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Kolossale Liebe

Aus einem Gespräch mit der Dramaturgin und Filmkritikerin Erika Richter

Kolossale Liebe

Aus einem Gespräch mit der Dramaturgin und Filmkritikerin Erika Richter

Luftwurzeln

Jutta Brückner über ihren Film „Luftwurzeln“

Der Realismus der Innenräume

„Der Film kennt der Natur seines Materials entsprechend nur die Gegenwart.“ (Lotman). In einem Kopf ist die ganze Welt gegenwärtig: eine Versammlung aus unendlich vielen Momenten der Vergangenheit und Zukunft, Tatsachen und Wünsche ungeschieden. Auch das Konditional kann nur Konditional sein, weil die Hoffnungen gegenwärtig sind, das Bewusstsein sich in ihnen bewegt wie im Präsens. Die Realismuskonvention beharrt darauf, real sei nur das physisch in Raum und Zeit gegenwärtige, vorfindbare; sie sieht den Kopf, nicht das, was drin ist. Ist dieser Kopf „normal“, dann kann der konventionelle Realist aufatmen, denn dann tut der Kopf etwas: er lacht, weint, spricht, bewegt sich. Erleichtert tut der konventionelle Realist das, was er als seine Aufgabe begreift: er registriert die Verlagerung von Masse im Raum, Veränderung der Materie, die von unsichtbaren Innenbewegungen am Außen hervorgerufen wird. Ist dieser Kopf nicht „normal“, gibt es keine Kommunikation, bleibt bewegungslos und stumm, dann hat der konventionelle Realist die starke Vermutung, dieser Kopf sei hohl. So konserviert er ein mechanisches Weltbild samt der Kausalität, an das heute in den wissenschaftlichen Disziplinen kein Mensch mehr glaubt. Allenfalls überlässt er die Erforschung dieses hohlen Kopfes dem Surrealismus, den er verachtet.

