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Remake

von Jutta Brückner, 2018

Texte zu Frauen und Filmen
 

Jutta Brückner, 2020

Laudatio auf Gertrud Koch

Es war in den 70er Jahren. Frauen hatten angefangen, ihren Platz vor der Kamera mit dem hinter der Kamera zu vertauschen, ihre ersten Filme wurden während der Veranstaltung Steirischer Herbst in Graz gezeigt und dort lernte ich Gertrud Koch kennen. Am Abend, beim Wein, erzählte ich von meinem Plan, für ein oder zwei Tage nach Jugoslawien zu fahren, damals unter Tito ein latent rebellisches Mitglied des sowjetischen Blocks. Gertrud überlegte laut, ob sie nicht Lust hätte, mitzukommen. Ich war begeistert. Einen Tag später sagte sie mir: „In deinem Auto sind die Sitze so voll mit Büchern und anderen Gegenständen, für mich ist da kein Platz.“ Kein Wort davon, dass man alles natürlich in den Kofferraum räumen müsste. Sie hatte erkannt, dass ich damals meiner selbstgezogenen Grenzen überdrüssig war, in einem Aufbruch lebte und sehr viel Platz brauchte.
Dieser diagnostisch genaue, psychoanalytisch geschulte Blick hob sie sofort heraus aus all denen, die mit heißem Herzen für die Sache der Frauen stritten. Das tat sie auch und ihr Herz war nicht weniger heiß, aber sie hatte auch einen kühlen, klaren Kopf. Nie ist sie dem Strohfeuer eines aufgeregt-euphorischen, aber eher naiven Feminismus verfallen. Sie war kämpferisch durch Intellekt, nicht durch Parolen. Ihre Kritiken und das was sie mir in Gesprächen gesagt hat, haben meine Entwicklung als Filmemacherin eine maßgebliche Zeit beeinflusst.

Gertrud Koch war zusammen mit Heide Schlüpmann die wichtigste theoretische Leitfigur der feministischen Filmbewegung der 70er Jahre. Diese erste Welle der feministischen Filmarbeit stand vor der Notwendigkeit, in Narration, Dramaturgie und Inszenierung Formen zu finden für Erfahrungen, die bisher in Filmen noch nicht dargestellt wurden. Wir kannten ein Kino, das zur Bilderwelt des Mannes gehörte und wollten eines schaffen, das die Reproduktion des patriarchalischen Blicks abstreifte. Die kulturelle Plastizität der weiblichen Rolle durch die Jahrhunderte wurde erst von der Frauenbewegung beschrieben und „Weiblichkeit als Maske“ genannt. Aber schon 1956 hatte Günther Anders in seinem Buch „Die Antiquiertheit des Menschen“ geschrieben: „Hat nicht die Macht unserer Männerwelt, die in vielen Sprachen den „Menschen“ zur bloßen Variante des Worts „Mann“ gemacht hat, auch die Philosophie mitgeliefert? Sind nicht „Ich“ und „Bewusstsein“ Männer?“ Das Unbehagen war schon da, mit der Frauenbewegung wurde es laut.

Als die erste Frauenfilmgeneration Ende der 60er Jahre begann, entstand sie in enger Anlehnung an den politischen Impetus und die gesellschaftlichen Forderungen der zweiten Frauenbewegung. Wir wollten Abschied nehmen von Filmen des damaligen Hollywoods, in denen die männliche Macht als anscheinend notwendige vermittelt wird, um wieder alles einzurichten, was irgendwo irgendwie aus den Fugen geraten ist, vom Liebesproblem bis zum historischen Verhängnis, die Frau war nur der loveinterest des Mannes. In Kurzfilmen, dokumentarischen Filmen und Videoarbeiten beschäftigten sich die filmenden Frauen mit dem, was auch die Feministinnen umtrieb: die geschlechtshierarchische Verteilung der Haus-, Erwerbs- und Kinderarbeit und die Kontrolle des weiblichen Körpers. Es ging um den gesellschaftlichen und privaten Alltag und um andere, realistische Frauenbilder in den Medien. Wir ersehnten ein Kino, das unseren Protagonistinnen Handlungsspielräum geben würde, die das klassische Kino für den Mann reserviert hatte! Wir hatten die feste Überzeugung, dass die Kunstform Film beleuchtet werden musste von der Seite, die bisher im Schatten gelegen hatte. Das Private war das Politische! Und wir glaubten, wie ein Mann, Bong Jon Hoo, es gerade in seiner Dankrede für den Oskar gesagt hat: The most personal is the most creative.

