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Remake

von Jutta Brückner, 2018

Texte zu Frauen und Filmen
 

Jutta Brückner

Für Erika Gregor

Am Anfang unserer Freundschaft stand ein Satz. Er fiel während einer Veranstaltung in Graz, ich erinnere mich nicht mehr genau, welches Jahr es war, aber es muss um 1975 herum gewesen sein. Filme von Frauen wurden gezeigt und das war damals gleichzeitig noch etwas Ungewöhnliches und doch auch etwas Zeitgemäßes, denn die erste Frauenfilmgeneration war schon angetreten. Erika und ich kannten uns noch nicht, wir trafen durch Zufall aufeinander, wir fanden uns sympathisch, saßen an einem Tisch und redeten. Und dann fiel der Satz, der für sie und für mich zusammenfasste, was damals, lange vor rechtlich vollzogener Gleichstellung und noch viel länger vor #metoo unsere Situation beschrieb: „Wie kann man von anderen erwarten, dass sie uns lieben, wenn wir es nicht selbst tun.“ Wir hatten beide erfahren, dass Deutschland ein hartes Land ist für Frauen, die sich nicht dem üblichen weiblichen Schema von Kinder, Küche, Kirche, wie man damals noch sagte, fügten, für Frauen, die Interessen entwickelten, die ihnen als Frauen nicht zustanden. Wenn man sie ihnen doch erlaubte, bedeutete das meistens, dass sie das Gymnasium besuchen durften, möglicherweise auch studieren, um dann verheiratet und nicht mehr berufstätig zu sein. Progressive Eltern konnten sich zu der Vorstellung durchringen, dass die Tochter dann Studienrätin wurde. Aber das bedeutete Ehelosigkeit, denn in Deutschland war mit kurzer Unterbrechung seit 1880 bis 1956 der Lehrerinnen-Zölibat gesetzlich vorgeschrieben. Die Männer waren sich sicher, dass die Frauen ihren Verpflichtungen als Ehefrau und Mutter und Pädagogin nicht gleichermaßen gerecht werden konnten. Solche zwangsweise unverheirateten Lehrerinnen aber galten dann entweder als hysterisch oder liederlich. Und das ist nur ein Beispiel nicht nur für die Legion von Vorurteilen, auf die wir trafen, sondern auch für deren Widersprüchlichkeit. Und wenn Frauen sich diesen Gesetzen, Vorurteilen und Erwartungen entzogen, dann begegneten sie nicht nur massiven Schuldzuweisungen, sondern entwickelten oft auch massive eigene Schuldgefühle. Erika und ich haben erlebt, dass Unterdrückung viel mehr umfasst als das, was in den dann erfolgten Prozessen zur politischen und sozialen Gleichstellung bereinigt wurde. Die Unterdrückung hatte auch unseren Geschmack, unsere Gefühle und unser gesamtes Unbewusstes modelliert, sie hatte sich fortgesetzt in den Selbstzweifeln, ob man nicht Grenzen überschreitet, die so tief in unserer Kultur gezogen sind, dass man sie gar nicht mehr wahrnimmt. Und unsere stille Revolte wurde immer wieder gelähmt durch die Unsicherheit, ob wir gegen die Erwartungen und Anforderungen, die eine ganze Kultur uns an stellte, Recht hatten. So waren wir oft die besten Agentinnen unserer eigenen Unterdrückung. Uns fehlten Vorbilder, denn die eigene Mutter konnte es für uns beide nicht sein. Unsere Gespräche kreisten immer wieder darum, wie stark gar nicht die Väter, sondern unsere Mütter uns im Weg standen bei unseren Versuchen, eine andere Lebensweise für uns zu finden. Wir gehören beide zur Kriegsgeneration. Die Erfahrungen, die wir mit unseren Vätern gemacht haben, waren entweder gar keine, weil es den Vater nicht mehr gab, oder die mit einem Mann, der innerlich gebrochen aus dem Schlachthaus zurückgekehrt war. Und so fiel uns die Erkenntnis leicht, dass das Patriarchat nur solange besteht, wie die Mütter als Erfüllungsgehilfinnen es stützen. Das hat uns davor bewahrt, in den wilden Zeiten des feministischen Aufbruchs daran zu glauben, dass die Frauen qua Geschlecht die guten und die Männer die bösen sind. Der Satz aus Graz war so nachhaltig, dass er weiterwirkte, auch in Zeiten, wenn wir uns nur selten sahen. Frauen leben ihre Freundschaften anders als Männer.

