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Jutta Brückner

Die Rolle der Künstler in der digitalen Demokratie

Das Thema ist erklärungsbedürftig fast vom ersten bis zum letzten Wort. Wer sind die Künstler? Ist ein Videospieldesigner ein Künstler, ist Dieter Bohlen ein Künstler, wie ein Prozess um die Künstlersozialkasse behauptet? Und was ist das, die digitale Demokratie? Ist es die uns bekannte, nur erweitert um das Internet? Das Thema ist so umfassend, dass ich es nur in Thesen behandeln kann.

Zuerst zur digitalen Demokratie.

Die neuen Informationsmöglichkeiten und neuen Medienpraktiken tragen zum Teil urdemokratisch anmutenden Charakter, weil die Rolle der Vermittler stark eingeschränkt wird. Viele junge Internetuser sehen in der digitalen Revolution die endgültige Einlösung des klassischen demokratischen Versprechens, weil jedem und jeder jetzt die Möglichkeit gegeben wird, Text, Bild, Musik, Film ins Netz stellen. Nicht dürfen und können alle alles, sondern alles verdient auch die gleiche Beachtung, der in der Garage komponierte und vor einem Amateurmikro aufgenommene Song ebenso wie die letzte Inszenierung der Atriden im Stadttheater. Die Basisdemokratie hat mit Hilfe des Netzes die Kunst erreicht.

Nur, wir leben nicht mehr in der Demokratie, sondern in der Postdemokratie, wie Colin Crouch unsere Herrschaftsform genannt hat. Demokratische und nicht-demokratische Impulse durchdringen einander. Die Postdemokratie ist ein prekärer Zustand zwischen der Herrschaft des Volkes und der Herrschaft der Konzerne. Damit ist verbunden ein Prozess der inneren Zersetzung, der sich nicht in Form von großen Skandalen, Staatsstreichen oder Systemwechseln vollzieht, sondern als schleichende Erosion klassisch-demokratischer Werte im politischen Raum wie im Alltag. Der direkte Zugriff auf unsere Affekte ist zur Basis vieler Industrien geworden, m.a.W.: damit Geld verdient wird, muss die Vernunft des klassischen Bürgers ausgeschaltet werden. Die Postdemokratie funktioniert nur noch sehr eingeschränkt nach einer rationalen ökonomischen und politischen Ordnung, sondern viel stärker nach unseren Triebökonomien.

Konkret sieht das so aus:

Der Hype
Die Lieblingsworte unserer egalitären Gesellschaft sind Star, Super, Mega, Held, Ausnahme, Idol, legendär, Titan, Mythos, Gott, Kaiser, Papst. Offensichtlich haben die Postdemokraten mit der Gleichheit ihre Schwierigkeiten. Dieser pubertäre Ehrgeiz des maximalen Erfolges ist Gesetz der Finanzmärkte wie auch unserer alltäglichen Existenz. Nur wer gewinnt, ist kein Loser, denn „The winner takes it all“. Und nur als Sieger kann man sich aus dem Strom des endlosen Geschwätzes im Netz und außerhalb herausheben. Kern aller dieser Strategien ist das „mehr“, vorzugsweise mehr Geld, aber auch mehr Ruhm und mehr Liebe, das sind die anderen Währungen unserer Zeit. Es gibt nur ein Gut, das sich absolut nicht vermehren lässt: die Zeit. Die Hysterie angesichts dieser Tatsache ist die Nahrung für den Hype.

Man kann vermuten, dass die Mobilisierung des gesamten Arsenals von Heroen, Göttern, Titanen und Königen nötig ist, um das leere Zentrum des politischen Körpers, leer, seit dem König der Kopf abgeschlagen wurde, wieder zu besetzen durch viele Widergänger. Aber in der Postmoderne sind das nicht die alten Helden des bürgerlichen Zeitalters, Industrielle, Erfinder und Bankiers, nicht Herr Ackermann, sondern Herr Beckenbauer, nicht Bill Gates, sondern Michael Jackson. Es sind die, die eine erstklassige Performance abliefern.

