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Jutta Brückner

Herr Hitler im Vorstadtkino

Warum die Deutschen in Scharen in den „Untergang“ rennen

„Die Deutschen rennen in Scharen in den Untergang“, wie der „Independent“ süffig-zweideutig schrieb und das würden sie nicht tun, wenn der Film nur einer selbstverliebten Geste von Bernd Eichinger geschuldet wäre. Irgendetwas von dem, was man im Kino finden kann, und vielleicht nur da, muss der Film haben. Schüler von Berliner Schulen, nach dem Kinobesuch befragt, äußern sich dem Sinne nach so: zum ersten Mal hätten sie das, was sie im Geschichtsunterricht gelernt hätten, wirklich gefühlt.

Etwas Ähnliches hatten wir ja schon einmal 1979 mit der amerikanischen Serie „Holocaust“. Hier wurde für westdeutsche Zuschauer zum ersten Mal Geschichte mit Gefühl zusammengebracht. Die Zuschauer reagierten mit ungeahnter Vehemenz. Massenhaft erschüttert sahen sie dem Schicksal der Familie Weiss zu, sahen, dass die Juden ja Menschen waren, die aßen, tranken, liebten, zankten und dann einfach weggeschlossen und umgebracht wurden. Der damalige Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, Martin Broszat, überwältigt von diesem Effekt, den sein Institut nie so erzielt hatte, grübelte danach öffentlich: „Vielleicht haben wir Historiker einen Fehler gemacht. Wir haben das Dritte Reich sine ira et studio gezeigt, wir hätten es aber mit Zorn und Eifer zeigen müssen.“
„Holocaust“ hat viele deutsche Ängste geweckt, dass ein Grauen profaniert werde durch die unangemessene Form. Woody Allen hat in seinem letzten Film satirisch zugespitzt über dieses Unbehagen gesprochen. Angesichts eines Aktes von Antisemitismus sagt sein alter Ego, man müsse aufpassen, weil man sich sonst wieder finden würde als Schwarz-Weiß-Film, unterlegt von Cellomusik. Schwarz-weiß hat die Anmutung des Dokumentarischen, das Cello vermittelt Einkehr und Gedenkstunde. Das erschien lange als einzig angemessene Ikonografie. Es wurde aber je länger desto mehr auch zu einer Geste der Distanzierung, in der das Verbrechen fern und unfassbar blieb. Auch in der Ästhetik wiederholte sich der psychische Vorgang, dass es wie eine Infektion eingekapselt wurde, weil es offenbar, wie ein böser Krankheitsherd jederzeit wieder ausbrechen konnte. Es gab eine Tabuzone um die Konzentrationslager und die Person Hitler.
Die Serie „Holocaust“ durchbrach gleich zwei ikonografische Tabus: sie bediente sich der bekannten Mittel der Identifikationsdramaturgie in einer filmischen Formsprache, die Millionen Zuschauern vertraut war – und sie zeigte den Gang in die Gaskammer. Und damit erreichte sie, dass die Juden, im deutschen Unbewussten immer noch Untermenschen, zu Menschen wurden, über deren Schicksal die Zuschauer weinten, gerade auch die, die mit „eyes wide shut“ deren Verschwinden aus ihrer gesellschaftlichen Mitte gesehen hatten. Damals wurde sichtbar, dass trotz aller offiziellen, ernst gemeinten Schuldbekenntnisse und staatlichen Feiertage im westlichen Nachkriegsdeutschland eine seelische Kälte geherrscht hatte, die der im Dritten Reich ziemlich ähnlich gewesen sein muss. Diese Erstarrung im Trauma wurde durch die Zwangsemotionalisierung der Serie aufgelöst. Das Verbrechen wurde seiner Unfassbarkeit entkleidet und zerfiel in viele einzelne Akte von Grausamkeit. Erst jetzt begann die Empathie mit den Opfern. Ein Strom von Büchern und Filmen setzte ein, in denen jüdische Schicksale so vielfältig geschildert wurden, wie es den vielen Schicksalen angemessen war.

