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Remake

von Jutta Brückner, 2018

Texte zu Frauen und Filmen
 

Jutta Brückner

Kunst und Leben
Filme von Ella Bergmann-Michel

Das filmische Werk von Ella Bergmann-Michel (1895–1971) ist schmal: fünf kurze Filme. Wie sollte es auch anders sein! Der Aufbruch der Frauen in den Beruf der Künstlerin hatte ja gerade erst begonnen, seit kurzer Zeit erst waren sie als Studentinnen an den entsprechenden Akademien zugelassen. Heute entdecken wir Malerinnen, Architektinnen, Schriftstellerinnen wieder, deren Werke zu ihren Lebzeiten unzureichend gewürdigt worden und dann in Vergessenheit geraten sind.
Ella Bergman-Michel, in Paderborn geboren, studierte ab 1914 an der von Henry van de Veldes reformerischen Ansätzen geprägten Großherzoglichen Sächsischen Hochschule für Bildende Künste in Weimar, einer Vorläuferin der Bauhaus-Universität. Mit ihren Collagen aus Holzleisten, Papier- und sonstigen Materialresten gilt sie heute als Pionierin der klassischen Moderne, die besonders geprägt war vom Dadaismus, Surrealismus und vom Bauhaus. Ihr Weg zum Film führte über die Fotografie. Es gab in der Zeit der Weimarer Republik erstaunlich viele fotografierende Frauen. Das war Teil der neuen Freiheit, wie das Fahrrad- und Autofahren, die fließende Silhouette der Kleidung ohne Korsett und das Recht zu wählen. Lange Zeit war der direkte weibliche Blick als Zeichen von Kühnheit und Schamlosigkeit gedeutet worden, und die Frauen versteckten sich lieber hinter den Gardinen. Wurde eine ehrbare Frau angeschaut, schlug sie die Augen nieder oder wich dem Blick aus. Nur Prostituierte blickten „frech“, waren damit aber auch sofort gebrandmarkt. Blick und Sex sind eng miteinander verbunden. Als Frauen sich im 19. Jahrhundert Belladonna in die Augen träufelten, weil es die Pupillen weitet und den Eindruck feuchter Augen erweckt – was damals als schön galt –, verwandelte sich das Auge aus einem Sinnesorgan in einen Teil des Körpers, der bewundert werden sollte. Jetzt aber blicken die Frauen plötzlich klar und direkt auf die Welt.

Bergmann-Michel beobachtete durch die Fotokamera das Leben um sich herum: ihre Kinder, die Straße vor ihrem Haus und vor ihrem Atelier in Frankfurt. Sie ging nicht den Weg, den einige ihrer männlichen Kollegen wählten, die die Prinzipien der bildnerischen Abstraktion auf den Film übertrugen und sich im „absoluten Film“ mit Wellen, Rhythmen, Farben beschäftigten oder das Filmmaterial wie eine Leinwand bearbeiteten: Film als Kunst. Bergmann-Michel entdeckte das Leben als Motiv für ihre Kunst. Wenn sie sich auf den Rat ihres Freundes Joris Ivens hin eine tragbare 35mm-Kamera besorgte, dann betrachtete sie sich, ebenfalls auf seinen Rat hin, nicht als Amateurin, sondern sofort als professionelle Filmregisseurin. Das war kühn. Frauen gingen damals bestenfalls als Gefährtinnen von Künstlern in die Geschichte ein; mit ihrem eigenen Werk werden sie erst heute wiederentdeckt. Wenn sie Glück haben.

Zu Beginn der dreißiger Jahre kam niemand, der genau hinsah, umhin, die aufgeheizte politische und die drückende soziale Situation wahrzunehmen. Bergmann-Michel war Mitglied der linken kulturellen Vereinigung „Das Neue Frankfurt“. Die dieser angeschlossene, in Berlin ansässige „Liga für unabhängigen Film“, zeigte, was im Zuge der Einführung des Tonfilms und der seither explodierenden Unterhaltungsindustrie verdrängt worden war: internationale Dokumentar-, Bildungs- und Avantgardefilme. Die Angehörigen der Liga planten außerdem die Herstellung eigener Filme, die informativ und aufklärerisch sein sollten. Man hatte keine Angst, lehrreich zu sein.
Mir fällt dabei sofort das Jahr 1970 ein, als die „Freunde der Deutschen Kinemathek“ ein Kino in der Welserstraße 25 in Berlin-Schöneberg gründeten, um Filme zu zeigen, die auch damals vergessen waren. Offensichtlich muss diese Anstrengung immer wieder von neuem unternommen werden, um der Übermacht der kommerziellen Filmindustrie entgegenzuwirken.