Die Performance
Erfolg ist heute nicht mehr an Leistung gekoppelt, sondern an die „gute Performance“. Im Zeitalter der globalen Mediensichtbarkeit macht die Pflege des eigenen Bildes und der eigenen Marke die Persönlichkeit aus. Man kann auch sagen: Identität ist in Performance aufgegangen. Nicht nur Prominente werden im Internet zu ihrer eigenen Marke. Gestern sah ich an der Zapfsäule meiner Tankstelle den Satz: „Das Benzin X macht eine gute Performance.“ Die ganze Schizophrenie steckt in folgendem Zitat: „Der amerikanische Journalist Steve Kettmann zeigt sich immer noch überrascht von Arnold Schwarzeneggers gar nicht so schlechter Performance als Gouverneur von Kalifornien, das allerdings fast pleite ist.“

Die Zahl
Zuerst ein Zitat: „Die Leiche konnte nur identifiziert werden, weil es eine Seriennummer der Brustimplantate gab.“ Im Zentrum unserer digitalen Welt stehen zwei Zahlen: 0 und 1.
Wahrscheinlich sind die Titanen, Idole und Super-Mega-Helden dazu da, diese Tatsache zu verdecken. Alles wird mit Hilfe der Zahl zur Information. Wir sind beherrscht von diesem mathematischen Filter vor unserer Wahrnehmung. In New York gibt es folgende Erklärung für die Finanzkrise: Der Mathematiker David Li hatte 2000 eine Formel entwickelt zur risikofreien Geldvermehrung durch bloßes Umschichten und Neuverteilen von Schuldverschreibungen. Banker waren euphorisiert, denn dank Lis Formel begann in den alten Industriestaaten die größte Kapitalfreisetzung seit der industriellen Revolution. Wieso grassierte in Wirtschaftskreisen, in denen man weiß, dass der Markt irrational ist, plötzlich der Glaube, dass eine mathematische Formel es richten kann? Im Jahr 1993 mussten Heerscharen von überqualifizierten Physikern sich einen neuen Job suchen, weil der Bau eines gigantischen Teilchenbeschleunigers vom amerikanischen Kongress abgesagt worden war. Sie fanden Arbeit in der Wall Street und ihre Formelglaube und ihre tiefe Sehnsucht, eines Tages die geheime Weltformel finden können, infizierten die Banker, die jetzt plötzlich auch überzeugt waren, dass es eine geheime Formel der Wohlstandsvermehrung gäbe.

Die Medien
Das elektronische Auge ist immer das kalte Auge, im Gegensatz zum Kino kann es keine emotionale Nähe herstellen. Auch bei größtmöglicher Nähe zum Sofa im Wohnzimmer des Benutzers, bleibt es in eisiger Distanz. Auf der Strasse oder im Kaufhaus ist es das Auge der Überwachung und Überrumpelung gleichzeitig. Es schafft passive Gleichgültigkeit oder Schuldbewusstsein, dieser Zwiespalt ist in das medium als message eingebrannt. Thrill und Sentimentalität überbrücken diese kalte Nähe, aber sie töten die Phantasie, weil sie Gefühle durch Affekte ersetzen.
Langeweile und Affekt werden zur normalen Existenzform des Mediensubjektes. Das Subjekt, schon in seinem Namen als das „Unterworfene“ gekennzeichnet, ist entmachtet, denn „ich habe Gefühle“, aber „der Affekt hat mich“. Er kennt keine Moral, die das Vorrecht des Menschen ist und keinen Instinkt, der das Vorrecht des Tiers ist. Die Moral sagt dem Menschen: Du sollst nicht töten. Der Instinkt bringt das Tier dazu, abzulassen vom Gegner, wenn er auf dem Boden liegt. Der affektgetriebene Mensch ist in einem Zwischenreich, weder moralisch noch instinktiv.