Die Unfähigkeit zur Einfühlung geriert Mythen und wo das Verständnis aufhört, beginnt die Faszination des Grauens. In jenen Jahren, in denen man sich auf die Empathie nicht verlassen konnte, ersetzte man sie durch Moral, oft in schriller Überhöhung. Im Alltag äußerte sich das als Dauerempörung. Aber moralische Gnadenlosigkeit schützt nicht vor heimlicher Faszination. Till Bastian, Sohn von Gerd Bastian, sagt: „Wenn sich mein Vater so ernsthaft mit seiner Faszination für die NS-Gewalt auseinandergesetzt hätte wie Traudl Junge, dann hätte er vielleicht nicht dieses gewalttätige Ende genommen.“
Ein Tabu zu errichten, ist kulturgeschichtlich weder richtig noch falsch ist, es ist nur notwendig und ebenso notwendig ist seine Durchbrechung, weil es nichts verhindern, sondern nur etwas verbergen kann. Darauf hat der beste Kenner der Populärkultur, Georg Seeßlen, hingewiesen. Das Verborgene als das Verdrängte bekommt, wenn es mit dem Bildtabu belegt ist, eine negative Heiligkeit. Und darin verlängert sich das Dritte Reich selbst. Denn es wird heute gern vergessen, dass Hitler sich als der deutsche Messias ausgab und die Judenvernichtung als Werk des Herrn beschrieb. Viele seiner frühen Reden beendete er mit Gebetsfloskeln und dem letzten Wort „Amen“. Zum Irrationalen des Dritten Reichs gehört nicht nur die Todesliebe der Nazis, sondern auch eine Religiosität, in der der Platz Gottes eine Leerstelle bleibt. In ihrer allgemein verständlichen Filmsprache zeigte die Serie „Holocaust“ allen, dass die religiöse Überhöhung, die das Dritte Reich dem Antisemitismus gegeben hatte, nur ein gewaltiges Verbrechen an Menschen verbarg.
„Der Untergang“ nimmt sich in denkbar größter Öffentlichkeit des zweiten Tabus an: der Darstellung der physischen Person Hitler. Die Angst vor diesem „Menschen Hitler“ oder auch der faszinierte Wunsch, in ihm „das Böse“ festzunageln, sichtbar und greifbar zu machen, geht notwendigerweise ins Leere. Hier versagt der Film durch seine selbst auferlegte Beschränkung auf die historische Faktizität der letzten 12 Tage im Bunker. Das faschistisch Böse ist nicht in seinem Urheber sichtbar und greifbar zu machen, sondern nur durch die gesamte Vernichtungskette, die hier nur im Zustand der Agonie erscheint. Vielleicht ist es ja gerade so, dass der demiurgische Verbrecher der Moderne ein Mann ohne Eigenschaften ist. In der Fassungslosigkeit vor dem Biedermann, dem die entfesselte Technik zu Orgien von Zerstörung verhilft, ist Hitler zwar die bedeutendste, aber nicht die einzige Gestalt. Ob man diesen Menschen zu einem Helden macht oder zu einem Monstrum liegt in der Hand der Filmemacher. Der Grundstoff, aus dem beides entsteht, ist das Menschliche. „Holocaust“ hat die „jüdischen Untermenschen“ zu Menschen gemacht, „der Untergang“ macht den Messias, „den Übermenschen“, zum Menschen. Es war dieser brüllende, weinerliche, auch freundliche, fanatische und feige Mensch, der im Zentrum eines Verbrechens stand, das wahnsinnige Dimensionen angenommen hat und ohne die Mitarbeit vieler ebenso fanatischer Unbedingter und die moderne Technik gar nicht hätte ausgeführt werden können. Und das heißt auch: es ist erklärbar. Dass es uns bis heute noch nicht befriedigend gelungen ist, bedeutet nur, dass es viele der uns vertrauten Erkenntnisse übersteigt, weil das Dritte Reich so weit in die Gegenwart reicht, dass wir für manches blind sind.
Hollywoods „Holocaust“ war für die Deutschen der letzte große, populäre Akt von Geschichtspolitik, denn der Historiker-Streit und die Goldhagen-Kontroverse waren Fachdebatten. Die NZZ fragt aus dem nahen Ausland: „Muss schon wieder eine ‚neue Phase‘ deutscher Vergangenheitsbewältigung ausgerufen werden? Stehen wir vor einer zeithistorischen Wegmarke, einer Zäsur im deutschen Erinnern an das größte Verbrechen des 20. Jahrhunderts?