Die Bewegung war vielfältig, es gab viele Feminismen und ihre Energie verteilte sich auf alle Schattierungen von politischer und künstlerischer Praxis, ästhetischer Reflexion und gesellschaftlicher Theorie. Der gemeinsame Kern aber war das Bewusstsein, dass die Gesellschaft geändert werden musste in allen politischen und kulturellen Bereichen. Frauen hatten neue Themen, in denen die weibliche Wahrnehmung der Welt zur treibenden Kraft wurde. Aber von Beginn an war die Bewegung nicht nur politisch, sondern auch ästhetisch. Die Aufmerksamkeit verlagerte sich vom Inhalt des Films auf die Sprache der filmischen Repräsentation, auf Blickstrategien des Kinos und Subjektpositionen der Betrachterinnen. Wie kann die Frau sich des Blicks bemächtigen, der in der bürgerlichen Kultur ein männliches Macht- und Unterwerfungsmittel von Welt und Frau ist? Filme der Frauen sollten als „Gegenfilme“ gegen die Blickstrategien des klassischen Hollywoodfilms der ewigen Fetischbildung entkommen. Und so wurde der Aufbruch der filmenden Frauen auf der einen Seite flankiert von der politischen Frauenbewegung und auf der anderen Seite von theoretischen Reflexionen, was die filmische Sprache der Frauen sein könnte. Heute, wo es Frauen in ganz anderen Rollen im Film gibt, und Film wieder sehr stark an Genres gebunden ist, kann man sich die Herausforderung, aber auch die Freiheit und den Mut, vor der die Filmemacherinnen der ersten Frauenfilmgeneration standen, kaum noch vorstellen.

Laura Mulveys legendärer Text Visual pleasure and narrative cinema hatte uns gezeigt, wie die reale Ausschließung der Frau von der Macht auch ihre Repräsentation im Bild bedingt. Diese Theorie wurde für einige zur feministischen Bibel und auch wenn Mulveys Theorie fortgeschrieben und modifiziert wurde, war die Konzentration auf den Blick das beherrschende Paradigma, so wie auch die Augen das herrschende Sinnesorgan der Moderne waren. Das führte dann auch zu so kuriosen Überlegungen, ob die Totale männlich und die Nahaufnahme weiblich sei. Sehr schnell hat Gertrud Koch eine unreflektierte Verwandlung dieser Theorie in ein Glaubensbekenntnis und jegliche theoretische Behaglichkeit unterminiert durch die ungemütliche Frage, warum denn Frauen ins Männerkino gehen? Sie wollte darin nicht nur eine Identifikation mit dem männlichen Aggressor sehen und in der Zuschauerin im Kino nicht nur das unterjochte Opfer des male gaze. Denn der Spielraum der Aneignung visueller Objekte ist groß und Filmbilder lassen eine Spanne von Bedeutungen offen. Jedem dogmatischen Hurrafeminismus hielt sie die unangenehme Wahrheit vor, dass Frauen auf der Suche nach ihrer Identität sich stärker mit den Bildern auseinandersetzten, die das männliche Kino von ihnen gemacht hatte, als mit den Frauen selbst. „Die Unterdrückung der Frau beginnt nicht erst mit ihrem falschen Abbild.“ Da gilt auch heute, wenn in unserem Instagram-Zeitalter die falschen Abbilder von den Frauen selbst durch Photoshop erzeugt werden. Gertrud Koch beschrieb hellsichtig, dass das Verhältnis vieler Frauen, die sich als Feministinnen begreifen, zum Kino kein sinnliches, sondern ein moralisches war. Sie hat sehr viele wichtige Artikel geschrieben, dies ist einer ihrer wichtigsten geblieben.

