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Texte zu Frauen und Filmen
 

Jutta Brückner, 2018

Remake

Die Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Das wissen alle, aber die Frauen wissen es besonders. Als die Geschichtswissenschaft in der bürgerlichen Gesellschaft entstand, gab in ihr für Frauen keinen Platz, denn sie galten noch als geistig minderbemittelt. Männer waren Logos, Frauen Materie, ein Teil der Natur und deshalb geschichtslos. Weiblichkeit war alles, was der Mann nicht sein wollte, was die Gesellschaft aber brauchte. Nur der Mann war Subjekt, nur er verfügte über Verstand, Kontrolle und Kreativität. Frauen waren Teil der Welt der Affekte, des Begehrens und der Lüste, der Schönheit, der Anmut und Erotik, und was das alles war, wurde von Männern definiert. Die kulturelle Plastizität der weiblichen Rolle durch die Jahrhunderte wurde erst von der Frauenbewegung beschrieben und „Weiblichkeit als Maske“ genannt. Aber schon 1956 hat Günther Anders in seinem Buch „Die Antiquiertheit des Menschen“ geschrieben: „Hat nicht die Macht unserer Männerwelt, die in vielen Sprachen den ‚Menschen‘‚ zur bloßen Variante des Worts ‚Mann‘ gemacht hat, auch die Philosophie mitgeliefert? Sind nicht ‚Ich‘‚ und ‚Bewusstsein‘‚ Männer?“ Das Unbehagen war schon da.

Auch die Filmgeschichte wird von Siegern geschrieben. Vor zwei Jahren sollte ein runder Tisch der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien klären, warum es 40 Jahre nach der Frauenbewegung noch immer ein großes Missverhältnis gibt zwischen der Anzahl der Künstlerinnen und der Sichtbarkeit ihrer Werke in der Öffentlichkeit. Ich erinnerte daran, dass es in den 70er und 80er Jahren in Deutschland eine Generation von Filmemacherinnen gegeben hatte, deren Filme weltweit anerkannt waren. Erstaunt sagten viele der anwesenden Frauen: „Ja, wo sind die denn alle geblieben? Warum haben die keine Filme mehr gemacht?“ Die Antwort ist einfach: nach der Blütezeit dieser ersten Frauenfilmbewegung von ca 15 Jahren bekamen die Filmemacherinnen keine Produktionsmittel mehr. Ihnen geschah das Gleiche wie der Generation ihrer filmenden Vorgängerinnen in den Anfängen des Films. Auch deren Werke waren verschollen gewesen und wurden erst von der Frauenbewegung ausgegraben. Für Frauen gibt es in der Geschichtsschreibung einen Automatismus der Ausschließung, auch wenn sie zu ihrer Zeit erfolgreich waren.

Als die erste Frauenfilmgeneration Ende der 60er Jahre begann, entstand sie in enger Anlehnung an den politischen Impetus und die gesellschaftlichen Forderungen der zweiten Frauenbewegung. In Kurzfilmen, dokumentarischen Filmen und Videoarbeiten beschäftigten sich die filmenden Frauen mit dem, was auch die Feministinnen umtrieb: die geschlechtshierarchische Verteilung der Haus-, Erwerbs- und Kinderarbeit und die Kontrolle des weiblichen Körpers. Es ging um den gesellschaftlichen und privaten Alltag und um andere, realistische Frauenbilder in den Medien. Aber von Beginn an war die Bewegung nicht nur politisch, sondern auch ästhetisch. Ein Teil der Frauen forderte, dass Frauen die Möglichkeit hatten, jede Art von Film zu machen, die sie machen wollten, ebenso wie die Männer. In einer Übertragung des politischen Gerechtigkeitsfeminismus forderten sie das Recht auf Arbeit und schon damals eine Quote von 50 Prozent. Ein anderer Teil der Frauenfilmbewegung plädierte für den „feministischen Film“, der eine avantgardistische Ästhetik haben müsse. Diese Filme fanden ihren Platz nicht im Kino sondern im white cube, denn die Bildende Kunst ist für eine reflektierte Suche nach neuen Formen von Körperdarstellung offener als das Kino mit seinen vielfältigen Formen von Ikonisierung des weiblichen Körpers. Genau dies war das Problem für die Frauen, die feministische Spielfilme machten. In Narration, Dramaturgie und Inszenierung mussten sie Formen finden, eine solche Ikonisierung zu vermeiden und ihren Protagonistinnen Handlungsspielraum zu erobern, den im klassischen Kino nur der Mann hatte. Er war der Held, mal konservativ, mal kritisch, mal siegreich, mal im Scheitern schön, und qua Herkunft und Geschlecht berufen, alles einzurichten, was irgendwo irgendwie aus den Fugen geraten ist, vom Liebesproblem bis zum historischen Verhängnis, die Frau war sein loveinterest. Heute, wo es Frauen in ganz anderen Rollen im Film gibt, kann man sich die Herausforderung, vor der die Spielfilmerinnen der ersten Frauenfilmgeneration standen, kaum noch vorstellen.

