Hungerjahre

Helma Sanders-Brahms zu dem Film von Jutta Brückner

Hungerjahre

Wenn im Fernsehen Kinofilme laufen, die in den fünfziger Jahren der alten BRD spielen, sind sie bunt und lustig, die Mädchen tragen Pferdeschwänze, Petticoats und Ballerina-Schuhe, die erwachsenen Frauen sind Köchinnen oder Sekretärinnen oder beruflose wohlgekleidete Damen, die Heiratskanditaten für alle drei Frauensorten sind liebevolle Unternehmer mit großen Herzen – mitunter kommen auch Förster vor, jüngere Männer sind selbst für die Pferdeschwanzmädchen zu unausgegoren, können aber singen und brillieren in den Modetänzen der Zeit, ältere Männer sind als Heiratskandidaten ebenfalls inakzeptabel, obwohl sie hinter rauer Schale jede Menge Humor und Menschenliebe zeigen. Jedenfalls: von dem erst wenige Jahre zurückliegenden Krieg ist in diesen Filmen nicht die Rede. Dass sämtliche Figuren dieser Leinwandwerke in der deutschen Götterdämmerung samt Holocaust und Weltuntergang eine aktive oder zumindest passive Rolle gespielt haben müssen, kommt nicht vor, und auch nicht das, was dennoch zu dem Wohlstand geführt hat, dessen sich sämtliche Filmgestalten erfreuen dürfen. Exportfähig waren diese geballten Verdrängungs-Anstrengungen natürlich nicht. Denn im Ausland hatte man noch den Klang der deutschen Knobelbecher im Ohr, die da vor wenigen Jahren erst einmarschiert waren, und man hatte die Demütigungen, die Angst und den Hass nicht vergessen, mit denen die Zeit der deutschen Besatzung dort durchlebt wurde. Da wirkten die freundlichen Förster mit der Liebe zu waidwunden Rehen und die distinguierten Damen mit den guten Manieren als filmische Muster des Deutschseins doch sehr befremdlich.

Das änderte sich Mitte der sechziger Jahre, als es in Deutschland eine künstlerische Reaktion auf das gesammelte Schweigen über das noch so gegenwärtige Gestern gab. Und mehr als in Deutschland selbst interessierte sich Publikum und Kritik des Auslands für diesen neuen deutschen Film, der mit dem Schlachtruf „Opas Kino ist tot“ Förster und gütige Unternehmer, Köchinnen und Damen durch wahrhaftigere Abbilder aus der erst wenige Jahre zurückliegende Vergangenheit ersetzte, und feierte seine Protagonisten, zunächst Kluge und Reitz, dann Herzog, Faßbinder, Wenders. Namen, die immer noch einen großen Klang haben, deren Träger auch heute noch durch Retrospektiven in den großen Festivals dieser Erde geehrt werden. Tatsächlich kam das Verschwiegene in den gepriesenen Filmen vor, aber selbst Alexander Kluges „Abschied von gestern“, der Fanfarenstoß, mit dem die neue Bewegung gegen „Opas Kino“ unüberhörbar mobil machte, wirkt aus heutiger Sicht eher zu vorsichtig im Umgang mit dem Gewesenen.

Um zu dieser Beurteilung zu kommen, muss man Kluges „Abschied von gestern“ nur mit Jutta Brückners „Hungerjahren“ vergleichen. Und auch die anderen Werke von Opas gefeierten Enkeln wirken in ihrer Verarbeitung des Gewesenen sämtlich zu ängstlich, zu zögerlich neben diesem kühnen, kompromisslos unversöhnlichen Werk einer Frau, dessen schonungslose Wahrhaftigkeit, Härte und Klarheit im Umgang mit Gegenwart und Vergangenheit im Nachkriegs-Deutschland bis heute nicht übertroffen wurde, weshalb es nach seiner Entstehung nicht nur einen Platz in einem der Wettbewerbe der großen europäischen Festivals hätte haben müssen, sondern auch eine Auszeichnung, die groß genug gewesen wäre, ihm durch eine dauerhafte Auswertung in Deutschland wie in ganz Europa seinen bleibenden Platz in der Erinnerung zu sichern. Aber da beides nicht zustande kam (warum nur?) hat das Vergessen schneller und intensiver gewirkt als bei den weniger provokanten Werken der männlichen Filmautoren dieser Generation, und das ist schade, nein, es ist unverzeihlich.