Unsere Freundschaft bestand nicht darin, durch die Straßen zu laufen und was einzukaufen oder jeden Tag zu telefonieren. Für mich ist es eine Freundschaft, wenn man mit der, die man vielleicht sogar ein ganzes Jahr nicht gesehen hat, in dem Moment, wenn man sie wiedersieht, ein Gespräch führt, als hätte man sich gerade gestern gesehen. So etwas kann man nur mit ganz wenigen Menschen. Unsere Freundschaft besteht aus Reden und ich denke, Erika, dass Du mir nicht widersprichst. Wenn man den Bechtel-Test auf unsere Gespräche anwenden würde, wir hätten immer blendend bestanden. Wir redeten nicht nur über Männer, aber auch über Männer, nicht nur über Filme, aber auch über Filme, über Politisches, Literarisches, über das Leben und immer wieder darüber, was Filme mit unserem Leben zu tun haben. Erika hat sich für Filme von Frauen eingesetzt, weil sie etwas mit dem Leben zu tun hatten, dem Leben dieser Mehrheit, die jahrelang immer als „Minderheit“ mit Schwulen und Behinderten in einem Atemzug genannt wurde. Sie stand ein für die Wahrheit und Bedeutung dieser Filme und sie stritt dafür nicht nur mit Haltung, sondern auch mit Argumenten. Filme von Frauen erzählten und erzählen oft keine sehr freundlichen, sondern eher unangenehme Geschichten, sie waren und sind noch immer oft ungewohnt, sperrig oder roh. Damals waren die Frauen auf der Suche nach einer Sprache. Jede männliche Emotion wurde und wird für kunstwürdig gehalten, jede weibliche gerät erst einmal in den Verdacht, entweder kitschig oder belanglos oder nur provokativ zu sein. Es wirkt noch immer nach, dass die bürgerliche Gesellschaft, auch heute, wo sie sich auflöst, dem Mann den Verstand und das Schöpfertum bescheinigt hat, und der Frau das ungeordnete, minderwertige Gefühl.

Dagegen mussten wir anfilmen. Und zur Wertschätzung dieser Filme gehörte auch, dass Erika über sexistische Filme sagte, dass sie sexistisch seien und sich dabei nicht von dem Vorwurf beirren ließ, humorlos zu sein, denn das, was da unter Humor verstanden wurde, war ja nicht anderes als getarnte Aggression oder Verachtung. Keine Kunstausrede und kein Geschwafel über Authentizität beirrt sie noch heute in ihrem Urteil. Wenn heute fast alle der Kritiker und Kritikerinnen, die über Cannes geschrieben haben, abgestoßen sind von dem Film von Abdel Ketiche, der drei Stunden lang weibliche Hintern in Nahaufnahme filmt und davon schwärmt, dass das Kunst sei und sein ganz authentisches Gefühl, dann würde ich ihn gern in einer Diskussion mit Erika Gregor zusammenbringen.
Erika ist die Frau von Ulrich, aber sie war nie die Frau an seiner Seite. Es hat allerdings ein Weilchen gedauert, bis die Welt das wahrnahm und sich daran gewöhnte zu sagen: Erika und Ulrich Gregor. Die beiden sind noch immer, denn niemand ist an ihre Stelle getreten, das hohe Paar der underground railroad für Filmemacherinnen. Das Forum hat, maßgeblich von Erika beeinflusst, eine Aufmerksamkeit für die filmenden Frauen als eine Gruppe und eine Bewegung geweckt, es hat ihnen zu Selbstbewusstsein verholfen und den Filmen zur Sichtbarkeit, und es hat sie durch Jahre treu und verlässlich begleitet. Die Filme, von denen ich hier spreche, wurden vom Wettbewerb damals nicht angesehen, es sei denn, es gab einen Film von einer Frau aus Osteuropa, dann galt das als ein politisches Statement. So wie vor 200 Jahren ein ausgeklügeltes geheimes Netzwerk die Flucht von bis zu 100 000 Schwarzen aus der Sklaverei in die Freiheit der amerikanischen Nordstaaten und Kanadas ermöglichte, so rettete uns das Forum des internationalen Films vor der Verzweiflung, dass das Wichtigste auf Filmfestivals darin besteht, zu erfahren, wie viele Abendkleider und dazu passende lange Handschuhe Gina Lollobrigida in ihrem Koffer hat. In einem Bericht über das diesjährige Festival von Cannes schrieb gestern ein junger Filmkritiker, dass sich für diese Art der Filmfestivals das Drumherum entkoppelt hat vom Drin, der Betrieb von den Filmen, denen er eigentlich gelten sollte. Es gebe zu viel Wind,  zu viel selbstverliebtes Getue und zu wenig Ernst, Substanz, Zielstrebigkeit. Und dass viele der starken Filme dieses Jahres nicht einmal im Wettbewerb liefen, sondern in der Nebenreihe „Un Certain Régard“. 