Die Technik
Ebenso groß wie die Verfallenheit an die Zahl ist die Verfallenheit an die Technik. Sie ist nicht mehr Instrument für bestimmte Zwecke, sondern ein Großsystem, so komplex und in so ständigem Wandel, dass sie sich einer effektiven Steuerung entzieht. Technische und mathematische Kategorien haben sich so sehr in unser Denken eingeschlichen, dass wir ein Teil dieses Systems geworden sind. Das ist ja ein alter Gedanke, der schon von dem Philosophen Günther Anders formuliert worden ist, wenn er von der „Antiquiertheit des Menschen“ sprach. Inzwischen sind wir so weit, dass auch das Leben als Code begriffen wird. Inmitten der künstlichen Intelligenz, der Roboter und der Molekularbiologie leben wir unter der Herrschaft eines „technologischen Apriori“. Und damit ist gemeint, dass die Gesetze komplexer Systeme unabhängig sind von dem Stoff, aus dem sie gemacht sind – also auf Menschen, Tiere, Computer und Volkswirtschaften gleichermaßen zutreffen. In Konsequenz heißt das: Der Mensch der modernen Industriestaaten wird umgebaut. Das hat er in seiner Geschichte schon öfter erlebt, aber nie in diesem Maßstab und in diesem Tempo, denn es geht nicht einfach um Veränderungen von Weltverhalten und Moral, sondern um Eingriffe in seine geistige und körperliche Substanz. Das, was die sozialistische Utopie im moralisch-politischen Sinne gemeint hatte, die Schaffung des „neuen Menschen“, entsteht heute in den Laboren der Wissenschaft und Technik, auf den kapitalistischen Märkten und auch in den globalisierten Büros, denn das moderne Subjekt ist gehalten, daran mitzuwirken. Der Mensch lebt unter dem Imperativ, sich ständig selbst „neu zu erfinden“, immer wieder neu „er selbst zu werden“. Das Urteil darüber, ob das gelungen ist, fällt der Markt: der Musikmarkt, der Liebesmarkt, der Jobmarkt, usw. Dieser Zwang hat die alte Idee der Entwicklung ersetzt. Entwicklung bedeutete noch, dass es eine Substanz gab, die ihre Ausprägung in unterschiedlichen Lebensaltern fand. Damit ist jetzt der äußerste Punkt der Umwälzung benannt, die sich heute auf allen Ebenen vollzieht.

Man hat den postmodernen Menschen auch das erschöpfte Selbst genannt. Erschöpft von dieser Anstrengung, immer wieder neu er selbst werden zu müssen, ständig getrieben von einem Gefühl der Minderwertigkeit, der Unzulänglichkeit. Als globalisiertes Wesen wortlos, biegsam und verflüssigt, jeder Zeit bereit, Design und Funktion zu verändern, ohne Wurzeln, Bindungen und Leidenschaften. Moderne Menschern sind projektbasierte Existenzen, die alles geopfert haben, was die Verfügbarkeit einschränken könnte. Die Menschen bezahlen dafür mit innerer Zerbrechlichkeit, schwankend zwischen ständiger Affektballung und Hilfsbedürftigkeit. Exzess und heroische Anstrengung schlagen direkt in die tiefe Depression um, die schon den Serien-Mafiaboss Tony Soprano in die Praxis der Analytikerin trieb. Sich ständig neu zu erfinden, bedeutet permanente Adoleszenz, den falschen Glauben, das man immer wieder neu anfängt und alles immer offen ist. Ausgesetzt einem nicht beherrschbaren Medien-Populismus und eingeübt in die Faszination des Grauens, schlingern die modernen Menschern zwischen den antiquierten Grenzen ihrer Wunschökonomien und den Zwängen einer neuen Welt, von deren Gestalt man noch nichts weiß. Der moderne Mensch hält sich inzwischen sowohl in der Realität auf wie in der Fiktion, die der Realität immer ähnlicher wird, es ist der ganze Ehrgeiz der Techniker, die Unterschiede zwischen beiden verschwinden zu machen. Seine Wahrnehmung kann das kaum noch unterscheiden, aber in den beiden Bereichen gelten nicht die gleichen Moralgesetze. Er muss unterscheiden können zwischen dem thrill und der Entertainment-Lust, die es bereiten mag, in einen Film zu sehen, wie einem Menschen mit einem Baseballschläger der Kopf zu Matsch geschlagen wird und dem Entsetzen, wenn dasselbe in einer U-Bahn-Station passiert. Er lebt in einer Welt, in der die Politik bekämpfen muss, was in der Kultur Konjunktur hat.

