Hungerjahre
Veronika Rall
Hungerjahre
Schreiben nicht über den aktuellen Film, sondern über einen, der vor rund 2o Jahren in die Kinos kam, das heißt, Filmgeschichte zu betreiben. Sich mit Filmen aus der gleichen Zeit auseinanderzusetzen, den Film einzuordnen, seine Resonanz bei einem historischen Publikum zu befragen. Hat er bewegt? Hat er Diskussionen ausgelöst? Hat er andere Filme ästhetisch und inhaltlich beeinflusst? Jutta Brückners HUNGEPJAHRE jedenfalls lässt sich kaum aus diesem historischen Kontext lösen, er war beunruhigend und schockierend, er wurde ambivalent diskutiert, innerhalb der Frauenbewegung, zwischen den Geschlechtern. Er hat Mut gemacht, er wurde mit Preisen bedacht, er hat andere Filme beeinflusst. Gleichwohl lässt sich auch ein gegenwärtiger Blick auf den Film behaupten, der sich aus der historischen Einschätzung löst, ein Blick, dem gerade im Vergleich mit dem Gegenwartskino andere Momente, andere Bilder, andere Töne augenfällig werden.
Da ist einmal die einfache und gleichzeitig komplizierte Struktur des Films, der mit einer subjektiven Erzählstimme einsetzt, darunter ein Schwenk über triste Häuserfronten. „Aber mich, mich hatte ich verdrängt aus meiner Erinnerung“ sagt das Voice-Over, auf der ersten Person Singular insistierend. Erst heute – während es von narzisstischen Egos überall wimmelt – wird deutlich, wie prekär der Einsatz dieses akustischen „Ichs“ gewesen sein muss, das sein Gegenüber in der Gestalt von Ursula Scheuner, einem Mädchen in der Pubertät, gewinnt. Das Gegenüber: ein Spiegelbild und eine Ansprechpartnerin sucht HUNGERJAHRE. Mit Blick auf das Ende des Films weist sich die Stimme aber auch als die einer Überlebenden aus. Es ist, als läge ein Hauch von Billy Wilders SUNSET BOULEVARD über dem Film, mit deutlich umgekehrtem Vorzeichen allerdings. Statt von Außen melancholisch über ein gelebtes Leben zu sprechen, zeichnet HUNGERJAHRE von Innen in schmerzlichsten Zügen das Bild eines Kindes, das erst eine Frau werden soll. „Wer etwas ausrichten will, muss zuerst etwas hinrichten. Sich selbst.“ So hart urteilt die „akustische Rückblende“ Jutta Brückners am Ende, während das Bild der Ursula Scheuner vor unseren Augen verbrennt. Das schockiert. Auch heute noch oder vielleicht gerade heute wieder. Welch ein schonungsloser Hass, welch ein Selbsthass veranlasst die Bilderverbrennung? Was führt dieses junge Mädchen wie eine Hexe auf den Scheiterhaufen?
Berlin 1953. Familie Scheuner, das heißt Vater, Mutter und Tochter Ursula beziehen eine neue Wohnung. Doch vor dem Glück liegt der Preis. Ein Paar ist dieser Wohnung verwiesen worden, weil es eine „Wilde Ehe“ führte, nicht freiwillig, sondern weil die Frau nach einer Wiederheirat ihre Witwenrente verloren hätte, erklärt der Vater Ursula. Von Beginn an liest sich HUNGERJAHRE deshalb wie eine filmische Geschichte des privaten Lebens, die Verquickungen sozialer Spielräume, finanzieller Arrangements und privater Beziehungen werden deutlich genannt. Die Familie, das ist weder ein ideeller Raum noch eine „Keimzelle der Gesellschaft“, sie ist eine wirtschaftliche Einheit. So auch Familie Scheuner, wo die Mutter gegen den Willen des Vaters eine Stelle als Verkäuferin annimmt. Die herrschende Doppelmoral nicht nur zu diesem Thema erklärt der Film anhand innerer Monologe, die sich Mutter, Vater und Tochter halten, während sie nach außen hin schweigen – ein ästhetisches Verfahren, dessen sich HUNGERJAHRE immer wieder bedienen wird, denn es trifft in den Kern des Dilemmas: niemand redet, aber jeder denkt sich seinen Teil.
