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Jutta Brückner, 2006

Das Politische an der Kunst

Als Ken Loach im Sommer 2006 in Cannes für sein irisches Freiheitskämpfer-Epos „The wind that shakes the barley“ die Goldene Palme erhielt, ging ein Kopfschütteln durch die Reihen der Kritiker. Dieser englische Regisseur, der seit den 60er Jahren darauf besteht, sozialrealistische Filme über die kleinen Leute zu machen in einer Gesellschaft, die diesen wenig Chancen gibt, gehöre doch zum Mythenschatz der heroischen Linken des vergangenen Jahrhunderts. Loach sei aber allenfalls ein letzter Held und weder ästhetisch noch inhaltlich auf der Höhe der Zeit. Politischer Film heute sei Realsatire wie es uns Sacha Baron Cohen in „Borat“ gerade mit weltweitem Erfolg zeigt, einem Film, in dem reale Amerikaner die größten Abscheulichkeiten über Frauen, Schwule und Juden lachend in die Kamera sagen.

Politischer Kunst aus dem Geist der kritischen Linken des vergangenen Jahrhunderts heftet heute ein altmodischer Geruch an, der sie allenfalls museumswürdig macht. Trotzdem will das Verlangen nach ihr nicht verstummen. Und das ist nicht nur ein Problem der Dritten Welt, der man ja besonders in Ländern mit korrupten Eliten und fehlender politischer Meinungsfreiheit zugestehen würde, dass bestimmte Wahrheiten nur von starken Stimmen ausgesprochen werden können, die ein zu hohes Prestige als Künstler haben, als dass man sie sofort verhaften könnte. Auch in der Ersten Welt, wo jedes politische Anliegen ja politisch vorgetragen werden kann, gibt es eine Nostalgie nach politischer Kunst, in der eine Ahnung von Gerechtigkeit aufscheinen könnte. Und je kleiner und in Alltagsgeschäfte verstrickt die Politik ist, desto größer scheint dieses Bedürfnis zu werden.

Dabei hat gerade Europa mit politischer Kunst nicht immer die besten Erfahrungen gemacht hat. Wenn man die Zäsur zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert nicht chronologisch mit der Jahrhundertwende ansetzt, sondern mit dem einschneidenden Ereignis des Ersten Weltkrieges, mit dem die alte Welt sich ihr Grab geschaufelt hatte, dann begann die neue Zeit mit der russischen Revolution und dem Satz von Alexander Tairov: „Die Revolution zerstört die alten Lebensformen, wir aber zerstören die alten Kunstformen. Folglich sind wir Revolutionäre und können mit der Revolution Schritt halten.“ Revolution in Politik und Kunst bedeutete nicht nur die vollständige Vernichtung der alten Gesellschaft, sondern auch die ebenso vollkommene Erschaffung eines „Neuen Menschen“. In dem totalitären Entwurf mit seinen Unsterblichkeitsphantasien, der den Raum des Politischen vollkommen besetzte, wurde der Künstler zum Ingenieur der Seelen im Dienst dieses säkular-utopischen Projektes, dessen religiöse Untertöne weitgehend verdeckt waren. Das ist eine durchgehende Forderung von Lenin nicht nur bis Mao, sondern auch noch bei Che geht es um die Umerziehung des Menschengeschlechtes zu einer höheren Rasse.

Aber die Künstler waren nicht frei, sich eigene Gedanken über den „Neuen Menschen“ zu machen. Das System von Erziehung und Lenkung der Massen durch Kunst forderte von ihnen sehr schnell, sich der Real-Politik zu beugen. Die Ziele und ästhetischen Formen wurden ihnen vorgegeben, der Große Führer entschied, was für die Massen geeignet war. Die Aufgabe der Künstler war es, die semantische Wüste dieser politischen Vorgaben mit Gefühlen zu überhöhen: Leidenschaft, Heroismus, bedingungsloser Glaube an die glorreiche Zukunft und kritiklose Bereitschaft zum Opfer. Politische Kunst in totalitären Systemen gedeiht auf der Basis eines heroischen Idealismus, mit dem eine Weisung aufgenommen und noch einmal hysterisiert wird. Denn von einer beliebigen Diktatur unterscheidet sich ein totalitäres System dadurch, dass die Massen dem Führer nicht einfach gehorchen sollen, sie sollen ihn lieben! Kunst, die sich ein Recht auf eigene Phantasie und eigenes Denken nahm, wurde als ästhetizistisch, selbstbezüglich und formalistisch verdammt. Weil der Künstler aber nie genau wusste, wie weit er gehen durfte bei seiner Suche nach den politisch richtigen Formen für die politisch richtigen Inhalte, disziplinierten ihn regelmäßige Rituale von Reue und Reform, ständig wiederkehrende Selbstbezichtigungen, abgewichen zu sein von der richtigen Erkenntnis, die immer vom großen Führer verkörpert und definiert wurde. Sehr schnell war revolutionäre Kunst zur Staatskunst geworden.

