Hungerjahre

Kristina Jaspers

HUNGERJAHRE: Über autobiografisches Filmemachen

„film.dialoge“ (03)

Welche Bedeutung hat es, im Film „Ich“ zu sagen, und was unterscheidet autobiografisches Filmen vom Schreiben eines autobiografischen Textes? Diesen und ähnlichen Fragen ging das Gespräch zwischen der Regisseurin Jutta Brückner und der Psychoanalytikerin Christa Rohde Dachser am 17. Dezember 2009 im Rahmen der „film.dialoge“ nach, einer Veranstaltungsreihe des Museums für Film und Fernsehen in Kooperation mit dem Kino Arsenal.

Zunächst wurde Jutta Brückners Spielfilm HUNGERJAHRE aus dem Jahr 1980 vorgeführt. HUNGERJAHRE ist ein Film über eine Jugend in den westdeutschen 1950er Jahren, in dem die Regisseurin eigene Erinnerungen aufgearbeitet hat. Der Film ist zugleich ein Beitrag zur Gender-Diskussion, denn Brückner stellt die Freiheitsbeschränkungen, unter denen ihre Heldin leidet, als Charakteristikum weiblicher Lebensrealität im Allgemeinen dar. Dieser Film nimmt Motive ihres Dokumentarfilms TUE RECHT UND SCHEUE NIEMAND (1975) auf, den sie über das Leben ihrer Mutter gemacht hat. Der Dokumentarfilm ist als Fotofilm angelegt, in dem sich Fotografien und Dokumente wie Erinnerungsbilder aneinanderreihen, ein großer Teil sind berühmte Fotos von August Sander, die in der Gegend gemacht worden waren, in denen Brückners Mutter lebte. „Denn“, so Brückner, „es ging mir darum, eine Zeit und eine Gesellschaft auch in ihrer Körperlichkeit wieder zum Leben zu erwecken. Daher war es nicht möglich, einfach zeitgenössische Darsteller in historische Kostüme zu stecken.“ Die Mutter, die selbst den über die Bilder gelegten Text gesprochen hatte, akzeptierte den Film als „ihren“; damit war für die Filmemacherin der Weg frei, sich ihrem eigentlichen Thema zuzuwenden: „Ich musste zuerst ihr Leben in ihre Hand geben, musste ihr die Möglichkeit geben, sich selbst auszudrücken, soweit sie es konnte, damit ich dann im zweiten Schritt diesen Film [HUNGERJAHRE], der meine jugendliche Auseinandersetzung mit ihr schildert, machen konnte.“

Mit HUNGERJAHRE vollzog die Regisseurin den Wechsel von der Biografie zur Autobiografie, zugleich von der Dokumentation zur Fiktion. Im Fokus steht nun die Tochter, – ohne dass dabei die Eltern- und Großelterngeneration aus dem Blick geriete. Hatte die Mutter in TUE RECHT UND SCHEUE NIEMAND noch von sich in der 3. Person Neutrum gesprochen („man tut dies nicht…“, „man soll jenes…“), so ergreift in HUNGERJAHRE nun die Tochter als Ich-Erzählerin das Wort. Genau genommen gibt es sogar zwei Ich-Perspektiven: aus dem Off hören wir die Stimme der 30-jährigen auktorialen Erzählerin, parallel spricht die Darstellerin des jungen Mädchens in inneren Monologen ihre Träume und Phantasien aus.

Für Rohde-Dachser, die sich insbesondere mit Themen im Grenzbereich von Soziologie und Psychoanalyse und der Psychoanalyse der Geschlechterdifferenz auseinandergesetzt hat (siehe auch: Christa Rohde-Dachser: „Expedition in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse“, Frankfurt am Main 1991) und die regelmäßig Filmbesprechungen veröffentlicht, ist Film ein deutlich körperlicheres Ausdrucksmittel als ein geschriebener Text, der leicht die Form eine Proklamation oder eines Manifestes annehme. Der Film hingegen bleibe mehrdeutiger, vielleicht auch unbestimmter. Aus Brückners Sicht war Filmen die einzige künstlerische Ausdrucksmöglichkeit, um sich mit einem so persönlichen Thema auseinander zu setzten. Die ebenfalls anwesende Hauptdarstellerin Britta Braun (ehem. Pohland) erinnerte sich gut, wie sie als Stellvertreterin der Autorin fungierte („Jutta war der Kopf, ich war der Körper“) und zugleich nach einem ganz eigenen Ausdruck suchte. Für Brückner ein Glücksfall: „Die sehr junge Schauspielerin, eine Nicht-Professionelle, die (…) so ganz anders war und aussah als ich gewesen war und ausgesehen hatte, wurde zum Garanten dafür, dass dieser Film überhaupt zu machen war. So wie der fotografisch-dokumentarische Gestus in TUE RECHT UND SCHEUE NIEMAND die Bedingung dafür gewesen war, dass ich das Bild meiner Mutter schaffen konnte, so war die Fiktion die Bedingung für mein eigenes Bild.“ (Jutta Brückner: Über autobiografisches Filmemachen, 1995, S. 7, unveröffentlicht, siehe http://www.juttabrueckner.de).

Insbesondere die Darstellung der Bulimie und des Suizidversuchs am Ende des Films stellte eine besondere Herausforderung für das gesamte Filmteam dar. Bulimie, eine zumeist weibliche Erkrankung in den Jahren der Pubertät, kann als Protest und zugleich als Hilferuf verstanden werden. Für Rohde-Dachser, die viele Jahre in Frankfurt gelehrt und praktiziert hat und im vergangenen Jahr die International Psychoanalytic University in Berlin (IPU) mitbegründete, wird diese Ambivalenz in HUNGERJAHRE besonders deutlich: Bei der dargestellten Essstörung handele sich um „eine Art heimliche Triebbefriedigung, die nicht öffentlich gemacht werden darf.“ Neben den Krankheits- und Suchtaspekten würden die nächtlichen Essattacken des Mädchens jedoch auch einen positiven Anspruch formulieren, nämlich „nicht verzichten zu wollen“. Diskutiert wurde, inwieweit es sich bei der Bulimie um eine zeittypische Erkrankung handele und welche Krankheit heute als Symptom unseres Gesellschaftszustandes verstanden werden könne. Raya Morag hat sich ausführlich mit der Darstellung von Bulimie im Film, insbesondere am Beispiel von HUNGERJAHRE, auseinander gesetzt (siehe Raya Morag: Not a Dirty Secret: On Some Cases of Bulimia in Cinema. Camera Obscura 61, Volume 21, Nr. 1, Duke University Press 2006).

Die Kombination der beiden Referentinnen erwies sich als ausgesprochen anregend, da beide wiederholt die Perspektive wechselten: Brückner, die als persönlich Betroffene den Konflikt mit ihrer Mutter schilderte, wechselte in die künstlerisch reflektierte Haltung der Filmemacherin, während Rohde-Dachser als Psychoanalytikerin gewisse Krankheitssymptome professionell einordnete, und zugleich als Zuschauerin sprach, die sich selbst in einigen Filmszenen wieder zu erkennen glaubte. Im Rekurs auf das Konzept der Gegenübertragung machte sie ihre Reaktion auf bestimmte Sequenzen zum Ausgangspunkt der Analyse. In der ausführlichen Publikumsdiskussion konnten viele Aspekte nur angerissen werden. Um so deutlicher wurde, dass das Thema eine weiterführende Vertiefung verlangt. Denn auch heute beginnen zahlreiche Filmkarrieren mit einem autobiografischen Stoff.

Kristina Jaspers
Kristina Jaspers

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