Denn nur der Zuschauer, die Zuschauerin, die „Hungerjahre“ gesehen haben, bekommen eine Vorstellung davon, wie sehr die Nachkriegszeit im zweigeteilten deutschen Vater- und Mutterland einem kochenden Topf mit fest geschlossenem Deckel glich, aus dem das Ausweichen nur durch eine Explosion möglich schien. Und nur für sie muss logisch erscheinen, wie aus dieser Situation heraus die selbstmörderischen Aktionen der militanten Linken hervorgingen. Hätte es für diesen Film größere Kinos, eine breitere Öffentlichkeit, eine umfangreichere und weiterführende Diskussion gegeben, wären Fehler und Verständigungsschwierigkeiten zwischen den Generationen vielleicht vermeidbar geworden.

Wir Heutigen, die wir nicht viel mehr als diesen einen Film haben, um uns klar zu machen, was die Fünfziger Jahre jenseits der naturliebenden Förster und der menschenliebenden Unternehmer waren – wir sehen, dass der Kern des Selbstzerstörerischen, das in den siebziger und frühen achtziger Jahren in Aktion umschlug, in der Verlogenheit und der daraus resultierenden dauerhaften Angst jener Jahre liegt.

Die jugendliche Hauptfigur erlebt und durchleidet sie in diesem Film, der ihre Lehrjahre beschreibt bis hin zu ihrem Selbstmord – in der doppelten Tradition deutscher Empfindsamkeit zwischen „Werther“ und „Wilhelm Meister“, die hier auf eine heranwachsende Frau statt auf einen werdenden Mann bezogen ist. Dieses Mädchen, das während des Films zur Frau wird, versucht sich so sinnlos wie erfolglos in der allseits geübten Anpassung bis zur Selbstaufgabe. Als sie schließlich das vergebliche Mühen aufgibt, um nach den eigenen Maßstäben zu leben, reicht ihre Kraft nicht aus. Wie könnte sie Wahrheit in einem Umfeld der Unwahrheit finden? Sie verlöscht nach einer Überdosis Medikamente, die sie mit Alkohol herunterspült, und das letzte Bild des Films zeigt ihr Photo – oder ist es das der Filmautorin? – wie es von einer auflodernden Flamme ergriffen und verzehrt wird.

Auch Fassbinders Filme zeigen selbstzerstörerische Aktionen, die sich an der Erstarrung der Gesellschaft entzünden, etwa „Warum läuft Herr A. Amok?“ oder „Die dritte Generation“. Aber Jutta Brückners Film verwebt die Fäden familiärer, gesellschaftlicher und politischer Bedingungen zwingender, aus denen diese Verschweigens- und Lügensnetze sich bilden, deretwegen ein junger Mensch für sich keine Zukunft mehr sieht als die, sich – und andere – in einem letzten, endgültigen Akt zu vernichten. Dieses Thema ist, wie die immer häufiger werdenden Amokläufe an deutschen Schulen zeigen, durchaus nicht von gestern.

Und hier liegt auch die brennende Aktualität, die der Film immer noch hat. Nur, dass es heute möglicherweise noch schwieriger als zur Zeit seiner Entstehung geworden ist, einem solchen Werk seinen Raum zu geben. Das Publikum in Deutschland ist heute wie damals nicht gewohnt, solche Werke im Kino zu sehen, wo es unterhalten werden will und wo Wahrheitssuche deshalb keinen Platz haben darf.

