein Schritt in die Vergangenheit. Das braucht kein Rückzug zu sein, sondern kann Aufbruch, Eröffnung bedeuten. Denn heutzutage bekommt man das Nahe nur schwer in eine plausible Form, was immer das auch ist. Wie bekommt man beim Geschichtenerzählen einen möglichst festen Boden unter die Füße, und wie erzählt man doch Geschichten für Leute, die ganz andere Filme wollen als einem im Kopf herumspuken. Wie kommt man von Lebensgeschichten zu Verdichtungen, die doch Beunruhigungen enthalten?

Jutta Brückner problematisiert heutiges Geschichtenerzählen und zeigt, dass es sich dabei um einen Ritt über den Bodensee handelt. Der Untergrund ist gefroren, aber die Eisdecke ist gesprungen, gangbar für Wölfe, die einsam darüber hinweg schleichen, wo man zunächst misstrauisch und dann eher froh ist, dass da überhaupt noch Lebewesen herumlaufen. Diese Bilder einer kalten verlorenen Welt sind im Film immer anwesend, und auf diesen Grund stellt Jutta Brückner die Liebesgeschichte, die sie erzählen will und die sich unter der Hand zu einer Geschichte vieler Lieben, ja der Unmöglichkeit der Liebe wandelt.

Rahel Levin, Jüdin, die in Berlin einen berühmten Salon hatte und nach dem Niedergang Preußens in Einsamkeit überlebt, wird von dem jungen Varnhagen besucht, der ihre Nähe und auch Liebe braucht, um seine Selbstachtung als Literat zu stabilisieren. Er will sein Leben mit ihren Erinnerungen anreichern und aufwerten und unterwirft sich ihr, um über sie herrschen zu können. Rahel aber liebt den jungen Adligen Marwitz, dessen unabhängige Gestik und Sprache sie an einen Traum von einem anderen Leben erinnert. Marwitz seinerseits akzeptiert die Varnhagen als ein Wesen, mit dem er ein paar offene, doch letztlich folgenlose Worte wechseln kann. Für ihn kommt aber eine Liebe oder gar Ehe mit der alternden Rahel nicht in Frage. Er wird eine andere heiraten, die nichts von Rahels faszinierender Radikalität hat. Jeder denkt an eine Liebe, die sich nicht erfüllen lässt und braucht dennoch das, was sich da seltsam anbietet, als Überlebensanker. Besonders Rahel.

Damit ist die Lage der Figuren nur grob beschrieben. Jutta Brückner entwirft eine diffizile psychologische und politische Konstellation. Jeder verbirgt und öffnet sich, unterliegt Missverständnissen und erzeugt Elemente davon mehr oder weniger bewusst und erträgt sie schmerzlich. Jede Liebessituation ist in Teilen Selbstverstümmelung, die aber angenommen wird, weil man sonst vertrocknen würde. Die Wunden sind das Leben, sie können für den Moment sogar Befreiung sein. So entsteht ein Ereignis in vielen Schichten, die jeweils bestimmte Gefahren andeuten, eine Art Turmbau, der zu einer Archäologie von Lebensmöglichkeiten anregt. Inszeniert wird mit einer Vorliebe für bildhaften gestischen Ausdruck, der auf die inneren Kapriolen verweist. Die Spielweise ist leicht theatralisch, die Sprechweise minimal verlangsamt. Die Figuren sprechen viel, weil Sprache erklärt und verdunkelt, weil die Sucht, sich zu erklären, zu ihrem Wesen gehört, weil eine unausgesprochene Krise für sie unerträglich wäre. Sie haben die Erkenntnis derLage, ohne sie ändern zu können.

Die Schauspieler zeigen Vorgänge, ohne didaktisch zu werden, sie sagen: So sind wir, verraten Indizien, die wichtig für die Haltungen ihrer Figuren sind, damit wir ihre kolossalen Mühen verstehen, um in die Nähe der Liebe zu kommen. Das hat etwas leicht Exhibitionistisches, aber auch Parodistisches, die Selbstironie der Verzweiflung, die sich nach der Hellsicht wieder die Maske der Blindheit aufsetzt. Die Dinge, die auf der Kippe stehen, fallen schließlich in den Kompromiss. Der erkannte Selbstbetrug wird zur Überlebensstrategie.

Das gehört nun genau zu unseren Bedingungen des Lebens. Und das Seltsame geschieht, wenn etwas ausgesprochen ist, kann man mit den Fakten und dem Schmerz, den es macht, leben. Die Lage der Rahel ist sozial und politisch genau bestimmt, Preußen ist besiegt, die Basis ihres Salons genommen, die Gesellschaft in Einzelinteressen zersplittert, Geldmangel und Erinnerung an Ausgrenzung als Juden bestimmen das Leben. Ein unsicheres Alter steht ihr bevor. Rahel wird von der Realität überwältigt, und da sie keinen Ausweg weiß, verstrickt sie sich. Das ist die Beschreibung einer charakteristischen Situation, die sich dann in der Geschichte und in den literarischen Darstellungen wiederholt. Rahel gehört zu denen, die sie vielleicht erlebt und in Briefen beschrieben haben.

Die alte Geschichte ist sehr gegenwärtig. Sie erlaubt den besonderen Blick auf uns, ja wurde sicher dieses besonderen Blicks wegen erzählt. Die Form gibt diesem Blick einen besonderen Charakter, die Gewalt kommt aus der Unmöglichkeit, Liebe zu finden (also sich den existierenden Idealen oder Utopien anzunähern und Gleichheit zu leben), die Machtspiele werden nicht durch Bilder verdunkelt, sondern aufklärerisch offengelegt, ohne das Komplizierte und Komplexe zu verlieren und auch ohne zu belehren. Das Experimentelle wird als ein Angebot der Moderne behauptet und nicht nur in der offensichtlich experimentellen Ebene des Films. Die Kamera nimmt auch in den ‚normalen‘ Szenen optische Enthüllungen vor, bietet sinnliche Beobachtungen an, das Rhetorische wird ständig von dem optischen Ausdruck und von der Spielfreudigkeit der Darsteller gekontert. Die heterogenen Ausdrucksmittel sind in einer Stimmung der Unruhe zusammengefasst, die sich aber nicht in einem optischen Chaos verliert. Die Vielschichtigkeit der Geschichte wird so durchschaubar, aber es bleibt ein imaginärer Rest, der sich nicht im Staunen und Fragen verfängt. „Kolossale Liebe“ ist kein Film, dem der Publikumserfolg sicher ist, doch einer von denen, ohne die eine Filmsituation verflachen würde.

In: Film und Fernsehen 4/1992
In: Film und Fernsehen 4/1992

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Aus einem Gespräch mit der Dramaturgin und Filmkritikerin Erika Richter

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