Aber Ursula hätte es gebraucht, dieses Reden, die Auseinandersetzung. Nicht nur um kindliche Träume zum Fenster hinaus, vielmehr noch um die pubertären Wirklichkeiten und Verstrickungen, die sie schnell einholen werden. Ihre erste Menstruation ist ein Schock, auf den die Mutter lediglich praktisch reagiert und eine Binde in die Unterhose stopft. Ursulas Ratlosigkeit spiegelt sich nicht zuletzt in der leicht fahrigen Kameraführung, die dem Mädchen nun auf den Hof, auf die Wiese folgt und sie immer wieder aus dem Blick verliert. Bis sie in dem bekannten Close-Up auf der abgelegten, blutigen Binde im Garten verharrt. Diese Kamera beherrscht nicht die Szenerie, es gibt keinen „dominanten“ Blick in diesem Film, eher einen neugierigen, den die Dinge und die Menschen überraschen. Er entspricht Ursulas Verfassung, ihrer Neugierde auf die Welt, die aber immer wieder im Ungewissen landet. Einmal trifft sie sich mit einem Jungen in einer Eisdiele. Und schon stehen die Eltern in der Tür: „Hab ich es nicht geahnt!“ sagt die Mutter, während der Vater stumm bleibt. Deshalb ist es auch sie, die die Tochter ins Bett bringt, noch immer vorwurfsvoll streicht sie das weiße Plumeau glatt und zum Schluss legt sie sogar noch Ursulas Hände über die Bettdecke. Jetzt ist die Kamera fast haptisch, sie überträgt Bewegungen, Empfindungen. Haut auf Bettdecke. Bettdecke auf Haut. Saubere Hände auf sauberem Linnen. Und Ursula schreit. Stumm freilich.
Als ob diese in sich stimmige und geschlossene „Ausrichtung“ des Mädchens Ursula zwischen Schule und Elternhaus nicht gereicht hätte, treibt Jutta Brückner sie in eine letzte Kurve der Erniedrigung und Ausbeutung. An einem Tag im Park lernt sie einen Algerier kennen, auch er ein Opfer des Bürgerkriegs in seinem Land. Aber er wird das Mädchen missbrauchen, zum Geschlechtsverkehr drängen, ihr dabei zurufen, sie möge die Beine zusammenpressen. Jetzt wirkt alles übertrieben, stilisiert, arrangiert. Wollte man HUNGERJAHRE kurz zuvor noch zurufen, ja, genau so, auch wenn anders in der eigenen Biografie, legt sich jetzt massive Distanz zwischen den Film und die Zuschauerin der Gegenwart. Ist das eine Vergewaltigung? Wenn ja, warum durch einen Algerier? Schlachten Opfer die Opfer? Das Verständnis bleibt aus, erst als Ursula wieder zuhause ankommt, die Mutter der Polizei die Vermisstenanzeige kündigt, ohne die Tochter in den Arm zu nehmen, da fühlt man sich wieder unheimlich heimisch in diesem Film.
Sieht man von dieser letzten filmischen Sequenz ab, wirkt HUNGERJAHRE auch gut 2o Jahre später seltsam unverbraucht. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass der Film selbst Geschichte schreibt, sich aus den 7oer Jahren an die 5oer erinnert. Die Frage bleibt, ob man sich im Jahr 2ooo vielleicht anders erinnerte, der 5oer, 6oer und 7oer Jahre. Ja: Denn unser subjektives Gedächtnis hat ebenso andere Bilder wie das kollektive filmische Gedächtnis. Und nein: Denn die Brisanz und die Schärfe der Erinnerungsarbeit, der Schmerz wäre der gleiche. Nur dass uns gerade die Arbeit mit Filmen wie HUNGERJAHRE, der Feminismus aber auch die Psychoanalyse gelehrt haben, mit diesen prekären Bildern zu leben. Ursula Scheuner muss nicht mehr brennen.
Veronika Rall in: Frauen und Film, Heft 62, 2000
Veronika Rall in: Frauen und Film, Heft 62, 2000
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doi 10.1215/02705346-2005-011 © 2006 by Camera Obscura
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