Was können angesichts dieser rabenschwarzen Diagnose die Künstler machen?

Sie sind auch in ihrem eigenen Bereich all dem ausgesetzt und dazu den Gesetzen eines Marktes, dem sich heute kein einziger der früher autonomen Bereiche von Wissenschaft und Kunst entziehen kann und in dem alles zum Wachstumsfaktor wird. Der Markt produziert einen ununterbrochenen Strom aus Kommerz und Emotion, aus Information und Unsinn, privater und öffentlicher Informationen, aus gesteuerter Ordnung und wildem Zufall. Künstler kämpfen wie alle gegen eine zunehmende Banalisierung und Vulgarisierung. Das Massenmedium Fernsehen gestaltet sein Programm nach populistischen Gesichtspunkten von Antiintellektualismus und Entertainment. Die seriöse Presse kämpft angesichts des Internets um ihre Rolle, denn in der digitalen Demokratie der nordwestlichen Staaten sind die neuen digitalen Möglichkeiten erst einmal mit Verteilungskämpfen verbunden. Welche Alternativen können die Künstler da liefern?

„Aufklärung“ – über was auch immer – bedeutet unter solchen Umständen, man spielt die alten Stücke noch mal und entdeckt, dass alles, was heute zum Kapitalismus gesagt werden kann, schon von Brecht in der Heiligen Johannes der Schlachthöfe gesagt wurde. Oder wir gehen in den Film von Michael Moore über den Kapitalismus und sehen dasselbe noch einmal unter den aktuellen Umständen, denn wir leben in einer Zeitschleife, die alten Verbrechen haben sich nicht verändert, sie sind nur größer geworden. Die aufklärerische Kunst aus dem 20. Jahrhundert, inzwischen klassisch geworden, leistet hier weiter hervorragende Arbeit, da wo sie sich auf die klassischen Felder des Lebens bezieht und wo sie sich an den klassischen Kulturmenschen wendet. Der geht ins Theater, Konzert, und Museum, der liest und selten geht er auch ins Kino. Er ist inzwischen ebenso klassisch wie die Kunstwerke, die er genießt und langsam stirbt er aus. Mit Ausnahme des Kinos, so stellt ein Bericht fest, suchen Geringverdiener kaum noch Kulturstätten auf. Theater, Opernhäuser und Museen werden von Besserverdienenden nahezu monopolisiert. Unaufhaltsam scheint auch der Bedeutungsverlust des Buches für weite Teile der Bevölkerung zu sein.

Wie die Postmoderne die Moderne abgelöst hat, gibt es inzwischen eine Kunst des digitalen Zeitalters, die sich in die allgemeine Ästhetisierung der Alltagswelt, die mit der digitalen Revolution einen großen Schub bekommen hat, denn das Internet wirkt noch einmal als Affektverstärker, nahtlos einfügt. Mit der Sprache der klassischen Moderne bezeichnet sich diese Kunst als avantgardistisch, oft als subversiv. In dieser Neo-Avantgarde explodiert die Technologie. Mit der Digitalisierung gehen immer mehr Dinge, die zuvor an bestimmte unaustauschbare Materialien gebunden waren, in einen neuen Aggregatzustand über, aus Zeichenbrettern, Tonstudios, Fernsehern, Büchern, werden Daten. Die h. die unterschiedlichen Sprachen der Kunst werden aufgesogen von einer Sprache, die sie zuerst einmal zu Informationen macht. Daraus entstehen Raum-Klang-Kunstprojekte, Remixes von allem Vorhandenen, land-art und body-art und auch solche Extremfälle wie jene Engländerin, die nach zahllosen Schönheitsoperationen sich selbst als lebendes Kunstwerk inszenierte oder jene Schwedin, die sich – als Kunstaktion – in die Psychiatrie einweisen ließ. In den meisten Fällen besteht der Kunstcharakter solcher Werke in der Korrespondenz mit dem ästhetisierten Alltag und in der Problematisierung seines eigenen Kunstanspruchs und seiner Wirkung. Es gibt auch einen mainstream der Minderheiten, wo fleißig an der Darstellung von reiner Struktur und Wahrnehmung gearbeitet wird, die nichts wahrnimmt außer eben sich selbst, ihre eigenen Form- und Strategiediskussionen. Das ist oft erstaunlich selbstbezogen. „Die eigentliche Profession der Kunst ist die Produktion von Präsentations- und Vermittlungsformen“, erklären die Künstler der Noroomgallery. Inhalte, wie man klassisch sagen würde, werden demgegenüber nebensächlich, denn darüber ist wenig auszusagen, wenn jeder ein Künstler ist und alles gleichermaßen bedeutsam und wenn das Kunstprojekt darin besteht, dass „die Bürger jetzt ihre Kunst und Propaganda in einer Größe verbreiten können, die zuvor monopolisiert war“, wie die Künstler des Graffiti Research Lab aus Wien sagen. Was zu Beginn des 20. Jahrhunderts Avantgarde war, ist heute oft nur noch eine kunstnarzisstische Geste.