Es würde eine kulturelle Revolution erfordern ähnlich der, die Mendelssohn-Bartholdy mit der Wiederentdeckung Bachs in der Musikwelt einleitete, die das Hören von Musik bei den Konzertbesuchern so veränderte, dass sie die Schönheit und Wahrhaftigkeit der Bachschen Musik plötzlich verstanden – es würde eine solche kulturelle Revolution im Film-Sehen erfordern, um Jutta Brückners Film in seiner ganzen Komplexität und Genauigkeit verstehen und schätzen zu können. Ich neige zu der Annahme, dass sie zumindest etwas mehr und etwas dauerhaftere Wertschätzung für dieses Meisterwerk erfahren hätte, wenn sie als Mann geboren wäre. Als sie es schuf, galt es schon viel, dass eine Frau überhaupt Regie führen durfte.

Für eine Weile sprach die Fachöffentlichkeit von der zweiten Welle des neuen deutschen Films, die den Frauen gehörte. Und hin und wieder interessierte man sich sogar für Fragen wie die nach der weiblichen Ästhetik. Ist sie anders als die männliche? Und wo – bitte sehr, Frau Filmautorin – ist sie in deinem Film zu sehen? Erklär uns das mal! Das war das plötzliche Interesse an dem Exotischen des Vorgangs „Frau hinter der Kamera“, Frau als Subjekt statt als Objekt.

Und in seiner Folge gab es dann viele weibliche Regisseure im Theater wie im Film wie im Fernsehen. Darüber vergaß man, dass es Jutta Brückner nicht so sehr um Dankbarkeit dafür ging, es überhaupt bis auf die männliche Domäne Regiestuhl gebracht zu haben gebracht zu haben, sondern um eine schonungslose Darstellung dessen, was sie selbst als Heranwachsende in der Nachkriegswelt erfahren hatte. Es ging um Wahrheitssuche. Ein Weg ins Neuland der Entdeckung von Geschichte, wie sie noch nicht erzählt wurde. Geschichte, wie eine Frau sie erlebt. Bis dahin war es eine Selbstverständlichkeit, dass Männer darüber bestimmten, welche Erfahrung in der Geschichtsschreibung Wert hat und welche nicht. Der große Schritt, der hier gemacht wurde, war der, sich ein eigenes Urteil über das Geschehene zu bilden, ein weibliches, eines der leidenden Seite der Menschheit, die für Sieger wie Besiegte anders aussieht als das Bild der männlichen Helden und Verlierer. Hier konnte nur aus der eigenen Erfahrung geschöpft werden. Das musste provokant wirken. Das konnte bis heute noch gar nicht wirklich verarbeitet werden.

Und die Ebenen dieser Erfahrung sind zahlreich: das, was sich auf der politischen Bühne oder bei Demonstrationen auf der Straße artikuliert bzw. verschweigt, reicht ebenso hinein wie die intimen Veränderungen an Körper und Seele, die nach Einsetzen der Pubertät verkraftet werden müssen. Jutta Brückner setzt sie immer wieder in Bezug zu dem, was die Mutter – gleichzeitig mit der Tochter, und doch anders als sie – bei allen Vorgängen empfindet. Diese Mutter ist eine außerordentliche Figur, zur Selbstzerstörung fast noch mehr als die Tochter bereit, aber nicht, indem sie zu einem großen gewalttätigen Akt fähig wäre, sondern in fortgesetzten kleinen Schritten, von denen jeder einzelne in der Unterwerfung unter eine ungeheure Selbstdisziplin endet. Die stets blendend gewaschene und gebügelte Bluse, das fast immer tadellos gewellte Haar sind die Insignien ihrer Würde, die sie aufrecht zu erhalten versucht in einem Leben, das von früh bis spät und auch noch jenseits davon nichts als vergebliche Anstrengung ist. Wenigstens den Schein des Heilen, Unverletzten zu erhalten in einer Welt der Lügen, in der alles zerbricht und in der niemand, auch die eigene Tochter nicht, auch nur einen Gedanken der Zuneigung für sie aufbringt.

