Ein Blick und die Liebe bricht aus

Ein Gespräch zwischen Jutta Brückner und dem Filmkritiker und Filmhistoriker Hans-Joachim Schlegel über EIN BLICK – UND DIE LIEBE BRICHT AUS.

Es geht nicht nur um die Träume, sondern auch um die Alpträume von den Dingen.

Schlegel: Du kennst das Zitat von Anna Seghers: „Zum, Realismus gehören nicht nur reale Dinge, sondern auch die Träume und die Vorstellungen von Dingen“. Hast Du in diesem Sinn einen realistischen Film gemacht?

Brückner: Er sieht nicht so aus, wie man sich einen realistischen Film vorstellt. Kostüme, Dekor, der durch viele Spiegel aufgelöste Raum wirken ja wohl eher surreal. Trotzdem geht es mir um die Realität, aber um innere Realität. Für mich selbst würde ich das schöne Zitat von Anna Seghers erweitern: Es geht nicht nur um die Träume, sondern auch um die Alpträume von den Dingen.

Schlegel: Hat der Film dann überhaupt noch etwas mit Argentinien zu tun, wo er ja schließlich gedreht worden ist?

Brückner: Der Ort des Films ist ein imaginärer, der Kampfplatz „Seele“, auf der Leidenschaft und Hoffnung zu Bosheit und Enttäuschung werden, wenn zuviel stumme Sehnsucht mit realen Dingen und Menschen zusammenstößt.

Schlegel: Ich muss meine Frage wiederholen: Warum dann Argentinien?

Brückner: Der erste Grund ist der Tango, der in vielen musikalischen Momenten des Films zu hören oder doch zu spüren ist. Ganz gleich aus welchen sozialen Bedingungen heraus die Musik entstanden ist, für uns ist sie zu einer Prägeform von Leidenschaft geworden, sie hat einen Hof von Versagung, Sehnsucht, Rache und Trauer, alle diese schönen und scheinbar so einfachen Gefühle, die selten einem Objekt gelten, sondern der eigenen Sehnsucht nach einer Gefühlsintensität. Der Tango geht musikalisch abrupt mit Gegensätzen um, deshalb ist er der geeignete musikalische Ort für das, was ich erzählen will. Und dann konnte ich natürlich die dokumentarische Sequenz am Schluss in diesem Vorstadt-Tanzlokal nur in Buenos Aires drehen …

Schlegel: Eine Stadt, von der man im Film nichts sieht…

Brückner: Trotzdem ist sie anwesend. Ich hätte diesen halb verwahrlosten, halb durch Brand zerstörten ehemaligen Schlachthof, der inzwischen in ein Lager verwandelt wurde, das wie eine Kathedrale aussieht, nicht in Europa finden können. Diese Mischung aus Zerstörung, Dekadenz und Unvollendetem ist für mich der topografische Ort, an dem ich meine Geschichte erzählen kann, so wie es im Bereich der Musik der Tango ist. Denn auch die Geschichte der Liebe, die der Film erzählt, ist uralt und doch ganz unfertig, sie ist verbraucht und hat noch nicht einmal richtig angefangen.

Schlegel: Du sagst selbst, „Geschichte der Liebe“, denn das ist es ja wohl, jenseits der vielen Liebesgeschichten, die der Film erzählt. Es geht ja hier um ein konzeptionelles Erzählen und nicht um eine Story.

Brückner: Es sind die biografischen Grundsituationen, die vollkommen bekannten Wünsche und Ängste. Der Brief der Frau durchläuft diese vielen Stationen, die sich die Gefühle schaffen, um diesem begehrten Zustand „Liebe“ näher zu kommen. Am Ende hat sie erschöpft und ratlos alles gemustert, was sie erlebt hat und was sie weiß, und obwohl die Bilanz eher negativ ist, bleibt die Hoffnung, dass dieses uralte und doch nur halbfertige Ding „Liebe“ sich auch noch ganz anders zeigen könnte. Der Film zeigt einige der Facetten der Geschichte, die Frauen mit der Liebe haben können, denn jede konkrete Liebesgeschichte ist erst einmal auch eine Liebesgeschichte mit der Liebe.

Schlegel: Für mich ist das Interessante an diesem Film, dass sich diese Art des konzeptionellen Erzählens mit einer sehr subjektiven Perspektive verbindet, was bisher nicht üblich war, wenn konzeptionell erzählt wurde. Es ist ein Film aus der Sicht von Frauen oder aus der Sicht einer Frau. Kommen deshalb die Männer in dem Film so wenig gut dabei weg?

Brückner: Die Frauen kommen auch nicht besser weg. Beide, Männer wie Frauen, hängen doch im Netz ihrer unausgesprochenen und unbewussten Hoffnungen und Erwartungen. Die Frauen sind hier oft aktiver, weil die Liebe in ihrem Leben einen größeren Raum einnimmt. Und weil der Film aus ihrer Perspektive erzählt, sind alle Männer Projektionen. Die Wünsche, die an ihnen festgemacht werden, sind viel zu groß, als dass sie sich je erfüllen könnten. Denn zu dieser Erfüllung würde auch gehören, dass sie passiert, ohne eingeklagt zu werden. Rausch, Ekstase, Wunsch nach Auflösung können sich nur ereignen, sie können nicht in gegenseitiger Verabredung arrangiert werden. Die Männer sind nur Orte, an denen der eigentliche Partner getroffen werden soll und das ist die Liebe.

Schlegel: Der Film hat eine Syntax von typischen und typisierten Situationen, in denen mit Geräuschen, Musik und expressiv-surrealen Bildern Bedeutung gebildet wird, die in Dialogen nicht zu fassen wäre.