Die Bewegung war vielfältig, es gab viele Feminismen und ihre Energie verteilte sich auf alle Schattierungen von politischer und künstlerischer Praxis, ästhetischer Reflexion und gesellschaftlicher Theorie. Der gemeinsame Kern aber war das Bewusstsein, dass die Gesellschaft geändert werden musste in allen politischen und kulturellen Bereichen. Sehr wichtig war zudem, dass die Bewegung von Anfang an begleitet wurde von einer psychoanalytisch fundierten Filmtheorie, für die vor allem ein Name steht: Laura Mulvey. Ich kann mich hier kurzfassen, denn Laura Mulvey ist anwesend und wird selbst dazu etwas sagen. Ihr legendärer Text hat uns gezeigt, wie die reale Ausschließung der Frau von der Macht auch ihre Repräsentation im Bild bedingt. Die Aufmerksamkeit verlagerte sich vom Inhalt des Films auf die Sprache der filmischen Repräsentation, auf Blickstrategien des Kinos und Subjektpositionen der Betrachterinnen. Wie kann die Frau sich des Blicks bemächtigen, der in der bürgerlichen Kultur ein männliches Macht- und Unterwerfungsmittel von Welt und Frau ist? Mulveys kritische Auseinandersetzung mit der hegemonialen Bilderwelt Hollywoods war mit der Hoffnung verbunden, dass in der feministischen Filmarbeit ein ‚anderes‘ Kino jenseits patriarchaler Vorstellungsmuster entstünde, ein Gegenmodell, ein ‚countercinema‘,
weil nur in Bildern, die an keine der üblichen filmischen Codierungen gebunden waren, die Machtverhältnisse einer phallokratischen Gesellschaft dargestellt und aufgelöst werden konnten.

In jener bewegten Zeit gab es ein Grundrauschen an Wohlwollen gegenüber den politischen und ästhetischen Forderungen der Frauen. In Deutschland hatte der neue deutsche Film seit Oberhausen ein Klima geschaffen für nicht kanonisierte filmische Formen. Frauen hatten neue Themen, in denen die weibliche Wahrnehmung der Welt zur treibenden Kraft wurde. Das Fernsehen wurde zum hauptsächlichen Träger der Frauenfilmbewegung, denn eine deutsche Filmindustrie existierte nur noch in Schrumpfform. Das Kleine Fernsehspiel im Zdf hatte eine heute undenkbare Freiheit. Als ich meinen ersten Film machte, fragte mich niemand, ob ich schon mal einen gemacht hätte und wo ich das Filmemachen gelernt hatte. Es reichte, dass ich ein Thema hatte, das noch nie behandelt worden war, das Leben meiner Mutter, und eine genaue Vorstellung von der Form. Ich bekam die Produktionssumme und alle Rechte, den Film auch ins Kino zu bringen und ich, eine reine Amateurin im Filmemachen, begann. Learning by doing. Dieses Schlaraffenland für Filmemacher und Filmemacherinnen war möglich nicht nur wegen des emanzipierten politischen Klimas, sondern auch, weil die Budgets klein waren. Das zwang geradezu zu Experimenten mit neuen Formen, oft befreit ja der Mangel die Phantasie. Damals sagte man über deutsche Filme, und nicht nur über die von Frauen, sie seien unterkapitalisiert und überphantasiert.