Gerade da, wo der Film schonungslos diese Unterwerfungsgesten preisgibt, ist er sehr stark, wird er unvergesslich, etwa in der Szene, in der die Mutter sich nach einem trostlosen Beischlaf mit dem Ehemann „unten“ mit der Dusche wäscht. Das ist schockierend, nicht nur, weil man das noch nie im Kino gesehen hat – und es auch heute noch nicht sehen kann – sondern weil es so viel Schmerz und Trauer enthüllt, weil es die Einsamkeit und die Disziplin dieser Frau in einem existentiellen Bild zusammenfasst. Sie wird sich nicht umbringen, wie es die Tochter tut, sie ist längst jenseits davon, was nicht heißt, dass sie nicht den Wunsch dazu in sich hätte. Sie würde sich nur nicht so gehen lassen.

Ein schreckliches, aber ein wahrhaftiges Abbild der Fünfziger Jahre, zu dem als Gegenbild die Schwäche der Männer gehört, derjenigen, die nicht an irgendeiner Front gefallen waren, derjenigen, die nicht in den Konzentrationslagern umgekommen waren, derjenigen, die zurückkehrten zu Frau und Kind, als wäre nichts geschehen. Wie sie schwiegen, zeigt dieser Film so deutlich, dass man sogar die Förster und Unternehmer der Heimatfilme mit ihrem Verschweigen darin wiedererkennt. Bloß nicht daran rühren.

Ja, es gab da Frauen, die ihre Rolle gespielt haben in diesen Wochen und Monaten der Trennung von der Familie. Aber darüber schweigt es sich besser. Ja, es gab da Verrat und Wichtigtuerei. Auch das verschweigt man. Mann. Und Frau schweigt auch, auf andere Weise. Frau schweigt, weil sie weiß, das Reden würde nur neue Verletzungen bringen. Und sie weiß, dass das, was sie trotz allem immer noch hat, verteidigt werden muss, und wenn es nur eine saubere Bluse ist. Die saubere Bluse, die in den Bunkern der Bombennächte das am heißesten Ersehnte war.

Sauberkeit ist ein äußerer Wert, zunächst einmal, und wenigstens dieser äußere Wert ist zu verteidigen. Viel Blut ist geflossen, darum muss alles Blut ausgewaschen werden, und nicht nur Blut, sondern alles, was mit Leben zu tun hat, ausgelöschtem oder existierendem, und vor allem das erste Menstruationsblut des zur Frau werdenden Kindes. Für das Kind, das zur Frau geworden ist, bleibt als Konsequenz nur, sich selbst auszulöschen.

Jutta Brückners Film ist außergewöhnlich, auch in seiner radikalen gestalterischen Kühnheit. Mit dieser Kraft und Klarheit ist selten ein Film gemacht worden, nicht in Deutschland, nicht in Frankreich, und schon gar nicht anderswo auf der Welt. Wir sollten dafür sorgen, dass er seinen Platz erhält in der Geschichte des Films – er darf nicht in Vergessenheit geraten. Dazu ist er zu schön, zu schrecklich, zu einzigartig.

Helma Sanders-Brahms
Helma Sanders-Brahms

weitere Texte zum Film

Hungerjahre

Veronika Rall in: Frauen und Film, Heft 62, 2000

Hungerjahre

In: Arbeitshilfe Film des Monats der Jury der Evangelischen Filmarbeit, 198o

Hungerjahre – in einem reichen Land

Aus den Pressematerialien des „Kleinen Fernsehspiel“, gekürzt in: „50 deutsche Fernsehfilme“ Hrg. Martin Wiebel, anlässlich der Ausstellung im Deutschen Historischen Museum.

Hungerjahre

Gespräch mit Jutta Brückner über ihren Film „Hungerjahre.“
Das Gespräch mit Jutta Brückner führte Erika Gregor

Küstenfilme

von Claudia Lenssen
In: Frauen und Film, Heft 31, 1982

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