Viele Künstler haben sich auf eine selbstverbiegende Weise diszipliniert und diesem Diktat gefügt, „um den Massen zu dienen“. Die großen Führer hielten den Geist in der Flasche, der mit dem Gedanken einer politischen Kunst verbunden gewesen war. Denn dieser Geist ist unruhig. In den hochpolitisierten 60er Jahren, in denen eine junge Generation versuchte, sich auf die Anfänge der sozialistischen Revolution und der politischen Kunst zu besinnen, gab es an der Deutschen Film – und Fernsehakademie Berlin (DFFB) einen Abschlussfilm, der in der Art eines Lehrfilms die Herstellung eines Molotowcocktails demonstrierte. Einer der damaligen Studenten schreibt erinnernd über diese Zeit: „Die Kamera wurde zur Waffe im Kampf gegen Manipulation, Ausbeutung und Unterdrückung.“ Die Studenten zogen aus ihrer Interpretation der sozialistischen Utopie den Schluss, Kunst sei ein Werkzeug im Klassenkampf, nicht nur gegen den Staat, sondern auch gegen ein gesellschaftliches System von Kapitalismus + Medien. Nicht jeder politische Künstler interpretierte das Verhältnis von Kunst und Politik dermaßen kurzschlüssig aktivistisch wie dieser Film, aber das breite Spektrum der politischen Kunst etablierte sich damals als systemkritische Analyse, die gesellschaftliche Zusammenhänge freilegen wollte. Die Kunst wurde mit gewaltigen Hoffnungen beladen bis hin zur Revolutionierung des gesamten Lebens. So wurde sie zum Motor für die vielen reformerischen Veränderungen, die dann im nächsten Jahrzehnt in der alten Bundesrepublik vorgenommen wurden.

Bis zur Bewegung der revoltierenden Studenten hatte es im Westen Deutschlands eine breite Übereinstimmung gegeben, dass Kunst nichts mit Politik zu tun haben dürfe, denn diese sei ein schmutziges Geschäft und verderbe den Charakter. Man war der Kunst mit einer fast religiösen Demut begegnet und das einte so absolut unvereinbare Positionen wie die von Th. W. Adorno und der Zeitschrift „NS-Frauenwarte“, die mal geschrieben hatte: „Ein bekanntes Wort sagt, ein Kunstwerk sei wie eine Hoheit, man habe zu schweigen und zu warten, bis man angesprochen wird.“ Im wartenden Verharren vor dem Kunstwerk sollte dessen Rätselhaftigkeit und Andersartigkeit beschützt werden. Die freche Antwort der revoltierenden Studenten auf die deutsche Kunstreligion bestand nicht nur darin, Kunst als gesellschaftliche Kommunikation zu definieren, sondern auch darin, den Politikbegriff auszuweiten: „Das Private ist politisch.“ Damit aber gerieten so viele Dinge in den Blick, die bisher gar nicht bemerkt worden waren, dass die politische Kunst, auch in Symbiose mit dem Pop, plötzlich allgegenwärtig wurde. Die unterschiedlichsten künstlerischen Positionen nahmen alle für sich in Anspruch „politisch“ zu sein, von den Gruppen der Singebewegung, die für den Frieden klampften, über Romane zum Berufsverbot bis zu Filmen, die den hermetischen Verzicht auf eine konventionelle Narration als politischen Akt ansahen. Die politische Aufladung von Kunst trat an die Stelle der kunstreligiösen. Die Positionen der Künstler gingen von der totalen Verweigerung, sich in irgendeiner Weise in die Kulturindustrie einzufügen, weil man damit die eigene Position schon verraten habe, bis zur totalen Politisierung, die Kunst nur noch als Aufruf zur Tat gelten lassen konnte.