Die demokratische Idee der Gleichheit führt auf solche Weise in der Kunst zu ihrer eigenen Vernichtung Ein Zitat aus dem Umfeld des User Generated Content: Und wer überhaupt bestimmt darüber, ob schlechte Politik wichtiger ist als gute Comedy, wer will denn wissen, dass die expressive Darstellung von Gemütszuständen in Blogs oder das Zwitschern subjektiver Impressionen weniger wichtig sind als die prätendierte Hochkultur subventionierter Opernhäuser oder Theater, warum eigentlich ist es so, dass Romane ein Lektorat und Urheberschutz verdienen? Also jeder ein Künstler und jeder wichtig und alles bedeutsam, was aus dem privaten Leben ins Netz gestellt wird. Meist jugendliche User verteidigen die digitale Welt als Hort neuer Formen. Viele dieser Künstler wollen keine Werke, keine Produkte abliefern, die sich vermarkten und vereinnahmen ließen, und entscheiden sich deshalb lieber für Aktionismus und das Prozessuale, das sie als die Subversion ansehen, die dem digitalen Zeitalter gemäß ist. Subversion hat sich allerdings in eine Art Lifestyle verwandelt und künstlerischer Underground und die Glamour-Zone der Mode- und Lifestyle-Gazetten sind sich nah wie nie.

Diese Verbindung einer Avantgarde, die sich nur noch dieses Etiketts bedient, dem Markt, der Werbung und dem persönlichen Branding, führt dazu, dass es noch nie so viele Menschen gegeben hat, die sich „Künstler“ nennen wie heute und das schon bei der Bewerbung zur Aufnahme an einer Kunsthochschule. Und während sich früher die subversiven Künstler gern als lästige Parasiten verstanden, die dem Wirtskörper des Kapitalismus kräftig zusetzen, kehren sich heute die Rollen um. Manche der Kunstaktionen wirken geradezu als Verdoppelung dessen was ohnehin passiert. Schlimmer: Kunst fungiert als Schrittmacher für gesellschaftliche Kapitalprozesse. Künstler bespielen Industriebrachen und Stadtvermarkter reiben sich die Hände, weil die ereignisgetriebene Kunst des Subversiven in ihr Eventkonzept passt, oder die Voraussetzung dafür ist, dass verlassene Quartiere, die zum Spottpreis zu kaufen waren, luxussaniert werden. Die ökonomische Zukunft der Städte im postdemokratischen Zeitalter entscheidet sich daran, wie attraktiv sie sind für die sog. „creative class.“ Berlin hat aus der spontihaften und kritischen Kunst eine Marke für die Stadt gemacht. Die wirklich subversive Antwort darauf pfeift auf jede symbolische Form und greift zum direkt kriminell-politischen Akt: jede Nacht werden Luxusautos auf den Straßen abgefackelt.