Sie stritt dafür, dass die feministische Filmarbeit nicht zurückfallen darf hinter den Stand der anderen Künste, weder in einen politischen Instrumentalismus, noch in einen archaischen Primitivismus eines erträumten Matriarchats. Sie sah immer den Zusammenhang mit dem Aufbruch des Jungen deutschen Films, der alte Mittel des Stummfilms wiederentdeckte, neue Montagetechniken entwickelte und ein neues Zeit- und Raumempfinden ausdrückte. In dieser Zeit genereller neuer Entwürfe schrieb sie grundlegende Aufsätze in der von Helke Sander gegründeten Zeitschrift frauen und film, deren Redaktion sie später gemeinsam mit Heide Schlüpman übernahm. In ihren berühmten Filmkritiken in der Frankfurter Rundschau verteidigte sie in der männerlastigen Welt des Jungen deutschen Films die Wertschätzung der Filme von Frauen, die die männlichen Kritiker lediglich für die visuelle Verlängerung eines politischen Anliegens hielten, nicht für einen Teil von Filmkunst. Sie hatten keine Kriterien für deren eigene Ästhetiken und Handschriften, denn auch von den vielfältigen theoretischen Überlegungen der feministischen Filmwissenschaft hatten sie nichts wahrgenommen. Schon in ihrer Blütezeit sind die Filme von Frauen immer auf ihre Aussagen reduziert worden. So zementierten sie mit aller Verhärtung die alte Vorstellung der bürgerlichen Gesellschaft, dass Frauen keine vollwertigen Individuen sind und wenn sie überhaupt Kunst machen, dann minderwertige.

Diese Weigerung, sich mit dem ästhetischen Potential der Filme von Frauen auseinanderzusetzen, war ein Teil des Abscheus vor der kreativen Intellektualität von Frauen, die in Deutschland tief verankert war und ist. Im Ausland wurden die Filme deutscher Autorinnen als wichtiger Teil der Avantgarde des feministischen Weltkinos anerkannt, in Deutschland sind sie bis heute noch nicht einmal Teil des nationalen Filmkanons. Auch die Filmgeschichte wird von Siegern geschrieben. Der Autorenfilm als Ganzer wurde im Neoliberalismus marginalisiert, doch die Filme von Frauen wurden vollkommen entsorgt zusammen mit dem Kollektiv „Frauenbewegung“, das man für überholt hielt. Die Filme wurden nicht an den Filmhochschulen gelehrt und auch die feministische Filmtheorie fand dort keinen Platz. Frauen hatten Geschichte geschrieben als politische und kulturelle Bewegung, doch seit den 90er Jahren war es so, als hätte das alles nie existiert. Für Frauen gibt es in der Geschichtsschreibung einen Automatismus der Ausschließung, auch wenn sie zu ihrer Zeit erfolgreich waren. Eine, die es wissen muss, Christina von Braun, hat gerade noch einmal gesagt, dass in keinem der ihr bekannten Länder die Aggression gegen die wissenschaftliche Erforschung von Gender so hoch ist wie in Deutschland. Erst #metoo wurde zur Umwälzpumpe für das systemische Übel der phallokratischen Gesellschaften, das von den vielen expliziten und diffusen Formen von Gewalt und Abwertung bis zur gläsernen Decke reicht. Wenn die Meinung herrscht, dass eine gute Geschichte vom Außergewöhnlichen lebt, von der Personalisierung und dem stereotypen Gegensatz von Gut und Böse, das sich am besten im Krimi oder Thriller ausdrückt, und Grautöne ebenso wie Relativierungen nur eine Geschichte schwächen, wie erzählt man dann von den realen Erfahrungen von Frauen, wenn man sie nicht als Leichen auf dem Boden drapieren will? In Leistungsgesellschaften fehlt es an Aufmerksamkeit für Lebensgeschichten, die nicht in das Muster der bereits bestehenden bestens ausgebildeten Eliten und ihrer cineastischen Formen passen.