Das kurze 20. Jahrhundert, das mit 1914 begann, endete 1989. Es hat uns ein Minenfeld kontaminierter politischer Ideen hinterlassen und einen Steinbruch von Kunstformen. Die Verbindung von Politik und Utopie ist zusammengebrochen. Politik vertritt kein säkularisiertes Heilsversprechen mehr, sondern versucht immer hilfloser, die Systeme von Arbeit und Wohlfahrt irgendwie zu retten in einem System der Globalisierung, in dem die existentiellen Entscheidungen gar nicht mehr von den gewählten Regierungen gefällt werden. Total ist heute nicht mehr der Anspruch einer zentral die Geschichte definierenden Politik, sondern das Verwertungsinteresse. Utopie ist nur noch der Wunsch, diesen Kapitalismus zu zähmen. Die durch nichts mehr gebremste Entfaltung kapitalistischer Energien geht heute bis in den Bereich der Künste hinein, die bis dahin noch in einem relativen Schonraum gelebt hatten. Wann und wie weit die einzelnen Künste von diesem Sog erfasst wurden, war je unterschiedlich. Musik, sowohl die klassische wie die Popmusik, und die Medien sind schon seit einiger Zeit zu gewaltigen Wirtschaftsfaktoren geworden, die von Konzernen betrieben werden. Sie waren die Vorreiter eines Prozesses von Technik + Kapital, weil sie am leichtesten zu reproduzieren sind auch über Sprachgrenzen hinweg. Die Bildende Kunst, die sich da sehr viel schwerer getan hat, ist mit ihrer augenblicklichen Spekulationsblase, in der sie frei flottierendes Kapital anzieht und mit Gemälden zeitgenössischer Maler astronomische Umsätze gemacht werden, erst in jüngster Zeit dazu gekommen. Gleiches gilt für die Literatur, wie man an den fantastischen Summen für die Rechte an Jonathan Littels Roman „Les bienviellantes“ sehen konnte.

Künstler sind heute Teil des Marktes und sind für ihre Kunst angewiesen auf das knappe Gut Aufmerksamkeit. Dafür müssen sie Strategien entwickeln, die so gewieft sind wie die Strategien des Marktes. „Utopie“, „Innovation“ und „radikale Neuerfindung“ sind Begriffe einer Warenproduktion geworden, die mit der Ware Weltanschauung verkauft: Provokation, Hoffnung und soziales Gewissen. Heute spricht man, ohne mit der Wimper zu zucken, nicht nur von der Philosophie eines Unternehmens, sondern auch von der Philosophie eines Pullovers. „Revolutionär“ ist heute die Erfindung eines neuen Handys. Luciano Benetton, der diese Entwicklung mit seiner Textilfirma weit vorangetrieben hat, sagte in einem Interview, dass er am liebsten Revolutionär geworden wäre. Und als der Interviewer nachfragte, sagte Benetton: „Einfach so. Mir gefallen Veränderungen.“ Aber das Latein-Lexikon aus Schulzeiten erinnert daran, dass „revolutio“ nicht nur „Umwälzung“ bedeutet, sondern auch die „Umlaufbahn der Gestirne“. Und die ziehen bekanntlich ständig auf denselben Bahnen.

Der postindustrielle Kapitalismus besteht aus Kapital + Medien. Zu seinem 40. Firmenjubiläum veranstaltete Benetton im Centre Pompidou ein Multimedia-Festival, das eine avantgardistische Biennale mit Fotoreportagen über höllische Paradiese, mit Licht- und Musikinstallationen, mit Independent Filmen aus Bosnien oder Iran, „mit der ganzen Sinnlichkeit des 3. Jahrtausends“ sein wollte. Hier zeigt sich, wie der Kunstbegriff inzwischen ausgeweitet worden ist. Potenziell gibt es nichts, was nicht da hineinpasst. In den Siebzigern war Benetton wegweisend gewesen als erster, der für ein Produkt nicht mit dem Abbild des Produktes warb, sondern mit Bildern, die damals Empörung auslösten: Kriegsgräber, Flüchtlingsschiffe, Aids-Kranke. Das war ein Griff in den Fundus der klassischen politischen Kunst. Aber er warb auch mit Geschlechtsorganen, männlichen und weiblichen. Zwar wurde diese Anzeige von fast allen Zeitungen abgelehnt, aber die Biennale in Venedig erklärte das Motiv später zu Kunst. Wie fragil diese Verbindung ist, wurde klar, als die Werbekampagne mit 28 Todeskandidaten, die in US-Gefängnissen auf ihre Hinrichtung warteten, dazu führte, dass eine amerikanische Kette ihren Vertrag mit Benetton kündigte. Benetton entschuldigte sich bei den Verwandten der Opfer, Oliviero Toscano, sein Werbegraphiker tat dies nicht. Er verließ die Firma mit dem kolportierten Satz, er sei es leid, die Familie, reich zu machen. Ein Vorhang öffnete sich für einen kurzen Moment einen Spalt und gab den Blick frei auf das wahre Spektakel dahinter. Die Benettonsche „Sinnlichkeit des 3. Jahrtausends“ und deren Überwältigungswunsch ist Reklame für eine Firma, die ihre einfachen Waren mit Kunst veredelt.