Wie filmt man Bewusstsein, das noch keine Spur in der Materie seines Trägers hinter­lassen hat? Die Montage des intellektuellen Films versucht, die Ebene des Abbild­naturalismus zu verlassen und zur Abstraktion von Begriff und Urteil im Kopf des Zu­schauers zu führen, immer aber anhand von konkreten Momenten der äußeren Wirklich­keit. Wie aber kann das „Innen“ sichtbar werden, die Bilder des chaotischen Bewusstseins und Unterbewusstseins, der Fluss der Assoziationen, die Organisation des Den­kens, der Prozess der Widersprüche, nicht der abgeschlossene Akt als Resultat? Wie filmt man einen inneren Monolog? Wie kehrt man die lineare Zeit um, zeigt Erinne­rung als den Prozess des Sich-Erinnerns?
Also: Filme über die Subjektivität machen als den Raum, in dem die Welt zu Zeichen und Bedeutungen verarbeitet wird, in dem Haltungen entstehen, Gedanken und Gefühle geboren werden. Diesen Prozess zeigen als Realist, der den konventionellen Realismus als Instrument nicht akzeptiert, weil der das Gegenständliche als unvermittelt Stoffliches (Adorno) sieht.
Realisten sind nie allein am Formexperiment interessiert. Ich halte mich für eine Realistin. Als ich im Rahmen des Gemeinschaftsprojektes „Die Erbtöchter“ meinen Film „Luftwurzeln“ mache, versuche ich, inhaltlich und formal eine Geschichte zu finden, in der die äußerste Bewegungslosigkeit mit einer Fülle von inneren Erup­tionen kontrastiert, in der Wirklichkeit sich nach „innen“ verzogen hat, fragmenta­risch geworden ist, wo Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft in einem Kopf zusammen­fallen. Ich muss nicht lange suchen. Die äußere Bedingung für so etwas bildet die Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik, an der nicht nur zwei Staaten zu­sammenstoßen, sondern auch zwei verschiedene Systeme von Wirklichkeit. Eine junge Frau, die in der DDR geboren und aufgewachsen ist, kommt nach West-Berlin und be­greift nichts, denn die Kausalität, die sie gelernt und für Wirklichkeit gehalten hat, ist nicht mehr verbindlich. Die neue Realität vor ihren Augen ist für sie nicht als Zusammenhang erfahrbar und der Versuch vergeblich, die verlorene Einheit­lichkeit der Welt wenigstens in der Erinnerung an Vergangenes zu retten. Denn bei konkurrierenden Realitätssystemen gibt es überhaupt keine Verbindlichkeit mehr. Ihr Wirklichkeitsbezug in Gegenwart und Erinnerung ist nur noch fragmentarisch, Bruch­stücke von Realität, die sie in ihrem Bewusstsein montiert zu Zusammenhängen, in denen sich nichts anderes wiederholt als Abschied. Die Fragmente sind nicht Teile der Realität sondern Teile eines Bewusstseinszusammenhanges. Sie klammert sich an sie als den Garanten dafür, dass Wirklichkeit einmal existiert hat.
Es geht also hier um den Zusammenhang von Identität, Geschichte und Wirklichkeit, um die Tatsache, dass eine Identität nur intakt ist in der Gesellschaft, in der sie erworben wurde. Es geht nicht um politische Informationen über die DDR, die Bundes­republik oder Paris. Der Film will nicht Realität zeigen, sondern deren Verarbei­tung und Verfall in einem Bewusstsein. Ihm geht es nicht um ein politisches Faktum, sondern um den neurotischen Prozess, der dadurch ausgelöst wird. Er montiert Reali­tätspartikel als Zitate eines Bewusstseins ohne Hierarchie der Bedeutungen, ohne Totalität. Er zeigt keine Einheit, wo keine mehr existiert. „Wichtiges“ steht neben „Unwichtigem“, Abstraktes neben Konkretem, alles Fragmente. Ein Scherbenhaufen. Die Frau sagt: „Ich muss alles neu lernen: Liebe und Hass und Widerstand und Hoffnung.“ Mit anderen Worten: sich selbst und die Wirklichkeit neu erschaffen, wenn die Erfah­rungsweisen nicht mehr passen.
Der Film sucht die Subjektivität der Frau auf, nicht als den unwissenschaftlichen Bodensatz, der den Gang der objektiven Erkenntnis behindert und von dem sich die Objektivität abstoßen muss wie der Phönix aus der Asche, sondern als den Ort, wo alles stattfindet: Wirklichkeit, Möglichkeit, Projektion und Erinnerung. Materiell: der Körper, die Kamera kann in klassischer Weise zeigen, was i s t . Immateriell: das Bewusstsein. Die Kamera blickt nicht auf Realität, sondern auf Blicke, mit denen sich die Frau Realität erschließt, Blicke, die gefärbt sind von Angst, Verständnis­losigkeit und den Empfindungsqualitäten der Erinnerung. Sie zeigt nicht Vorhande­nes, sondern die Wahrnehmung des vorhandenen als Wirklichkeit, denn Wahrnehmung ist immer mehr als nur Sehen, weil die Augen nicht nur nach außen, sondern auch nach innen blicken.

Für Marx sind die Fenster in einem Haus, was die fünf Sinne für den Menschen sind. Die Frau verhängt das Fenster, Schrift legt sich auf die Scheiben. Mit dem Zusammenbruch des Wirklichkeitsverständnisses der Frau hat sich auch ihre Wahrnehmung desorganisiert. Die Koordination der fünf Sinne zur ordnungsgemäßen Realitätserfahrung funktioniert nicht mehr. Die Sinne flottieren frei, nicht in ein Konzept von realistischer Wahrnehmung gebunden, für die sich die Kinokonvention der Synchronität von Ton und Bild etabliert hat. Farben und Geräusche als Auslöser der memoire involontaire und volontaire verlassen ihren synchron-naturalistischen Zusammenhang und werden zum Kontrapunkt, zum Signal, antiillusionistisch und verfremdend: die Farbe löst sich vom Gegenstand und legt sich auf Raumteile, der Ton löst sich vom Träger, die Schrift vom Heft, die Bewegung vom Ausführenden. Techniken des experimentellen Films im Zusammenhang einer Geschichte von Wirklichkeits- und Wahrnehmungszerfall. Der Film baut aus Fragmenten von Bildzusammenhängen, Tönen, Farbspuren, Schrift und Bewegung die fragmentierte Wirklichkeit, die durch Kopf zieht oder: durch die der Kopf zieht. Subjektivität existiert im Kraftfeld zwischen Augen und Ohren. Sie stellt Zusammenhänge her, die in der Logik des faktischen Geschehens nicht existieren.