“ Es wäre jetzt das zweite Mal, dass ein Akt von Geschichtspolitik in Deutschland in und über die Medien stattfindet. Geschichte wird in den Bildermaschinen des Kinos und des Fernsehens zwangsdemokratisiert. In dem, was sie zeigen, gehen das politische und das ästhetische Bedürfnis eine Allianz oder auch eine Mesalliance ein. Was diese Bildermaschinen leisten können – auch in den eher normalen Produktionen des „Gedenktagfernsehens“ – ist die Wiedererweckung des Verdrängten im Vergangenen. Die fotografischen Bilder, die Vergangenheit speichern können, haben ein grundsätzlich anderes Verhältnis zur Geschichte erzeugt, als es in den vergangenen Jahrhunderten denkbar war. Im fiktionalen Kino wird die Darstellung von Geschichte zur éducation sentimentale. Die alte Forderung, „aus der Geschichte zu lernen“ stellt sich heute anders und neu im Medienzeitalter, das ja mit dem Faschismus begann. Denn der Faschismus war die staatliche Organisation von Gefühlen. Nicht nur die Gewalt und der Hass, auch das Ressentiment, die Liebe und die Hysterie wurden durch den Staat in Dienst genommen. Hitler gestaltete seine Beziehung zu den Deutschen als Familienroman. Der einzelne lebte mit diesem Staat in einer besonderen Gefühlssymbiose. Nur ein Chamäleon wie Hitler konnte zur Projektionsfigur werden, die über die Entfachung von seelischen Vorgängen ungeheure Energien freisetzte. Diese emotionale Intimität zwischen Hitler und den Deutschen ist immer noch ein Rätsel, selbst für einen Kenner wie Joachim C. Fest.
Wir haben im Moment eine Inflation des „Gefühlten“: nicht nur die gefühlte Temperatur, sondern auch die gefühlte Demokratie, die gefühlte Teuerung, die gefühlte Geschichte, die gefühlten Grenzen, die gefühlte Deklassierung. „Bild“ möchte, dass wir „fühlen, was geschieht.“ Den Gefühlsstau, den der Psychoanalytiker Maatz für die Ostdeutschen konstatiert hatte, gibt es ebenso im Westen, hier äußerte er sich nur anders. Es gibt Diagnostiker, die Deutschland seit 1945 in einer Gefühlslähmung sehen. Mit der Auflösung der deutschen Teilung lösen sich auch tiefer liegende Verschüttungen. Eine nationale, mit einem Trauma beladene Geschichte wirkt ähnlich wie eine individuelle traumatische Biografie. Ein Trauma löst sich nur auf, wenn man es noch einmal durchlebt. Das Kino ist der privilegierte Ort, wo das geschehen kann. Hitler als Menschen zu sehen, der brüllt, leidet, per Befehl tötet und sich selbst nach einer todsicheren Möglichkeit zum Selbstmord erkundigt, ist eine Vergegenwärtigung, die auch eine Befreiung sein kann. Das hat ein ganzes Land aus zwei halben, die jeweils mit unterschiedlichen Erinnerungen belastet sind, wohl nötig. Ob dies der Gründungsmythos des wiedervereinigten Deutschlands ist, wird sich zeigen.
In dieser éducation sentimentale der Deutschen ist der „Untergang“ ein Schritt, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Im Kino, in dem ich den Film gesehen habe, lachten die Zuschauer befremdet, irritiert, ungläubig, als Hitler sich immer neue Armeen ausdachte, die den Belagerungsring um Berlin sprengen sollten. Dieses Lachen, gleichgültig ob von den Machern geplant oder unbeabsichtigt, tötet jede Faszination. Größer als in diesem Moment kann der Abstand zwischen damals und heute nicht sein. Das Wichtigste am Film aber ist ein anderer Augenblick: Die Leichen werden herausgetragen, in die Grube gelegt und verbrannt. Jetzt erst ist Hitler erledigt und mit ihm Trauma, Tabu und Faszination. Alles, was nur in der Phantasie stattfindet, ist endlos änderbar, weil nicht wirklich. “When you see it, it becomes real.” So wie die „Holocaust“-Serie den Deutschen sagte: „Juden sind Menschen“, sagt der „Untergang“: „Hitler ist wirklich tot, wir haben es mit eigenen Augen gesehen. Man muss keine Angst mehr vor ihm haben.“
Die New York Times findet, dass Hitler „zum akzeptablen Material für ein Stück Mainstream-Unterhaltung geworden ist“. Dies zeige nur, „wie weit die Deutschen es gebracht haben, ihre Gespenster zur Ruhe zu betten“. Dazu gehört aber im deutschen Kontext die skrupulöse Beachtung der historischen Fakten. Der „Untergang“ hat sich so überkorrekt diesen Fakten ausgeliefert, dass er mit Recht „Rekonstruktionskino“ genannt wurde. Geschichtspolitik macht man aber nicht nur mit guten Filmen. Der Vorwurf, dass, wenn man sich auf das Arrangement der historischen Fakten beschränkt, man die Regie den Akteuren des Dritten Reichs überlasse, ist so richtig wie scharfsinnig. Aber in einem neurotischen Prozess müssen die Dinge wieder vergegenwärtigt werden, auch durch ein distanzloses Dabeisein, damit man ihre emotionale Bedeutung überprüfen und endlich in ihrem wahren Wert erleben kann. Die Frage einer tieferen Erkenntnis des Dritten Reichs ist durch Eichinger/Hirschbiegels „Untergang“ nicht beantwortet.