Hier zeigt sich das System Kapitalismus + Medien, das auf den Pfeilern von Sexualität und Sport aufruht, und sich zusehends obszönisiert. Das schließt eine politische Aussage keineswegs aus. Aus der ästhetisierten Aufarbeitung einer politischen Geste und ihrer weltweiten medialen Verbreitung lässt sich Kapital schlagen. Aber aus der politischen Empörung gegen ein Unrecht wird die Geste der Empörung, die, eingefangen in einem Bild, das skandalträchtig ist, nur noch als Grenzüberschreitung wahrgenommen wird. Obszönität ist heute der Dummy zum Austesten kultureller Grenzen und zu ihrer kalkulierten Verletzung. Bei solchen Verletzungen geht es meistens darum, die klare Zuweisung von gut oder böse, Täter oder Opfer zu verwischen. Das macht den Skandal aus und der garantiert den Aufmerksamkeitswert, ohne den der Verkauf nicht schnell genug läuft. Deshalb muss die Kunst, die ihren Platz im Kapitalismus einnehmen will, immer lauter schreien und ständig noch schriller Tabus verletzen. Die weltweite Aufmerksamkeit wird nur noch über das Schrille und immer Schrillere geweckt und in dem Sinne ist eine politische Aussage nicht nur nicht störend, sie kann sogar verkaufsfördernd sein. Die Fotos der Folterungen in Abu Ghraib hingen zum Verkauf in einer New Yorker Kunstgalerie.

Kapitalismus und Kunst kommen in postindustriellen Zeiten ziemlich glänzend miteinander aus. Vom New Yorker Kulturbetrieb wurden alleine in den letzten drei Jahren 2,7 Milliarden Dollar verbaut, womit 3960 neue Arbeitsplätze geschaffen wurden. Die Veredelung einer Großstadt mit Kultursensationen, wie es New York derzeit vorführt, macht auch für einen kalt rechnenden Bürgermeister Sinn. Schon in den Fünfziger Jahren hatten Mitglieder der Hochfinanz gemeinsam mit den Stadtvätern erkannt, dass eine Stadt mit so begrenztem Platz wie New York in einer postindustriellen Zukunft keine Überlebenschancen hat. Also wurden Hafen und Industrie ausgelagert und neue Strukturen geschaffen für eine Stadt des innovativen kulturellen Kapitalismus. Das Wirtschaftsmagazin Fortune wies darauf hin, dass New York der landesweit beste Geschäftsstandort ist, weil die reichhaltige Kulturszene so viel „kreatives Kapital“ anziehe. Damit sind all die jungen, gebildeten und ehrgeizigen Arbeitnehmer gemeint, die den Motor jeder innovativen Wirtschaftsbewegung ausmachen. Die Wirtschaft, die den Wert der Hochkultur als Wirtschaftsfaktor erkannt hat, dekoriert sich mit ihr. Zeitgenössische Kunst nimmt, wie der Kunsthistoriker Ullrich in einer Untersuchung feststellt, in aktuellen Porträtaufnahmen von Machthabern in etwa den Platz ein, den in klassischen Herrscherbildern das Pferd innehatte. Der militärische Führer des Mittelalters oder der Frühen Neuzeit zu Pferde und der Politiker oder Manager der Gegenwart vor einem abstrakten Gemälde demonstrieren denselben Anspruch: dem Gros der Fußtruppen beziehungsweise der Gesellschaft zeigen zu können, wo es langgeht.

Die Logiken von Wirtschaft, Politik und Kunst haben sich angenähert. Das zeigen Beschreibungen von Managern und Politikern, die sich lesen wie Kommentare zur modernen Kunst: Dynamisch, offen, kreativ, innovativ, mutig, konsequent. Denn Kapitalismus ist nicht mehr einfach eine Warenproduktion, sondern ein kulturelles System, das nach dem Prinzip des „immer mehr“ funktioniert. Mit dieser Gier hat es alle Leben durchtränkt und damit hat es sich omnipräsent gemacht. Seine Maßlosigkeit hat kein Ziel, sie ist reine Bewegung der Maximierung. Das Prinzip des „immer mehr“ führt aber nie zu einer Entwicklung, sondern immer nur zu einer numerischen Reihung, die in einer Katastrophe endet, denn irgendwann ist das „Mehr“ ein „Zuviel“. Dazu dürfen nicht einfach vorhandene Bedürfnisse befriedigt werden, sondern ständig müssen neue geschaffen werden. Der Konsument soll sich nicht in Realitäten, sondern in Optionen bewegen. Das Psychische wird zum Rohstoff für die Wirtschaft und die Kunst als Meister der Möglichkeitsform garantiert den Zugriff auf das Gefühl. Kunst, Weltrettung, Reklame, Narzissmus, Schock und Event sind noch nie so nah beieinander gewesen wie heute. Die Währung für Wahrheit in dieser Erregungsindustrie sind öffentlich bekannte und zur Schau gestellte Gefühle. Die Warenprodukte heute lösen sich in den vom Kapital geweckten Jugendlichkeitsfantasien auf: ein Dusch-Gel für mehr Jugend, ein Müsliriegel für mehr Kraft, ein Telefon für mehr Zeit, ein Yoghurt für längeres Leben. So verlagert sich das Leben von der Gegenwart in die Zukunft. Das wirkt verjüngend bis zur Infantilisierung. Der Mensch wird zum ewig lernenden, ewig spielenden Kind, das sich ständig wieder selbst erschaffen soll. In dieser Feier der ewigen Kindheit und Jugend, in der das Leben noch nicht festgelegt ist, schafft sich der Kapitalismus den Menschen, in dem er sich selbst als unsterbliches System verwirklichen will. Jugend ist aber auch Pubertät und das ist die krisenhafteste Phase der biographischen Entwicklung des Menschen.