Filme, die sich nicht der herkömmlichen Semantik bedienen, sind nicht populär, sie sind Nischenfilme. Im Kino wurden die Schulmädchenreports gezeigt: Was Eltern nicht wissen – was Eltern nicht wissen dürfen – was Eltern nicht wissen sollen – was Eltern nicht wissen wollen, und so weiter, von Folge 1 – 13. Die Filmemacherinnen hatten ein weibliches Publikum in vielen Kultureinrichtungen, einige ihrer Filme kamen auch ins Kino, viele wurden auf nationalen und internationalen Festivals gezeigt, erhielten Preise und das Goethe-Institut sandte in seinen sog. Frauenfilmpaketen die Filme rund um die Welt. Der Leiter einer brasilianischen Kinemathek sagte mir damals, der deutsche Autorenfilm sei der Avantgardefilm der Welt und die Filme von Frauen hätten einen starken Anteil daran. Das Frauenfilmfestival von Sceaux, das dann nach Creteil umzog, hat seinen ersten Jahrgang komplett mit den Filmen deutscher Frauen gemacht. Und mit dieser starken internationalen Wertschätzung im Rücken sah die erste Generation der Filmemacherinnen ihre Zukunft als eine stetige Bewegung von kontinuierlicher Arbeit mit größeren Budgets, wie es für die männlichen Kollegen, die 10 Jahre früher angefangen hatten, der Fall gewesen war.

Aber sie sind kalt erwischt worden von den Veränderungen seit den 80er Jahren, denn ihre gesellschaftliche Basis brach weg. Mit dem Aufstieg des Neoliberalismus und der Globalisierung wurden aus der Gesellschaft Standortbedingungen mit vereinzelten Akteuren, die um ihren Arbeitsplatz kämpften. “There is no such thing as a society”, sagte Margaret Thatcher und Hollywood sekundierte: „The Winner takes it all.“ Alpha-Männer nahmen sich das Recht, alle anderen, die sie für die Dümmeren hielten, auszurauben. Der alles beherrschende Markt unterwarft sich auch die Kultur, die jetzt mit Zuschauerzahlen und den Maßstäben des Sports gemessen wurde. Film war jetzt vor allem ein Produkt der grobalisierten Entertainmentindustrie zwischen Kinderzimmer und Barbarei. Eine neue Generation von jungen Frauen nannte sich topgirls oder Alpha-Mädchen und wollte teilnehmen am Beutemachen. Dieser gut ausgebildeten Generation waren die von ihren Vorgängerinnen erkämpften gesellschaftlichen Verbesserungen selbstverständlich. Sie hielten die Frauenbewegungen und den Feminismus für überholt, Emanze wurde zu dem Schimpfwort, das es schon einmal gewesen war. Und das feministische Modell des counter cinema war für sie ein Kino der ästhetischen Zuschauervergewaltigung. Das Genrekinoübernahm die Herrschaft. In Leistungsgesellschaften fehlt es an Aufmerksamkeit für
Lebensgeschichten, die nicht in das Muster der bereits bestehenden bestens ausgebildeten Eliten und ihrer cineastischen Formen passen. In Komödien sonderten junge Frauen coole Sprüche ab und hopsten vergnügt durch die Lofts, als handele es sich um einen ewigen Kindergeburtstag. Nie erlagen sie in der Suche nach Mr. Right oder Mr. Big den noch immer ungelösten Asymmetrien im Geschlechterverhältnis, obwohl weiterhin Frauen und Männer auf den sexuellen und romantischen Märkten nicht zu gleichen Bedingungen agierten. Auch die Dichte an cineastischen Bluträuschen nahm rasant zu. In Thrillern mutierten die Frauen des früheren Film Noir zu Killerinnen, und ihre Bereitschaft zu töten qualifizierte sie für das Lob „starke Frauen“ zu sein. Die roten Teppiche, auf denen die frierenden Stars von den kreischenden Fans umlagert wurden, wurden zum Sinnbild für das Ende der feministischen Filmarbeit. Auch Künste sind Moden unterworfen. Und wenn die Meinung herrscht, dass eine gute Geschichte vom Außergewöhnlichen lebt, von der Personalisierung und dem stereotypen Gegensatz von Gut und Böse und Grautöne ebenso wie Relativierungen nur eine Geschichte schwächen, wie erzählt man dann von den realen Erfahrungen von Frauen?