Der Film reiht die unterschiedlichsten Materialien aneinander: Fotos in schwarz- weiß, in Farbe, teilweise oder ganz koloriert und beschriftet, Super-8-Aufnahmen, die auf 16 mm aufgeblasen sind, originäres 16 mm Material in verschiedener Körnigkeit, Kassettenmitschnitte von Fernsehsendungen. Es gibt die unterschiedlichsten Blicke auf die Wirklichkeit, die verschiedenen Materialien demonstrieren das, sie lassen den vereinheitlichenden Blick, der sich als realistischen ausgibt, nicht zu.

Ein Film über die fragmentarische Wirklichkeit ist in jedem Falle subjektiv. Aber nicht als Ausdruck der Subjektivität des Filmemachers, der sich an keinen Code halten will, sondern als gemeinsamer Raum für die Subjektivität der Heldin und des Zuschauers. Form als Feld der Möglichkeit (Eco). Denn ein solcher Film hat keine eindeutige semantische Strategie, die den Zuschauer zu bestimmten rationalen und emotionalen Ergebnissen führen will, er ist kein Gegenstand von Erfahrung, sondern ein Raum für die Erfahrung. Die Information, die er vermittelt, ist keine semantische, sondern eine ästhetische. Das ist eine Möglichkeit, Geschichte subjektiv und nicht paradigmatisch zu erzählen, denn es ist nicht mehr nötig, unerschlossene Subjektivitäten in der gemeinsamen „Objektivität“ des Paradigmas zu vereinen. Wie jeder Film vollendet sich auch ein solch offener erst in der Rezeption des Zuschauers. Aber anders als bei anderen bleibt die Freiheit der Phantasie vor einem so offenen und mehrdeutigen Reizfeld erhalten. Die Assoziationsketten der Zuschauer werden verschieden sein, je nach Erfahrung und gesellschaftlichem Standort, denn nicht die Assoziationen des Films werden vom Zuschauer nachproduziert, sondern der Prozess des Assoziierens bei ihm selbst in Gang gesetzt. So wird der Zuschauer zum Produzenten der Zusammenhänge, die der Film offenlässt, die er dann aber im Film zu finden glaubt. Er trifft hier auf sein eigenes aktives Unterbewusstsein, denn die Funktion des offenen Films ist psychoanalytisch, er kann Traumata aktivieren. Nicht nur der Film hat einen Prozesscharakter, auch seine Rezeption.
Dass das zu Verständnisschwierigkeiten führt, ist zu erwarten. Wie sollte es anders sein bei der Auseinandersetzung zwischen Materie und Traum. Aber: „eingezwängt in eine Schere aus notwendiger Weiterentwicklung der Filmkultur und Forderung nach unverzüglicher Allgemeinverständlichkeit“ (Eisenstein) halten wir fest an dem Gedanken, dass „Realität nicht nur die Dinge, sondern auch der Traum von den Dingen ist“ (Seghers). Und diese Verständnisschwierigkeiten passieren im Namen des Realismus gegen die Illusion der Realität.

epd Kirche und Film Nr. 1/2 vom Januar/Februar 1983
epd Kirche und Film Nr. 1/2 vom Januar/Februar 1983

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