Seit Jahren hört man bei den Filmförderungen und in den Fernsehanstalten ein großes Stöhnen, wenn es um Stoffe des 3. Reichs geht: es sei alles gesagt. Dieser jüngste, auch kommerziell erfolgreiche Akt unserer Verarbeitungsgeschichte räumt hoffentlich den Weg frei für andere noch nicht erzählte Filmstoffe. Die Freundin von Traudl Junge sagte: „Ich konnte Ihnen gar nichts Neues sagen über Traudl, es waren doch alles nur so Gefühlssachen.“ Die unbegriffenen deutschen Gefühlssachen ziehen ihre Schleifspur bis zur RAF, die doch angetretenen war, um mit dem Erbe der faschistischen Väter aufzuräumen. Als Jan Philipp Reemtsma neulich bei einer Tagung über den politischen Linksterrorismus jener Jahre sprach, lehnte er es ab, den Terror im Namen einer höheren Moral zwar nicht zu legitimieren, aber doch die Motive zu respektieren, wie es lange Zeit unter Linken üblich war nach dem Schema: die Mittel waren falsch, aber die Motive waren in Ordndung. Einem Zuhörer mit gutem Gedächtnis wären alte Stimmen eingefallen: dass Hitler die Judensache übertrieben habe und er das nicht hätte machen dürfen, dass aber das Dritte Reich sonst in Ordnung war. Es geht hier nicht um Systemvergleich, es geht um Erkenntnis von Gefühlen und Mentalitäten, die auch Systemwechsel überdauern. Das heißt, es geht um uns selbst.

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