Pubertät war früher ein Durchgangsstadium, inzwischen ist es zu einer eigenen Lebensphase geworden, die immer länger dauert. Das Interesse des Systems Kapital + Medien liegt darin, sie zur einzig prägenden Erfahrung des Lebens zu machen. Das System Kapitalismus mit seinen Krisen und die krisenhafte Pubertät ziehen sich gegenseitig an. Der Kult der Jugend war schon Treibstoff der totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts. Sie spiegelten sich in der Jugendlichkeit, in deren Identität von Trotz und Protest. Junge Männer haben ein Bedürfnis nach Extremen, Rebellion und Aufruhr. Heute fügt sich eine Kunst, die sich hauptsächlich der Formen der Empörung, des Aufschreis, der Denunziation bedient, gut in dieses Konzept. Analog behandelt ein großer Teil der Kunstkritik die Kunst nur noch in den Kategorien, die der Jugend vertraut sind: Modemagazine („Retrochic“), Kriegsspiele („taskforce“), Sport („spielt in einer anderen Liga“ – „Steht er noch oder fällt er schon?“). Und wenn ein deutscher Film schon zum dritten Mal in vier Jahren den Europäischen Filmpreis gewinnt, dann ist es für den Regisseur Florian Henckel zu Donnersmarck so, „als habe man nachträglich doch noch die Fußball-Weltmeisterschaft gewonnen.“

Auch politische Kunst im System Kapitalismus + Medien hat Teil an dessen Wesen: Globalisierung, Krisenproduktion, Marktgängigkeit. Bestenfalls wird sie zum Labor von Innovationen, die wiederum schnell in globalisierte Marktgängigkeit überführt werden können. Im Hip-Hop hat sie sich die politische Aura zugelegt. Doch war diese Musik nie der eindeutige Aufschrei aus den Ghettos, zu dem die Kritik ihn gerne erklärte. Auch als explizite Gegenkultur war diese Musik von Anfang an dem Dilemma unterworfen, sich verkaufen zu müssen und politisch harmlos zu bleiben. Es wird mit dem Image des Rebells gewuchert, aber es ging nicht um die Aufdeckung von Machtverhältnissen und schon gar nicht um die eigene Verflechtung mit der Plattenindustrie. Es ging um den Wunsch nach sozialem Aufstieg und der Gier nach den Statussymbolen, die dazu gehören. Der Pop konserviert auf seine Weise die Unsterblichkeitsfantasien, indem er sie mit Glamour, Ruhm, Reichtum und Schönheit mischt. Die Frage, was überhaupt noch politisch an der Ware Musik sein kann, wird von den Rappern nicht gestellt, denn die Geste des wütenden Protestes ist ein wichtiger Teil des Entertainments für Jugendliche. Die Popkultur wird zum Motor der globalen Homogenisierung aller Lebensbereiche. Auch die wurde als Projekt von den totalitären Systemen begonnen und wird jetzt unter anderen Vorzeichen vom Kapitalismus weitergeführt.