Kunst in der digitalen Demokratie existiert auf einem schmalen Grat, denn sie ist eingeklemmt zwischen zwei Hypes: dem der maximalen Verwertbarkeit in der Wirtschaft und dem der maximalen Aufmerksamkeit durch Provokation. Unter den vielen Möglichkeiten, die Wahrnehmung zu fesseln, ist der gröbste Effekt der schnellste. Und selbst, wenn wir uns dagegen wehren, sind wir inzwischen gewöhnt an die grellen Reize, mit denen der Kunstbetrieb in seinen modischen Wunderkammern lockt. Wenn man den Kulturteil liest, hat man oft den Eindruck, den Wirtschaftsteil zu lesen. „XY gilt als der einflussreichste und erfolgreichste Künstler der vergangenen 10 Jahre. Für viele gehört er sogar zu den 5 bis 10 besten Künstlern aller Zeiten. Von 2004 bis 2007 war er CEO des wichtigsten hiphop-Labels, sein 11. Studioalbum stand auf Platz 4 und hat Millionenumsätze gemacht. Seine website wird jeden Tag von Hunderttausenden angeklickt, usw.“ Die maximale Verwertbarkeit führt mitten in den mainstream mit seinen goldenen Schallplatten, Oscars usw., die Provokation scheinbar in die Subversion, doch auch die ist inzwischen in den Händen des Marktes. Ganz im Stil einer Off-Galerie betreiben Marken wie adidas oder Comme des Garçons sogenannte Guerilla-Stores, Läden ohne Ladenschild in einer verlassenen Autowerkstatt oder Schlachterei, in denen dann die Hemden vom Fleischerhaken baumeln und die Schuhe auf Europaletten stehen. Der Nike-Konzern organisierte in Australien sogar Anti-Nike-Demonstrationen, um weiterhin gut bei seiner Zielgruppe anzukommen, die nichts mehr schätzt als die Aura der Dissidenz. Dissidenz aber bitte mit den angesagten Schuhen, einzig zugelassenen Hosen und neusten Handys!

Ist der modernen digitalen kapitalistischen Demokratie und ihrer Netzökonomien nicht zu entkommen?

Es ist sehr schwer, denn das Verstummen, das noch eine Option der klassischen Moderne war, Beispiel Beckett, ist heute nur noch Nicht-Vorhandensein. Jede Kunst, auch die subventionierte, ist heute auf den Markt verwiesen, der dominiert ist von der Populärkultur. Daraus bezieht ein großer Teil der Gesellschaft seine Haltungen, seinen Geschmack und seine Urteile. Die Populärkultur wirkt ähnlich dem Stockholm-Syndrom: die Geiseln lieben die Geiselnehmer. Und sie funktioniert weitgehend nach den Maßstäben einer testoterongesteuerten Pubertät, denn in ihrem Beginn war sie eine Jugendkultur. Die Mode wird jetzt von 13jährigen Mädchen bestimmt. Gespannt sehen große Modelabels jeden Tag auf den Modeblog einer Schülerin, die ihnen mitteilt, was gerade angesagt ist. Was soll ihnen eine „Ilias“ oder „Odyssee“, geschrieben vor mehr als 2000 Jahren, von