Schon in ihrer Blütezeit waren die feministischen Filme immer auf ihre Aussagen reduziert worden. Die Kritiker stützten mit viel Empathie die Männer des deutschen Autorenfilms, aber sie interessierten sich nicht für die Filme der Frauen. Sie hielten sie für Ableger der politischen Frauenbewegung, nicht für einen Teil von Filmkunst und hatten keine Kriterien für deren eigene Ästhetiken und Handschriften, denn auch von den vielfältigen theoretischen Überlegungen der feministischen Filmwissenschaft hatten sie nichts wahrgenommen. Mit aller Härte schlug hier die Vorstellung der bürgerlichen Gesellschaft durch, dass Frauen keine Individuen sind und wenn sie überhaupt Kunst machen, dann minderwertige. Der Autorenfilm als Ganzer wurde im Neoliberalismus marginalisiert, doch die Filme von Frauen wurden vollkommen entsorgt zusammen mit dem Kollektiv „Frauenbewegung“, das man für überholt hielt. Der Erfolg beim Film als arbeitsteiligem Industrieprodukt setzt regelmäßiges Arbeiten voraus, aber die Frauen der ersten Generation waren noch nicht lange genug im Geschäft, als dass ihre Namen sich nachhaltig eingeprägt hätten. Ihre Filme wurden nicht in den Kanon des deutschen Films aufgenommen, sie wurden nicht an den Filmhochschulen gelehrt und auch die feministische Filmtheorie fand dort keinen Platz. Frauen hatten Geschichte geschrieben als politische und kulturelle Bewegung, doch seit den 90er Jahren war es so, als hätte das alles nie existiert.

Die Sieger schreiben die Geschichte, aber sie entkommt ihnen auch immer wieder in einer eigenen List, denn in ihr verbirgt sich auch immer das Negativ des Sichtbaren. Wenn man etwas über den Stand einer Gesellschaft wissen will, muss man betrachten, wie Frauen in ihr leben, sie sind die Seismographen. Feministische Reflexion war Sache einer Minderheit gewesen, aber die politischen Forderungen dieser Bewegung führten zu einer Umgestaltung der gesamten Gesellschaft. Immer mehr Frauen sind inzwischen bestens ausgebildet und nicht mehr bereit, sich zu bescheiden. Die Gesellschaft versprach ihnen alles und gab ihnen nur Häppchen. Dass der angesammelte Unmut vor einem Jahr in der Bewegung #metoo explodierte, ist bezeichnend, denn das Schicksal des weiblichen Körpers in einer sexualisierten Gesellschaft ist die Basis, worauf sich alle Frauen einigen können. Nach langen Jahren der Vereinzelung kann man jetzt wieder sehen: Es ist bedrohlich, was herauskommt, wenn Frauen sich zusammentun und ihre Erfahrungen vergleichen. #metoo wird zur Umwälzpumpe für das systemische Übel der phallokratischen Gesellschaften, das von den vielen expliziten und diffusen Formen von Gewalt und Abwertung bis zur gläsernen Decke reicht. Über die alte Forderung nach 50 Prozent lacht jetzt niemand mehr. Und nur die persönliche und institutionelle Feigheit verhindert ihre Durchsetzung in Deutschland, einem Land, in dem noch immer die unbewusste Vorstellung herrscht, dass Frauen in erster Linie Mütter sind und keine mündigen Individuen.

Auch viele Männer sehen heute, dass dem deutschen Film in einer seiner ewigen Krisen mehr weibliche Narrative fehlen, was die Themen, die Machart, den Blick der Filme auf die Welt betrifft. #metoo ist so von einer Protestbewegung gegen sexuelle Übergriffe zu einer Emanzipationsbewegung für die Sichtbarkeit von Frauen geworden. Die Diversität der Bilder und Erzählungen, die heute gefordert wird, entsteht nur, wenn viele Frauen künstlerisch arbeiten können. Die Frage der ersten Frauenfilmbewegung, ob Frauen alles machen sollen oder nur feministische Filme, hat sich erledigt. Frauen wollen Filme machen, egal welche, und dazu haben sie ein Recht. Darunter werden dann gute Filme sein und nicht so gute. Aber wenn Frauen als Filmemacherinnen präsent sein werden in Spielfilmen, Serien, dokumentarischen und essayistisch-experimentellen Filme, und die Gefängnisse menschlicher Biografien öffnen und Selbstbestimmung zeigen, ist die gebotene demokratische Teilhabe eingelöst.

