Ein Blick und die Liebe bricht aus

Filmblätter des Internationalen Forums des Jungen Films 1987

„Ein Film einer protestantischen Regisseurin über ein katholisches Land….“

Ich rede und schreibe über das Thema als Agnostikerin. In der Zeit, in der ich aufwuchs und zur Schule ging, war Religion Pflichtfach und fast alle Schulen Konfessionsschulen. Ich war ohne Religionszugehörigkeit, ein ungetauftes Kind und mein Schuleintritt war begleitet von der Frage, welche der beiden Volksschulen mich denn überhaupt nehmen würde. Als die katholische ablehnte, musste ich in die protestantische, denn schließlich gab es die allgemeine Schulpflicht, auch für ungetaufte „Heidenkinder“. Im Religionsunterricht hatte ich frei. Aber als einzige auf dem gähnend leeren Schulhof zu stehen, war nicht verlockend. Also nahm ich teil und interessierte mich. Es begann meine Karriere als aufmerksame Schülerin des Religionsunterrichts, die als einzige der Klasse im Abiturzeugnis in Religion „sehr gut“ hatte. Unbefangen konnte ich begreifen, wie stark alle unsere Bilder und Sprachfiguren durchtränkt sind mit christlichen Vorstellungen, auch wenn eine vollkommen säkularisierte Gesellschaft das nicht mehr sieht.

Interessant ist nur das, was man freiwillig tut. Andere, die in eine ererbte Religiosität hineinwuchsen, fühlten sich nur noch umstellt von sozialen Riten, gegen die sie sich erst einmal wehren mussten. Für mich verbarg die Bibel wenig Moral, aber viel Sprachkraft und ein Pathos, das mich faszinierte. In der Nachkriegszeit in einem Deutschland, das geschockt und verkrampft sich bemühte, keine Fragen zu stellen, zu essen, sich zu amüsieren und Mimikry an demokratische Verhältnisse zu üben, in die es erst hineinwachsen musste, konnte Religion zum Erlebnis werden unter der Voraussetzung, dass man mit der Amtskirche nichts zu tun hatte. In solcher Lektüre konkurrierte die Bibel mit Sartre, Camus, Nietzsche, Marx. Es ging nicht um kanonisierte Formen von Frömmigkeit in der Gemeinschaft der Gläubigen, sondern um das Gefühl von Aufbruch, Revolte, Gerechtigkeit, Hoffnung und Paradies, um ein Lebensgefühl.

Einige Jahre später, als ich merkte, dass ich zu einer anderen Gemeinschaft gehörte, der der Frauen, stellte sich die Frage des Christentums neu. Die Kirche und die Kirchen haben als geschichtliche Definitionsmacht über das, was „Frau“ ist und zu sein hat, weibliche Biographien so bestimmt und deformiert, dass da ein neutral kühles Verhältnis schwer ist. Selbst da, wo nicht über den unseligen Zusammenhang von Papst und Pille geredet werden muss, war und ist den Kirchen ein Bild der Frau, das nicht nur seelenlos in einer Nische zwischen dem Vatergott, dem männlichen Sohn und dem Prinzip des ebenso männlichen Geistes vegetiert, nur schwer abzuringen. Dass Frau dabei die ungenannte Materie ist und bleibt, ohne die auch diese vertikale Konstruktion vom Kreuz bis in den Himmel nicht stehen könnte, blieb lange unbenannt und unerkannt, bis die bohrenden Fragen der Frauen hier keine Ruhe mehr ließen.

Ich vermute, dass aber genau das für mich auch die Faszination ausmacht. So rein wie in dieser männlichen Genealogie präsentiert sich das Patriarchat sonst nie mehr. Vieles, was Frauen heute als nicht biologisches, aber historisches Fatum ansehen, hat in diesem Männerbund, in dem die Gottesmutter nur der irdische Behälter für den göttlichen Samen ist, seine Ursache. Und trotz aller Säkularisierung, ja geradezu befördert durch sie, ist die Vorstellung von der Frau als Gefäß der göttlichen Liebe in die moderne Liebesvorstellung eingegangen. Die einfache Verschiebung von der „Liebes Gottes“ auf die „göttliche Liebe“ ist der Kern des Bedeutungswandels. „Liebe auf den ersten Blick“ ist ebenso sehr die Erweckung zum wahren Leben wie die Bekehrung zu Christus es ist. Peter von Matt hat für die deutsche Geschichte von der Liebe als einer Gegenreligion gesprochen, die den Thron des alten Vatergottes leergefegt hat: „Weggefegt ist der Herr, fortgeblasen wie ein Nebelstreif.“ Auch der Erlkönig ist nicht zu fassen, aber er tötet trotzdem.