einem Künstler, der real vielleicht nie existiert hat, sagen? Der Markt erzählt ihnen: „Alles, was Du Dir vorstellst, kann Wirklichkeit werden“ (Sony) Das säkulare Heilsversprechen der Moderne erfüllt sich nicht mehr in der Politik, sondern in der Phantasy. Jugendbücher haben erstaunliche Zuwächse zu verzeichnen. Das liegt an den „All Age“-Büchern, in denen alle, Kinder, Jugendliche, Erwachsene, die magische Welten unendlicher Transformationen aufsuchen. Hier, aber auch nur hier, wird das Versprechen des größten Elektronik-Konzerns der Welt wahr.
Es gibt nicht mehr viele öffentliche Räume, die nicht vom Konsum bestimmt sind. Unsere staatlich finanzierten Kulturinstitutionen sind einige der letzten. Der Leiter des Kampnagel-Festivals, das politische Kunst zeigt, sagt: „Es gibt eine politische Realität, die einen fast sprachlos macht und die trotzdem zu null Reaktion in der Bevölkerung führt, weil die Menschen sich die Krisen als Unfall verkaufen lassen. Die Unzufriedenheit geht durch alle Bevölkerungsschichten, sie kristallisiert sich nur nicht, findet keinen Ausdruck. Es ist schwierig genug, gute Kunst zu machen, und es ist auch schwierig, gute politische Ideen zu entwickeln. Die Chance, dass jemand beides kann, ist gering. Aber wenn bei einem Festival ein Teil der Kunst zu plump ist, dann funktioniert sie als assoziative Ergänzung zu der thematischen Auseinandersetzung trotzdem.“ Solche Kulturarbeit, die sich politisch versteht, versucht, diffusen Gefühlen zu einem Ausdruck zu verhelfen. Dieser Festivalleiter, – er könnte auch Präsident der Akademie der Künste, Leiter des ZKM oder des Hauses der Kulturen der Welt, eines Museums oder einer Stiftung sein – weiß, dass eine künstlerische Auseinandersetzung immer von begrenzter politischer Wirksamkeit ist. Aber er tut sein Bestes, um mit Festivals, Reihen, mit Vorträgen, Kunstprojekten und Performances ein Bewusstsein zu schaffen, das sich über viele Erlebnisse mit Kunstwerken politisch auflädt. Er bündelt Kunst in ein politisches Projekt der Kommunikation. Und er hat die Erfahrung gemacht, dass dabei Prozesse entstehen, die nur in einem solchen Zusammenhang entstehen können, wo Künstler auf andere Künstler und auf Wissenschaftler treffen in konkreten und nicht nur virtuellen Räumen. Er schafft nach dem Ende der Moderne und dem endgültigen Sieg von Populärkultur und Mainstream auf allen Ebenen Möglichkeiten, ästhetische Erfahrung als spezifisches, vom Rest der Erfahrung abgetrenntes Faktum zu erleben und sie mit gesellschaftlichem Nachdenken zu verbinden. Er wird zum Arbeiter am gesellschaftlichen Sinn und an der Rettung der Kunst gleichermaßen.