Auch Künste sind Moden unterworfen und die roten Teppiche, auf denen die frierenden Stars von den kreischenden Fans umlagert wurden, wurden seit den 90er Jahren zum Sinnbild für das Ende der feministischen Filmarbeit. Die Kultur wurde mit Zuschauerzahlen und den Maßstäben des Sports gemessen. Die Berliner Symphoniker veranstalten gerade einen „Beethoven-Marathon“. Und Film war jetzt vor allem ein Produkt der globalisierten Entertainmentindustrie zwischen Kinderzimmer und Barbarei. Praktische feministische Filmarbeit war nicht mehr möglich und die Weiterführung der theoretischen Gedanken wanderte an einige Universitäten, wo in den Nischen ein kleines tapferes Dorf Widerstand leistete gegen die pax neoliberala, die den Feminismus einfach für eine Gewerkschaft der Frauen hielt und damit für überflüssig. Dass er aber ein kulturelles Interpretationssystem ist, dessen sich nicht nur Frauen, sondern auch Männer bedienen können, konnte man dann an der Freien Universität bei Gertrud Koch lernen. Wenn auch Männer das heute so sehen, ist das nicht zuletzt auch die Frucht ihrer Arbeit als Professorin. Zwei Generationen haben davon profitiert und tun es noch.

Die Theoretikerin Gertrud Koch hat die Lust an den Filmen nie verloren. Sie geht ins Kino. Sie hat sich jeder Filmform geöffnet, den Avantgardefilmen, Kurzfilmen, Animationsfilmen, den Autorenfilmen und dem Hollywoodino, bis hin zu den jüngsten Serien. Immer hat sie die Werke kontextualisiert und alles, was sie gesehen hat, als Bausteine für eine Erkenntnis begriffen, was Film sein kann. Filme sind ihr nicht Beweismaterial für eine im vorhinein gewusste Ideologie, sie sind der nicht zu hintergehende ästhetische Gegenstand ihrer erfahrungsbezogenen Filmästhetik. Die hat sie in einer doppelten Auseinandersetzung erarbeitet: einerseits als Ausgrenzung des Films aus den anderen Künsten und andererseits als Wiederkehr filmischer Dispositive in den anderen Künsten selbst. Adorno hat in einem Essay über die Verfransung der Künste gesprochen. In diesen erweiterten Räumen ist Koch unterwegs. Man könnte sie eine Netzwerkerin im Reich der Theorie nennen. Der feste Boden, auf dem sie steht, ist die kritische Theorie der Frankfurter Schule und am nächsten von deren Vertretern sind ihr deren Randfiguren wie Benjamin und Krakauer, über den sie auch eine Monographie geschrieben hat. Krakauer war wie Koch ein Flaneur durch die Professionen, Romane, wissenschaftliche Studien und Filmwissenschaft- und theorie. Zusammen mit Benjamin hat er das Defizit der kritischen Theorie ausgeglichen. Gertrud Koch in Deutschland und Miriam Hansen in den USA haben dann etwas Ähnliches getan, sie haben die kritische Theorie auf den Stand der Zeit gebracht.