Der einzelne Künstler muss dadurch seine persönliche Integrität nicht unbedingt verlieren, aber je tiefer er in den Markt gerät, desto stärker ist er Teil eines Wettlaufs zwischen dem Hasen und dem Igel. Die Strategien, sich der katastrofischen Gier dieses Marktes zu entziehen, sind unterschiedlich. Die Künstlerin Cindy Sherman machte fotografische Ekelserien als Antwort darauf, dass plötzlich zu viele Sammler ihre Fotos haben wollten. Die Ekelserien wollte dann keiner mehr kaufen. Im Kino ist die Realsatire die Kunstform der Stunde. Hier ist der Grad schmal zwischen der Mischung aus Abscheu und Entzücken, das ein riesiges Publikum ins Kino zieht, und der Gefahr, mit Klagen der sich geprellt fühlenden Mitwirkenden überzogen zu werden. Im Theater spielt die Dekonstruktion mit Sinnfragmenten. Tendenziell werden damit Auseinandersetzungen verjuxt oder die Fragmente so sehr verrätselt, dass das Publikum, das nichts mehr versteht, in die kunstreligiöse Starre fällt. Frank Castorf kann mit Recht darauf hinweisen, dass er seine Ästhetik des Widerstands schon in der DDR entwickelt habe und es nicht seine Schuld sei, wenn das dann im Westen zur Mode geworden sei. Dort war sie widerständig, weil es einen hegemonialen Sinn gab, der war präsent, auch wenn nur noch die Fragmente auf dem Boden lagen. Das Wesen des Kapitalismus besteht aber gerade darin, solchen Sinn zu vernichten. Wenn Sinn nicht mehr da ist, werden auch die Fragmente sinnlos. Aus dem Widerstand gegen die früheren Verhältnisse wird dann die Widerspiegelung der jetzigen.

Wie können die Künste im postindustriellen Kapitalismus noch politisch sein? Was machen Künstler, die sich von einem politischen Gewissen nicht verabschiedet haben? Wo situiert sich jetzt die politische Kunst, die klassisch anti-staatlich und anti-kapitalistisch war? Gibt es sie noch?

Man kann es sich leicht machen und sagen: Jede Kunst ist politisch, auch wenn sie es selbst nicht wahrhaben will, denn sie ist Teil einer Öffentlichkeit. Aber das blendet den Wandel aus, den sowohl die Kunst wie die Politik durchgemacht haben. Die Politik steht unter dem Anspruch der gesellschaftlichen Sinngebung, den ihr das vergangene Jahrhundert beschert hat, aber sie versteht sich nur noch als mühsame Krisenbewältigung. Wenn die Suche nach Sinn sich nicht religiös befriedigen lässt, wird die Gesellschaft mit ihr aufgeladen. Politische Kunst soll diese Sinngebung leisten durch Anklage und Protest, denn die Utopie lässt sich ja nur noch definieren als die Sehnsucht nach ihr. Und je kleiner und ohnmächtiger sich die Politik gebärdet, desto größer wird das Verlangen nach einer Instanz, die wieder ein Verhältnis zur Gerechtigkeit und zur Wahrheit herstellt und mit der Verrohung der reichen Länder Schluss macht. Wenn auf diese Weise in einer egalitären Massenkultur das Politische an der Kunst eingefordert wird, geht es erst einmal um das Aufgreifen von Themen. Wir kennen die Filme, Bücher und Theaterstücke, die sich auf diese Weise politisch positionieren und damit werben. Wenn man Glück hat, entsteht daraus etwas wie der Film „Esmas Geheimnis“ über eine in den jugoslawischen Kriegen vergewaltigte Frau. Mit dem Rückhalt des Goldenen Bären der Berlinale hat er es geschafft, dass den im Krieg vergewaltigten Frauen in Bosnien-Herzegowina der zivilrechtliche Status von Kriegsversehrten und damit eine Kriegsrente zugesprochen wird. So etwas ist selten. Oft befriedigt „Politische Kunst“ nur das schlechte Gewissen und den Gefühlshunger derer, die eigentlich auch Zeitung lesen könnten, aber ein „Emotion Dressing“ brauchen, das nur über eine Opfergeschichte zu bekommen ist. Die Gefahr, dass diese „Politische Kunst“ zum Genre wird, hat schon Godard gesehen, als er sagte, es gehe nicht darum, politische Filme zu machen, sondern darum, politisch Filme zu machen.

Der politische Reflex regiert die Stunde. Dichter werden stärker bemerkt wegen ihrer politischen Aussagen als wegen ihrer künstlerischen. Orhan Pamuk hat sich immer dagegen gewehrt, dass sein literarisches Werk hinter seinen politischen Stellungnahmen zu verschwinden droht. Für ihn ist es schwierig, als Schriftsteller die Balance zu halten zwischen dem politischen Engagement und der Literatur. Er sagt: „Ich habe die großen Ideen gründlich satt, bin ich ihnen in meinem überpolitisierten Land doch viel zu sehr ausgesetzt gewesen. Literatur ist meine Reaktion darauf, ein Versuch, das Spiel umzudrehen, einen gewissen Humor, eine gewisse Distanz zur Sache zu bringen. Ich will dem Leser sagen: Nehmt diese Dinge nicht so verdammt wichtig. Ist das Leben nicht schön? Ich möchte nicht zu einem Teil der verbissenen politischen Kultur werden, die ich selber so oft kritisiere.“ Wenn eine Gesellschaft, wie die türkische, politisiert ist bis an die Zähne, sehnen sich Künstler wieder nach einem Freiraum für ihre Kunst und nach einer Möglichkeit, Aufmerksamkeit für andere Dinge zu schaffen als für politische Probleme. Günther Grass hat für sich daraus die Konsequenz gezogen, dass er über Politisches als Citoyen spricht, seine Kunst aber für sich selbst sprechen lässt.