Denn in diesen beschützten Werkstätten, so würde ich am liebsten sagen, können die Kunstwerke leben, ohne ihre Autonomie zu verlieren. Und um die nicht zu beschädigen, muss man etwas so Altmodisches tun, wie Kunst und Kultur gedanklich zu trennen und auch Kunst und Kreativität, die ja im digitalen Zeitalter gern als Kreativität der Massen in Open Source- und Open Content-Communities, im Web 2.0 und der Blogosphäre stattfindet. Oder in einem community-Projekt wie swarm of angels, diesem Spielfilmprojekt, das sich aus den finanziellen und künstlerischen Beiträgen einer Netzcommunity ergeben sollte. Ein Versuch, wenn nicht die Kreativität der Massen, dann doch die Kreativität einer sehr großen Gruppe zu einem Kunstprojekt zusammenzufassen. Der Initiator Matt Hanson stieß, wie er uns vor ein paar Tagen in Berlin erzählte, schnell an die Frage, wer eigentlich jetzt bestimmt, wie das Kunstwerk aussehen soll.

Hinter die Autonomie der Kunst können wir nicht zurückgehen. Die Kunst hat weder einen politischen noch einen moralischen Auftrag, sie ist nicht der heimliche Agent der Bundeszentrale für politische Bildung oder revolutionärer Zellen. Ihre Wahrheit liegt nicht in ihrer Moral, sondern in ihrer Ethik und Ästhetik. Sie hat keine moralische Verpflichtung, aber sie zeigt, was mit der Moral geschieht, mit dem Glück, mit der Schönheit, mit der Gerechtigkeit und so kann sie eine Haltung zur Welt vermitteln. Ihre Wahrheiten haben oft etwas Sprödes und ihr Thema ist immer das große Ganze. Kunstwerke werden nicht für Zielgruppen gemacht, sie nutzen alle Medien, aber sie suchen nicht den Markt. Die Kunst spricht nicht zum Konsumenten, auch nicht zum User, sie spricht zum Menschen, aber nicht als Lehrmeisterin in Demokratie, sondern als Erzieherin des Herzens. Das ist ihre existentielle Bedeutung und damit ist sie per se politisch in einer Zeit, in der die Menschen nur noch Konsumenten oder User sind.
Man muss mit aller Entschiedenheit sagen: Kunst hat nicht die Pflicht, auf dem Niveau des Konsumenten und Users zu sprechen. Wenn man sie verstehen will, muss man ihre Regeln lernen. Das macht Mühe. Ihre Wahrheiten sind sperrig, aber nicht skandalös im Sinne einer Erregungsdemokratie und sie ist nicht bereit, eine narzisstische Gratifikation zu liefern. User und Konsumenten sind beleidigt und empört, wenn sie etwas nicht verstehen, sie glauben, ein Anrecht zu haben auf eine verständliche Kunst, so wie sie ein Anrecht darauf haben, dass sie ohne Probleme über gute Straßen rollen können und in guten Krankenhäusern versorgt werden. Gewisse Versprechen der Demokratie wurden erfüllt auf Kosten ihrer Substanz.
Und im übrigen ist sie auch nicht der warme Schutzraum in Zeiten der kalten Globalisierung, als die sie von Politikern oft angepriesen wird. Sie geht an gegen die Erosion der Sprache. Das alltägliche und politische Nullsprech und die Verwischung der Sachverhalte durch Euphemismen und Werbe-Talk sind ja nicht nur kleine Täuschungsmanöver. Wenn Kunst etwas lehrt, dann die Differenzierung und die Komplexität. Sie rettet, schärft, bildet unsere Wahrnehmung. Denn angesichts einer Endlos-Show von Infotainment, Dokutainment und Polittainment kann der Mensch der digitalen Demokratie nicht anders als immerzu abzuschalten, um sich zu schützen. Diese Erfahrung machten die Bewohner des Ostens nach dem Fall der Mauer. Sie hatten in ihrem abgeschotteten Land ihre Sinne geschärft, um etwas wahrzunehmen. Jetzt mussten sie sehr schnell lernen, ihre Sinne abzuschalten, um sich ihre Fähigkeit zur Wahrnehmung nicht zerstören zu lassen.

In der Nachfolge von Hegel und Nietzsche hat der italienische Philosoph Vattimo davon gesprochen, dass es die Kunst als spezifisches Phänomen nicht mehr gibt. In der Epoche der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerkes geschieht es, dass die ästhetische Erfahrung sich immer mehr dem annähert, was Benjamin die zerstreute Wahrnehmung genannt hat. Die zerstreute Wahrnehmung trifft keine Werke mehr, sie bewegt sich in einem Licht des Untergangs und auch, wenn man will, der zerstreuten Bedeutungen. Die Kunst ist abgeschafft und aufgehoben in einer generellen Ästhetisierung des Lebens. Ich stimme Vattimo darin zu, dass die Räume der Kunst geschrumpft sind, „beschützte Werkstätten“, aber ich glaube nicht an ihren Tod. Sie ist nur manchmal schwer zu finden. Es gibt Zeiten, da ist Klassizismus Avantgarde, vielleicht gehört unser digitales Biedermeier dazu. Denn Geist ist immer ein wenig klassisch, wenn nicht klassizistisch, denn er beharrt auf Gedächtnis und Erfahrung und der Erinnerung. Er führt vor, was es heißt, sich in etwas Fremdes (eine fremde Sprache oder Zeit, eine ästhetische Form, ein spezifisches Genre) einzufühlen. Und so stellt er sich in Distanz zu seiner Zeit.
Das sind die Wurzeln der Kunst und nicht der globale Gesten- und Materialfundus. Deshalb kommt sie von den Rändern, seien sie geographische, historische, oder moralische. Zu dieser Begrenzung muss sie stehen angesichts einer Entgrenzung, die wir heute erleben und die als Gestalt gar nicht fassbar ist. In der Globalisierung ist die Vernichtung der Fremde enthalten. Kunst kommt aus der Fremde. Sie kann sich global mitteilen, aber sie bleibt eine fremde Nachricht. Das ist ihr Widerstand heute. Wenn sie diese Fähigkeit nicht mehr hat, dann ist sie untergegangen im globalen Rauschen.

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