Aber wie auch der Feminismus ist die kritische Theorie für Gertrud Koch kein Glaubensbekenntnis, sondern ein Arsenal von gedanklichen Mitteln auf dem Weg zu einer Erkenntnis. Sie folgt nicht Adornos kulturkritischem Motiv, das den Waren- und Reklamecharakter des Films in den Vordergrund stellt und sich dadurch den Blick für immanente ästhetische Kritik verstellt. Man lese dazu ihre Überlegungen zu Der blaue Engel. Sie sieht Film als die Kunst, die am deutlichsten die Widersprüche zwischen Autonomie und Markt, zwischen radikaler Selbstverwirklichung und technischem Apparat, zwischen isolierten Künstlern und organisiertem Massenpublikum zeigt. Sie hat in ihrem Buch über „Die Rückkehr der Illusion“ die Frage nach der Fiktionalität des Films als Medium gestellt, unabhängig von der Frage nach der Fiktionalität bestimmter Genres. Bei der geschmähten Illusion geht es nicht um die Verhüllung von Sachverhalten, sondern darum, etwas zur Erscheinung zu bringen: das ästhetische Objekt. Und so ist bei ihr die ästhetische Illusion im Gegensatz zur epistemischen kein Phänomen der Täuschung, sondern eines des Erscheinens, ein Moment der Illusionsbildung steht im Zentrum jeder Ästhetik. Das Wirkliche im Film taucht immer als Fiktion auf. Die doppelte Codierung des Films als Aufzeichnung und als Symbolverdichtung wirkt in der Fiktionsbildung zusammen. Dieses den Bildern zugeschriebene Vermögen zur Illusion geht davon aus, dass nicht nur wir etwas mit den Bildern machen, sondern diese auch etwas mit uns. Und hier wird die Filmwissenschaft zu einem Baustein einer grundlegenden Reflexion über eine moderne Anthropologie, die nicht nur die Erkenntnisse der Genderforschung einschließt, sondern auch die Rollenplastizität aller Menschen bedenkt, da wir alle heute ständige Konsumenten von Bildern geworden sind. Das reicht in alle Sphären hinein, von der Kunst bis in die Politik.
Bei Gertrud Koch kann man lernen, dass die komplexe Beziehung zwischen Werk und Welt eine Spirale ist, auf der sich die Kunst sowohl in die Welt hinein- wie aus der Welt herausdrehen kann, ohne sie je ganz verlassen zu können, eine Métissage der sozialen Sphären zwischen Wissenschaft, Kunst und Unterhaltungskultur, Verschränkung zwischen dem, was man früher Inhalt und Form genannt hat, Verschränkung zwischen den Künsten und die Verschränkung zwischen Kunst und Politik. Wer nur etwas von Film versteht, versteht nichts von Film.

Gertrud Koch vergisst nie, dass die Wahrnehmung einen Körper braucht. Der Film adressiert seinen Betrachter als körperliches Wesen. Und die Mittel und Werkzeuge der Immersion werden immer ausgefeilter. Sie fragt, wie das Bild in den Kopf des Zuschauers kommt und wie sich das körperliche Verhältnis zwischen Zuschauerin und Leinwand gestaltet. Die Neurowissenschaften wissen heute, dass der Logos keine Erkenntnisse produziert ohne die Materie. Geist und Körper beides wirkt zusammen, um den Menschen zu dem denkenden und fühlenden Wesen zu machen, das er ist, nicht nur, weil auch ein Gehirn mit Sauerstoff durch die Lungen versorgt werden muss. Es gibt auch keine Erkenntnis ohne Gefühl. So interessiert sie sich für den Pornofilm und schiebt ihn nicht als frauenfeindlich in die Schmuddelecke. Sie interpretiert ihn im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Modernisierungsschüben und der damit verbundenen Veränderung von Wahrnehmungsapparat und innerpsychischen Instanzen. Das brachte sie zum wunderbaren Bild, dass der Pornofilm eine Art Volkshochschule kindlicher Sexualtheorien sei. Die quälende Szene in Bombshell, in der die Aspirantin vor den Augen ihres Chefs den Rock immer höher und höher ziehen muss, zeigt, dass das Patriarchat als Gesellschaftsform vielleicht abgeschafft ist, aber die Patriarchen sind trotzdem stärker denn je, zudem unberechenbarer und infantiler. Und wenn man Bombshell gesehen hat, sollte man noch einmal ihre Kritik zu Billy Wilders Das Apartment lesen, dann bekommt die #metoo Bewegung eine historische Tiefendimension.