Aber damit bekommt die alte Frage, was feministische Filmarbeit sein kann, neue Brisanz. Was kann ihr Kern sein in der entfesselten, globalisierten, sexualisierten und digitalisierten Zivilisation zwischen dem gepflegten Arthousefilm mit Autorencharakter, den gewaltdurchtränkten Blockbustern und dem Suchtfaktor der Serien?

Feministische Filmarbeit hatte immer einen starken Anteil von ästhetischer und gesellschaftlicher Reflexion. Feminismus ist nicht einfach eine Gewerkschaft der Frauen, sondern ein kulturelles Interpretationssystem, dessen sich heute nicht nur Frauen, sondern auch Männer bedienen können und zum Teil auch tun. Um die Kriterien wird jetzt gestritten. Ist es feministisch, die Reise des männlichen Helden, das noch immer bestimmende Kinonarrativ, einfach zu ersetzen durch die Reise der weiblichen Heldin und alles sonst bleibt beim Alten und alles ist gut? Wonderwoman oder auch die Heldin von Hungergames aus den Tributen von Panem bieten Empowerment für junge Mädchen, die ihren Weg suchen, wenn man ihnen zuhört, dann sieht man die Begeisterung, mit der sie sagen: „Frau kann alles.“ Und Schaulust und selbstgenügsames Fasziniertsein für die, die meinen, auch eine starke Heldin müsse sexy und sinnlich anregend sein. Aber eine feministische Lektüre sieht, dass diese beiden Heldinnen nur deshalb so mächtig sind, weil sie außerhalb der sexuellen Ordnung stehen. Die Vorstellung von einer Frau, die gleichzeitig über Macht und Sex verfügt, ist noch immer ein Tabu, denn Sexualität ist ein unsicheres Terrain, voll von Ambivalenzen und Widersprüchen zwischen Macht und Erotik, Lust und Zwang. Wie weit skann der „feministische Film“ den bisherigen Kriterien entsprechen?

Heute verändern die Technologien der Digitalisierung, der Invitro-Reproduktion, der Gentechnik und der künstlichen Intelligenz menschliche Körper und menschliche Beziehungen rasant. Als das Kino in die Welt kam, erkannte Walter Benjamin in diesem neuen Medium das Training zu einer neuen Wahrnehmung, damals war es das hektische Gezappel und die schnellen Schnitte, das die Leute fit machte für ihre neue urbane Gegenwart. Laura Mulvey analysierte den male gaze als Blickparadigma, denn die gesenkten Augen der Frau waren in der Wirklichkeit und ihrem filmischen Abbild der Beweis für ihre Ehrbarkeit. Und auch wenn Mulveys Theorie fortgeschrieben und modifiziert wurde, war die Konzentration auf den Blick das beherrschende Paradigma, so wie auch die Augen das herrschende Sinnesorgan der Moderne waren. Die Neurowissenschaften wissen heute, dass der Logos keine Erkenntnisse produziert ohne die Materie. Geist und Körper beides wirkt zusammen, um den Menschen zu dem denkenden und fühlenden Wesen zu machen, das er ist, nicht nur, weil auch ein Gehirn mit Sauerstoff durch die Lungen versorgt werden muss, es gibt auch keine Erkenntnis ohne Gefühl. Der Mensch ist kein abstraktes, denkendes Wesen, sondern zu allererst ein Körper mit vielen Tausenden von Funktionen. Der abstrakte Mensch der bürgerlichen Philosophie, das ist der Roboter der künstlichen Intelligenz, unser schon heutiger und vermehrt künftiger Mitbewohner und Mitakteur. Er ist makellos. Er ist gefühllos und er ist geschlechtslos. Der lebendige Mensch hat immer ein Geschlecht, oder auch zwei oder eines, mit dem er nicht zufrieden ist. Denn die normative Vorstellung löst sich gerade auf, dass es zwei unterschiedliche Geschlechter gebe und jedem Körper nur eines zugewiesen sei.