Dieser pathetisch-romantische Mythos der modernen Liebesreligion hält die Frauen im Patriarchat gegen alle Erfahrungen mit ihm und alle Erkenntnisse über es. Und er ist die notwendige dunkle Seite eines verengt aufklärerisch verstandenen Emanzipationsbegriffes. Vieles, was an Frauen und ihren Bewegungen unverständlich ist, klärt sich nur darüber. Das Fatale ist aber, dass der Vatergott an den irdischen Vater nicht nur die Herrschergewalt ausgeliehen hatte. Damit würde man in einem allseitig demokratischen Zeitalter wohl fertig werden und solange die Fortschritte nur sozial gedacht werden, ist Land in Sicht: der Haustyrann, der nicht mehr für den Unterhalt sorgt, ist entmachtet, wenn er nichts anderes ist als das. Aber Gott hat dem „Göttergatten“ auch den Status des ersehnten, fernen Subjektes ausgeliehen, das erschüttert, markiert, aber ungreifbar ist. Die Konsequenz, die das für Frauen hat, hat Kleist in Amphytrion gezeigt. Von da aus ist es ein Schritt bis zu Lacans Bemerkung, daß das Urbild des weiblichen Genießens die Liebe der Mystikerin sei.

Das alles kann man wissen.

Nur: wie filmt man so etwas?

1983 bekam ich eine Einladung nach Argentinien. In Europa war das Unbehagen an einer sozialtechnisch verstandenen Emanzipation deutlich geworden und das Bewusstsein ihrer dunklen Seite wuchs. Die Frauen trugen wieder Stöckelschuhe und gingen in die Kurse für Tango, Bauchtanz und Flamenco. Ich traf in Lateinamerika auf eine Kultur, die unter der Militärdiktatur wie unter einer Glasglocke gelebt hatte, abgeschnitten vom Rest der Welt, beschäftigt mit dem puren Überleben. Die Modernisierungsschübe, die mit neuen Wertekatalogen über die Industrieländer hinweggefegt waren, waren hier noch nicht angekommen. Argentinien, das für meinen europäischen Blick eh schon lauter Zeichen europäischer Vergangenheit in sich barg, zeigte sich mir als eine Gesellschaft, in der noch alles sichtbar war, was in Europa und Nordamerika nicht mehr existierte, um so mehr als, wie in allen lateinisch-katholischen Kulturen, hier in die Glieder fährt, was in den protestantischen nur im Kopf bleibt. An diesem Schnittpunkt zwischen zwei Zeiten und – für mich, die agnostische Protestantin – zwei Religionen, holte mich visuell mein Thema ein: die romantisch-abendländische Liebesvorstellung des Paares. Hier tanzte es Tango, drei Abende in der Woche, einander umzirkelnd, umkreisend, völlig stumm, aber ineinander verschmolzen.

Ich begann, einen nicht geplanten Film zu drehen, der wortlos bleiben konnte, weil Argentinien, mit und ohne Tango Körpertheater ist. Diese katholische Gesellschaft, die voll war von religiösen Symbolen und im Tango die Metapher für die Liebe als Passion und Lust entwickelt hat, demonstrierte im Tanz und ohne Sprache das Geschlechterverhältnis und was geschieht, wenn allein der stumme Blick das wahre Leben garantieren soll. Im Paar, das Tango tanzt, fielen für mich die Analyse der Kultur, in der ich den Film drehte und die Symbolisierung dessen, was in meiner eigenen Kultur schon nicht mehr sichtbar war, zusammen. Die Phantasie: „Liebe auf den ersten Blick“ wurde zur Destruktion: „Ein Blick- und die Liebe bricht aus“. Dieser Satz zeigt, dass etwas in der Mitte durchgebrochen ist. Die Liebe bricht aus wie Krankheiten und Seuchen es tun.

Mein Film zeigt, wie Frauen unsere Liebeskultur erleben und nicht nur durch die Liebe in jeweils individuelle Geschichten eingebunden werden. Er zeigt die Liebe unter dem Kreuz und die Erlösungssehnsucht, deren Träger der Mann ist. Aber der als Erlöser herbeigesehnte Mann entpuppt sich dann im realen Erlebnis als alles Mögliche, nur nicht als das, was in ihn hineingesehnt wurde. Mein Film zeigt das Zerstörungswerk, das die Sehnsucht anrichtet, die sich in Wut verkehrt, denn kein normaler Sterblicher kann die Wucht eines Gefühls aushalten, das seine Energien aus dem Verfall der Religion gezogen hat.

Frauen sind ratlos auf der Suche nach dem, was Liebe für sie sein soll und treffen immer nur auf das, was sie, sehr banal, für sie ist. Im Verlangen nach einer anderen Spiegelung als der, die unsere Kultur für sie bereithält, treffen sie auf leere Spiegel. Und hinter dem Spiegel sitzt für Frauen nicht die Mutter, persönliche Trösterin und kulturelle Ikone mit dem Schein der Heiligen, um wieder zu bestätigen, aufzubauen und von neuem in die Welt zu schicken, wie sie es beim Mann tun kann, für den die Kultur sein eigenes Reich ist, in dem er abenteuernd wildern darf. Ratlos, was denn Liebe sein kann, wenn sie keine Religion, auch keine Gegen- und Ersatzreligion mehr ist und sich kein Symbol und kein Gefühl mehr ausleihen kann, tanzen zum Schluss alle Tango. Aber die Musik ist in diesem Schluss ebenso zerbrochen wie der Titel. Kurze Zeit, nachdem ich den Film gedreht hatte, holten die Modernisierungsschübe auch Argentinien ein.

Die Argentinierinnen, mit denen zusammen ich den Film machte, sagten, als sie ihn das erste Mal sahen: „Es ist ein Film einer protestantischen Regisseurin über ein katholisches Land.“

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