In ihrem Buch über Breaking bad hat sie die doppelbödige Dialektik der Serie beschrieben. Der Künstler/Auteur einer neuen Designerdroge verliert sich in einer neuen Produktionsform, einer Serie, die ebenfalls aus einer neuen chemischen Mischung von ästhetischen Elementarteilchen besteht: aus literarischen Erzählformen, konventionellen Genres, neuen und alten Technologien. Die doppelbödige Dialektik, die die Figuren der Serie umtreibt, ist keine äußere Zutat, die in Figuren repräsentiert wird, sondern die Form der Serie selbst. Ihr Werk ist reich an Erkenntnissen, in denen sie den Film als gleichrangige Kunst mit den anderen Künsten und die Filmwissenschaft als Gesprächspartner auf Augenhöhe mit allen anderen Kunst- und Kulturwissenschaften etabliert. Aber der glühende Kern ihres Werkes ist die Beschäftigung mit dem Holocaust. Hier widmet sie sich der Frage der (un)möglichen bildlichen Darstellung der Shoa und knüpft damit auch an die vertriebene oder vernichtete deutsch-jüdische Tradition der Filmkritik und der theoretischen Beschäftigung mit Film an. Ihr Buch, in dem sie ihre Überlegungen zu Film und Literatur zum Judentum versammelt hat, trägt als einleitendes Motto den Satz: To whom it may concern. In der Hoffnung, dass wir alle es sind.

Wir stehen im Moment mitten in vielen politischen und sozialen Brüchen und der Veränderung unserer Wahrnehmung durch die Digitalisierung. Ich fürchte, dass wir noch längst nicht die letzten Tage des Patriarchats erlebt haben, weil der Kapitalismus mit dem Phallozentrismus politisch immer neue Mutationen eingeht. Fortschritt und Barbarei sind heute als Massenkultur miteinander verfilzt. Inzwischen spüren wohl jeder und jede, wie nah der Abgrund ist, wenn die Verbindung von Denken und Fühlen unterbrochen wird. Ein Geschmacksurteil, das man zwar klug und mit wohl dosierten Worten begründen kann, bleibt eine individuelle Lesart und steht auf tönernen Füßen, wenn es nicht mit dem Bemühen um eine Erkenntnis der Welt als Ganzer verbunden ist. Das, neben vielem anderen, kann man von Gertrud Koch lernen. Die Ansprüche des Begriffs sind unbequem, aber Intelligenz ist auch eine moralische Kategorie. Es geht darum, wieder die Faszination des Denkens gegen die Faszination des Bösen zu verteidigen, denn es hilft nur Denken, wo das Unheil sich breitgemacht hat. 1955 hat Umberto Ecco in einem Vortrag in New York mit dem Titel „Der ewige Faschismus“ gesagt, dass Faschismus in vielen Formen auftreten könne und weder an die Uniformen der SS noch an Mussolinis Schwarzhemden gebunden sei. Doch was Faschisten im Kern ausmache, sei, dass sie kritisches Denken verhindern wollten: Denken sei für Faschisten eine Form der Kastration. Auch das ist ein Baustein einer modernen Anthropologie.

Gertrud Koch, die seit 60 Jahren in der Filmwissenschaft und Filmkritik arbeitet, ist modern, denn man muss Modernität als eine qualitative Kategorie begreifen, nicht als eine chronologische. Sie ist so hellwach, dass sie, wie sie mir einmal gesagt hat, manche Glocken schon hört, bevor sie angeschlagen haben.
Aber sie ist eine freundliche Denkerin. Sie formuliert Vorschläge und gut begründete Überlegungen, keine Behauptungen. Sie hält ihre Überlegungen offen für das, was Leser und Leserin selbst dazu zu sagen haben. Für sie ist das Denken eine demokratische Angelegenheit. Lesen Sie Gertrud Koch. Es ist das Beste, was Ihnen passieren kann.

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