Brückner: Agnès Varda hat diesen Film in Spanien gesehen und gesagt: „Dies ist ein Film über die Liebe in der Tradition des deutschen Expressionismus, gesehen durch den Blick einer Frau.“

Schlegel: Ist das eine aggressive Haltung gegenüber dem alten Erzählkino?

Brückner: Auch das expressive Kino erzählte ja. Aber für das, was ich hier wollte, eignete sich das konventionelle Erzählkino nur noch in Bruchstücken. EIN BLICK – UND DIE LIEBE BRICHT AUS ist auch ein Film über die Vorstellung, dass Liebe das wortlose Entzücken ist. Ich wollte diese Vorstellung, dass Gefühle stumm bleiben dürfen und sich trotzdem vermitteln, „erkannt“ werden, auch sprachlos darstellen. Es war oder ist eine wichtige Etappe in der Liebesgeschichte mit der Liebe, dass Frauen heute glauben, dass die Probleme mit ihr gelöst werden können, indem alles besprochen wird. Auf diese Praxis reagiert der Film. Das alte Erzählkino hat für mich da ausgedient, wo es an der Vorstellung festhält, dass sich Realität nur in realistischen Bildern vermitteln lässt. Für mich gehören zur Realität nicht nur Sprache und Raum, sondern auch die Auflösung des Raums und die Sprachlosigkeit, d.h. nicht nur die Dinge, sondern auch deren verzerrte Wahrnehmung.

Schlegel: Der Film arbeitet für mich an einer Überwindung der Schere von notwendiger Weiterentwicklung der Filmsprache auf der einen Seite, und der notwendigen Allgemeinverständlichkeit auf der anderen. Er erzählt keine Geschichte, die von sich aus Spannung erzeugen könnte, und trotzdem entwickelt er einen „Sog“.

Brückner: Wichtig war die gemeinsame Arbeit mit dem Kameramann, dem Komponisten und der Cutterin. Das ist natürlich für jeden Film wichtig, aber hier ging es in jeder Arbeitsphase immer um ästhetische Entscheidungen, die die jeweilige Sequenz auch ganz anders hätten interpretieren können. Es ging ja nicht darum, den Film beim Schnitt oder in der Vertonung reicher oder kohärenter zu machen, nachdem die eigentlichen Entscheidungen ja schon im Drehbuch getroffen gewesen wären. Es ging darum, ihn auf jeder Arbeitsebene eigentlich erst zu erschaffen.

Schlegel: Der Film nimmt in einem sehr subjektiv-moralischen Sinn Partei. Stand seine „Ideologie“ von vornherein fest?

Brückner: Das Problem mit der Liebe ist gerade in den letzten Jahren immer wieder in den Diskussionen unter Frauen aufgetaucht, nachdem jahrelang nur über andere Fragen geredet wurde. Es ist auch deutlich geworden, dass diese Wünsche und Hoffnungen nicht einfach mit der Emanzipation verschwinden, weil sie als Teil eines universalen Unterdrückungszusammenhang scheinbar erkannt und gebannt sind. Wie viel an Unterdrückung von Männern an Frauen, von Frauen an Frauen, von Frauen an Männern sich in dieser Glücksvokabel verbergen kann, darf auch nicht einfach wieder vergessen werden. Aber wo ist der Weg zwischen Kritikfähigkeit, die Frauen entwickelt haben, um Unterdrückungen zu erkennen, und der Begeisterungsfähigkeit und auch der Kraft, sich zu verlieren, ohne die Liebe gar nicht möglich ist?

Schlegel: Auf diese Frage gibst Du aber keine Antwort…

Brückner: Nein, das kann im Moment jede für sich auch nur ganz individuell entscheiden, wie weit ihr die Wünsche nach Grenzenlosigkeit, dem Glück in der Passivität, dem Zauber, der darin liegt, mit der Welt, dem Leben oder einem herrlichen Bild von sich selbst beschenkt zu werden, wie weit ihr das wichtig ist, dieser ganze Tumult des Unbewussten, der in Sadismus aus Enttäuschung umschlägt, wenn das Objekt zu sperrig ist. Für Frauen ist das ein besonders brennendes Problem. Weil bei aller Befriedigung durch Arbeit oder ein einigermaßen sinnvoll selbst geschaffenes Leben von Frauen die Hoffnung auf das einbrechende Glück, durch das ein Leben außerordentlich wird, nie aufgegeben wird.

Schlegel: Haben die Produktionsbedingungen dieses LOW-BUDGET-Films dessen Form mit geprägt?

Brückner: Ganz sicher. So viel Freiheit habe ich noch nie bei einem Film gehabt. Es gab kein Drehbuch, nur eine Sammlung von Ideen, die sich in den verschiedenen Phasen von der Dreharbeit bis zum Schnitt und der Vertonung weiterentwickelt haben. Ich hätte lange Zeit den Film immer noch ganz anders machen können.

Schlegel: Das ästhetische Ergebnis hat mit dieser Freiheit sicher viel zu tun. Glaubst Du, dass ästhetische Formen, wie Du sie in diesem Film entwickelt hast, auch auf größere und kommerziellere Produktionen übertragen werden können, obwohl der Produktionsprozess da viel sperriger und planbarer sein muss?

Brückner: In jedem Fall. Nachdem ich diesen Weg gegangen bin, ist er für mich auch planbarer geworden. Ich glaube auch, dass sich bestimmte surreale Momente des Films sehr gut mit einer individuellen Geschichte verbinden lassen, immer dann, wenn es nicht nur um Dinge, sondern auch um die Wunsch- und Alpträume von Dingen geht.

Das Gespräch wurde vor der Uraufführung des Films auf der Mostra del cinema in Venedig geführt.
Das Gespräch wurde vor der Uraufführung des Films auf der Mostra del cinema in Venedig geführt.

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