So war es beim Forum jahrelang, hier liefen die wichtigen Filme aus aller Welt, es war aufregend, es war lehrreich, es war unterhaltend, es ging immer um Existentielles, gleichgültig, ob ästhetisch oder politisch. Modisch gesprochen: das Forum war nachhaltig, es hat nicht ein Übermaß an emotionalen Ressourcen für das leere Nichts des Entertainments verbraucht. Heute stehen wir wieder an einem solchen Punkt des Umbruchs, an dem damals Ulrich und Erika das Form gründeten. Dieser Geist wird wieder gebraucht, nicht nur wegen der Frauen, aber noch immer auch wegen der Frauen.
Wenn ich ins alte Arsenal in der Welserstr. kam, um Erika zum Essen abzuholen, mussten erst noch, bevor wir aufbrechen konnten, mehrere internationale Telefongespräche geführt werden, und manchmal blieben wir dann gleich auf der Eckbank sitzen, weil man im Büro nicht auf Erika und ihr Wissen um alles verzichten konnte. Man musste sich den Weg bahnen zwischen Filmrollen, Plakaten, Büchern und Stapel von Forumsblättern vom Sitz schieben. Aber Erika kannte sich spielend in diesem Haufen aus und konnte jederzeit, mitten in einem Gespräch immer wieder kurz mit der Hand auf einen Haufen zeigen, wo etwas zu finden war. Ich bin absolut sicher, ohne sie wäre das Forum zusammengebrochen. Wie eine gute Hausfrau schaffte sie Ordnung und erinnerte daran, dass man wieder Milch und Klopapier einkaufen musste.

Der Geist ist nichts ohne den Körper und sie fühlte sich für beide verantwortlich. Sie organisierte, wie ihre eigenen Kinder ihr Essen bekamen und versorgt wurden und sie umsorgte die Forumsgäste und brachte sie intelligent und zitatenreich ins Gespräch. Wenn ich das Wort „Hausfrau“ benutze, meine ich nicht die der geschrumpften Kleinfamilie als Rückzugsort, sondern die der vorindustriellen Gesellschaft, „das ganze Haus“, mit Verwandten und Gesinde, für die die Hausfrau mit der Schlüsselgewalt verantwortlich war, das „ganze Haus“ als Produktionsgemeinschaft. Das Forum war in diesem Sinne ein „ganzes Haus“, ein Lebenszusammenhang aller derer, die zu ihm gehörten, nicht nur derer, die die Arbeit in diesem Büro machten. Jedes Festival weiß, dass es im Leben eines jeden Filmemachers und einer jeden Filmemacherin auch trübe Zeiten gibt, wenn der Ursprungsimpuls, der die ersten Filme und Erfolge gezündet hatte, von einer neuen Generation nichts mehr verstanden wird. Als mein Film „Kolossale Liebe“ auf dem Forum gezeigt wurde, gab es einen solchen Moment. Der Film war ein ungewöhnliches Experiment in seiner Videobearbeitung, es war ein Versuch, eine Geschichte gleichzeitig auf der Ebene der Realität und der Phantasie zu erzählen. Ich hatte bei der Probe vor der Vorführung im Delphi gesehen, dass die Leinwand viel zu groß war für die grobkörnige 16mm-Kopie. Ich starb fast vor Angst, dass sogar das Forumspublikum, das ja an Ungewöhnliches gewöhnt war, nicht verstehen würde, dass diese Grobkörnigkeit etwas aussagen wollte über die Verschwommenheit der Erinnerung und dass es jetzt einen Exodus der Zuschauer geben würde. Erika saß neben mir und hielt meine Hand. Wir quetschten uns beide vor Angst und Aufregung die Hände fast taub. Aber es gab keinen Exodus und langsam konnten wir die ineinanderverkrallten Finger lösen.
Danke für alles, was Du getan hast, Erika. Und danke für Deine Freundschaft.

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