Denn Kunst und Politik verwenden Sprache unterschiedlich. Ein Politiker muss eine klare Haltung zur Realität einnehmen und seine Sprache auch so benutzen, weil er von möglichst vielen verstanden werden will und so viele Ambivalenzen wie möglich ausschalten muss. Gedichte und Filme können für ihre Haltung zur Realität nicht zur Verantwortung gezogen werden, sie können gleichzeitig einander widersprechende Dinge vertreten. Gedichte und Filme sind für die Wahrheit, die eine Übereinstimmung mit der Realität bedeutet, unzugänglich, sie sind zuständig für eine andere Ebene der Wahrhaftigkeit. Künstlerische Texte und Verfahren müssen uns überraschen. Man darf sie nicht reduzieren dürfen auf ihr Vermögen oder Unvermögen, einen klaren politischen oder moralischen Standpunkt einzunehmen. Ein Kunstwerk kann eine Überraschung produzieren, sichtbar und hörbar machen, einer möglichen neuen Erfahrung den Raum bereiten.

Natürlich altern die Formen von Kunst, auch die der politischen. Der pathetisch-kritische Kunstbegriff der politischen Kunst ging davon aus, dass der Fehler im System liegt und der Mensch an und für sich gut ist oder man ihn doch zumindest zum Guten erziehen kann. Von dieser letzten Annahme kann keine Gesellschaft ganz lassen. Aber es hat sich in den letzten Jahren doch die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Mensch ein unberechenbares Wesen ist und, philosophisch und auch psychoanalytisch ausgedrückt, immer mehr ist, als er von sich weiß. Sein Wissen um sich selbst erlebt im Moment einen gewaltigen Schub und dehnt sich aus in die Erforschung seiner eigenen Urgeschichte und in die Möglichkeiten künftiger Manipulation. Er hat die Instrumente einer biopolitischen Wende erfunden, deren Ausmaß wir uns noch gar nicht vorstellen können und die aus ihm etwas radikal anderes machen könnten: ein Hybrid aus Schwein und Mensch, ein Ersatzteillager für Transplantationen, eine unter Drogen und Rockmusik stehende Kampfmaschine, ein verdrahteter Träger von Chips, Labels und Logos. Im postindustriellen biopolitischen Kapitalismus wird der Mensch zuerst zum Rohstoff und dann zur Ware. Auch hier greift der Kapitalismus als totalitäres System neuer Prägung zurück auf ein totalitäres System älterer Prägung. Schon Stalin hatte den Auftrag gegeben, eine menschliche Kampfmaschine zu züchten aus der Kreuzung von Gorilla und Mensch.
In den Künsten, deren Grenzen zu den trivialen Formen des Erzählens offen sind, sind solche Figuren, die nichts mehr mit dem klassisch Menschlichen zu tun haben, schon lange anzutreffen. Die Faszination für Hannibal Lector, den Serienmörder und kultivierten Kannibalen, hat der Schriftsteller Georg Klein so beschrieben: „Die schockierend herrliche Willkür und die anarchisch antizivilisatorische Freiheit dieser Figur entsetzt und entzückt uns. In dieser spätmodernen Figur, in der die Autonomie des Individuums auf einen letzten eisigen Gipfel getrieben schien, schuf das Aufleuchten der Güte noch einmal jene Distanz zum Raubtier, jene humane Spanne, die einst in unergründbarer Vorzeit aufging, als zum ersten Mal ein Mensch einen anderen Menschen entgegen seinem Vorteil und ohne erkennbaren Grund verschonte.“ In diesen Sätzen wird klar, wo das Problem liegt. Die triviale Kunst zielt in das Herz dessen, was heute das Politische ausmacht: die Neuvermessung des Menschlichen. Aber damit das erkennbar wird, braucht sie einen Zuschauer, der über ein enormes Wissen verfügt in allen Bereichen, und nicht zuletzt über eine Distanz zu seinen eigenen Affekten, und sie nicht wollüstig schaudernd genießt. Hier ist nicht mehr das Produkt politisch, sondern die Rezeption ist es. Der normale Konsument aber, für den diese Produkte der Massenkultur gemacht werden, ist ein spätpubertierender junger Mann, der in den unbegriffenen Schwierigkeiten seiner Existenz einen Resonanzboden für gewalttätige Fantasien sucht. In den trivialen Kunstformen wird seine Lust an Grusel, Horror und Sadismus bedient und ein Zustand mentaler Unreife festgeschrieben. Der Pop, der die Kulturhoheit des Bürgertums ein für alle Mal gebrochen hat, zielt immer wieder auf die existentiellen Fragen, aber er ist darauf angelegt, die Massen nicht zur Besinnung kommen zu lassen, sondern sie dem reinen Affekt auszuliefern.