Der denkende und fühlende Körper bestimmt heute unser Menschenbild. Und auch in #metoo ist auch nicht nur die Suche nach einer neuen Semantik der Liebe verborgen, sondern auch nach einem neuen Menschenbild. Als geschlechtlicher, aber asexueller, als gentechnisch oder sexuell modifizierter, als behinderter, bedürftiger oder beschädigter Körper oder auch als Cyborg ist der denkende und fühlende Körper die Antwort auf die Frage: Was ist der Mensch? Solche Fragen stellen die Sciencefictionfilme in den Genrekonventionen. Aber auch die rumänische Regisseurin Adina Pintilie stellt sie in ihrem Film „Touch me not“. Die Jury der Berlinale verlieh dem Film den Goldenen Bären mit der Begründung, bei diesem Film handele es sich um die Zukunft des Kinos. Das Unverständnis, auf das der Film und auch die Jurybegründung bei vielen getroffen ist, zeigt, dass er einen Nerv berührt hat. Die Regisseurin, die auch als bildende Künstlerin arbeitet, wehrt sich gegen alle üblichen Genrebezeichnungen wie fiktionaler Film, Dokumentarfilm, Experimentalfilm und nennt ihn einen Recherchefilm, einen Prozessfilm, ein sehr persönliches Forschungsprojekt für uns alle, nicht einfach nur einen Film, sondern eine Selbstbefreiung von Voreingenommenheiten und Rezepten – in Bezug auf den Film als Medium. Ähnliche Sätze hätte auch eine der Pionierinnen der ersten Frauenfilmgeneration sagen können, um ihre Filmarbeit zu beschreiben. 1975 ist auch der Film von Chantal Akermann „Jeanne Dielman“ mit Unverständnis aufgenommen worden. Die Handlung verläuft über drei Tage und zeigt den Alltag wie Kaffeekochen, Kartoffelschälen, den Abwasch oder das Abendessen einer Hausfrau mit ihrem Sohn in nicht endenden Einstellungen. Aber es wird nicht einfach eine Geschichte einer Hausfrau erzählt, die sich das Geld mit Prostitution verdient und in dem Moment, als sie einen ungewollten Orgasmus hat, ihren Kunden mit einer Schwere ersticht. Sondern der Film, heute ein Klassiker des feministischen Films, hat in seiner Form eine Recherche angestellt über die Materialität und Alltäglichkeit im Leben einer Frau.

Wenn man heute nach dem Körper fragt, ungeachtet, ob es ein weiblicher oder ein männlicher oder ein Transkörper ist, seinem Ekel, der Wut, dem Trost und der Fremdheit, wie Pintilies Protagonisten sie erfahren, fragt man nach der Zukunft der Gesellschaft, in der Menschen noch mit Menschen zusammenleben wollen. Frauen sind ein Teil davon, sie haben keinen eigenen Planeten, den sie mit Rosen schmücken können. Ich fürchte, dass wir noch längst nicht die letzten Tage des Patriarchats erlebt haben, weil der Kapitalismus mit dem Phallozentrismus politisch immer neue Mutationen eingeht. Jede Welle der Frauenbewegung hatte ihr großes Thema. Die erste Frauenbewegung hat Bildung für Frauen möglich gemacht, die zweite das Wahlrecht, die dritte die gesamten Gewaltverhältnisse thematisiert und mehr Frauen in viele Berufe gebracht. Vielleicht ist „Touch me not“ der feministische Film der Gegenwart, wenn man Feminismus so begreift, wie ich das tue: als ein kulturelles Interpretationssystem. Der Film öffnet eine Tür. Was dahinter liegt, wissen wir noch nicht. Aber als Wegweiser könnte ein Satz der Kulturtheoretikerin Gerburg Treusch-Dieter dienen: „Weiblich ist, was die Arbeit macht für den Geist.“

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