Pop hängt sich gern ein Mäntelchen um, das sich Parabel nennt auf gesellschaftliche Zustände, überlässt diese Parabel aber der denkerischen Bemühung des Betrachters. Die Tiefe wird in das Werk hineingelegt durch die nachträgliche Interpretation, in der sich das schlechte Gewissen eine Rechtfertigung für den Nervenkitzel verschafft. Wenn Sinn aber so radikal ausgetrieben worden ist, wird er der Beliebigkeit überlassen. Schlimmer: Die wollüstige Mischung von Abscheu und Entzücken, die hier erreicht wird, kann die Basis sein für jede Menge Heuchelei. Das Einzige, was bleibt, ist ein ausbeuterisches Verhältnis zum Gegenstand und zu den Gefühlen der Zuschauer. Das Werk selbst arrangiert sich kritiklos mit archaischen Fantasien, technizistischen Zukunftsentwürfen und virtuellen Welten. In den Laboren der Forscher und auf den Operationstischen wird die Ware Leben optimiert. Wer es sich nicht leisten kann, seinen Körper zum Wunschbody umgestalten zu lassen, baut virtuell in den Parallelwelten des „Second Life“, einem 3-D-Online-Spielplatz, in totaler Freiheit ohne jegliche Einschränkung durch die Realität an der virtuellen Verdopplung seiner selbst, seinem Avatar, und dessen Traumleben. Das tun schon 800.000 Menschen und jeden Monat kommen 30 Prozent hinzu. Als die Firma LindenLab, die „Second Life“ erfunden hat, vor kurzem den dritten Geburtstag ihres Produktes feierte, „da standen zwischen Bar und Buffet auch ein paar Computerterminals. Internet-Kameras übertrugen die Veranstaltung in die Welt von „Second Life“, wo eine Parallel-Party stattfand. Ein Beamter projizierte umgekehrt die Bilder des virtuellen Festes an eine Wand in die Wirklichkeit. Als sei der Bildschirm nur die Tür zu einen weiteren Raum. Und, so erzählt man es sich heute, auf den Straßen von „Second Life“, als die LindenLab-Angestellten dann in Richtung dieses Raumes winkten, da senkten die Avatare ihre Gläser und winkten zurück.“ (Tobias Moorstedt in der SZ vom 12. 10.2006).

Welch ein Reichtum an Themen für die „politische Kunst“, die sich bisher ja eher auf die Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft spezialisiert hatte! Aber wenn wir Godard folgen, dann sollte es den Künstlern nicht um einen Themenpark gehen. Das Politische läge in der Haltung: im Kunstwerk das Denken wieder zuzulassen. Wenn das Menschliche heute neu vermessen wird zwischen Tier, Maschine und Avatar, dann definiert eine Kunst, die nur Horror, Schock, Thriller, Splatter beherrscht, diese Effekte um die Affekte zu reizen, den Menschen als Tier ohne jede Moral. Die triviale Kunst der reinen Sinnlichkeit, die das Gefühl vom Gedanken, den Affekt vom Sinn trennt, hält das Kunstwerk in anderer Weise „rein“ als es die kunstreligiösen Vorstellungen gemacht hatten, die die Grenze zu Fragen nach der Gesellschaft abdichteten. Aber auch hier geht es um einen Elfeinbeinturm, jetzt den des folgenlosen Genusses am Entertainment, das der Barbarei ganz nahestehen kann, ohne es zu merken. Die politische Kunst aber, die eine solche „Reinheit des Kunstwerkes“ nie akzeptiert hat, weiß, es geht nicht ohne Denken und nicht ohne die Mühen, für dieses Denken im Kunstwerk Formen zu finden. Damit arbeitet sie unter den Bedingungen einer katastrofischen Moderne an der in unserer Kultur sehr alten Trennung von Wort und Bild, mit der die Geschichte der Kunst begann.

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