Vor diesem Hintergrund muss man Ella Bergmann-Michels Filme über ein modernes Altenheim (WO WOHNEN ALTE LEUTE, 1932), über fliegende Händler ohne Gewerbeschein (FLIEGENDE HÄNDLER IN FRANKFURT AM MAIN, 1932) und eine Erwerblosenküche (ERWERBSLOSE KOCHEN FÜR ERWERBSLOSE, 1932) sehen. Es sind Filme, die sich, gedreht mit einer beweglichen Kamera, mit Bereichen des Alltags beschäftigen, die sonst nirgendwo vorkamen. Der Film WO WOHNEN ALTE LEUTE über das im Bauhausstil errichtete Budge-Heim in Frankfurt am Main ist gewissermaßen ein Auftragswerk des mit ihr befreundeten niederländischen Architekten Mart Stam. Das Gebäude galt als Vorbild für viele Bauprojekte im Bereich der Altenpflege. Kameraschwenks über die Fassaden, über die Gänge der Anlage, über Raumlösungen und Zeichnungen der Innenaufteilung hinweg machen das kurze Dokument zu einem Architektur- und Werbefilm zugleich.
In der sauberen, hellen, funktionalen Umgebung des Neubaus leben Menschen, vor allem Frauen, deren Kleidung noch ganz dem Stil des ausgehenden 19. Jahrhunderts entspricht. In diesem Heim, das mitten auf einer Wiese liegt, treten sie in die Moderne des frühen 20. Jahrhunderts ein, mit ihrer Tendenz zur Rationalisierung, Effizienz und der Notwendigkeit, sich Abläufen einzupassen, die von außen bestimmt werden. Vieles erinnert an eine moderne Behörde. Ein Gong ertönt, und alle Türen öffnen sich für das gemeinsame Mittagessen. Der Film ist das frühe Dokument einer sozialen „Hygiene“, deren Ambivalenz wir heute erkannt haben: Das Wohnen in einer totalen Institution, wie ein Heim es de facto ist, entmündigt. Wenn in der Schlusseinstellung alle Bewohnerinnen und Bewohner auf ihre Balkone treten und in Richtung der sich entfernenden Kamera winken, sieht man jedoch keine passiven „Objekte“, die wie Darsteller ihres eigenen Leben agieren und dabei beobachtet werden. Zusammen mit der Filmemacherin haben sie sich auf eine Gemeinschaftsarbeit eingelassen, die damals innovativ und fortschrittlich war.
Auch ERWERBSLOSE KOCHEN FÜR ERWERBSLOSE, Ella Bergmann-Michels Werbefilm für eine Erwerbsloseninitiative, war ein Auftragswerk. Er endet mit der Bitte um weitere Spenden und der Angabe einer Kontoverbindung. Wohlfahrtsempfänger bilden eine lange Schlange in einem Frankfurter Hinterhof, sie kommen mit Waschkörben und Eimern. Es sind verschämte Arme, ihre Armut sieht man ihnen nicht an; ihre Kleidung ist keineswegs zerlumpt, man erkennt an ihr vielmehr das große Bemühen um Sauberkeit. Die Bilder wirken wie das dokumentarische Unterfutter für MUTTER KRAUSENS FAHRT INS GLÜCK (1929, Regie: Phil Jutzi) und KUHLE WAMPE ODER: WEM GEHÖRT DIE WELT? (1932, Regie: Slatan Dudow). Es hatte damals in Frankfurt schon Hungertote gegeben.
Produktionstechnisch war der Film die Leistung einer weiblichen Ich-AG. Große Filmgesellschaften hatten den Auftrag abgelehnt, mit der Begründung, dass die Kosten für den Lampenpark zu hoch seien. Bergmann-Michel filmte mit drei 1.000-Watt-Lampen im Rucksack und legte den Negativfilm in dunklen Kellern oder Fotogeschäften ein. Bis heute ist dieses Arbeiten außerhalb oder am Rande einer Industrie, in der das große Geld zirkuliert, bezeichnend für die Situation von Filmemacherinnen in Deutschland.
Wir betrachten die Filme von Ella Bergmann-Michel heute als Dokumente vergangener Lebenswelten. In ihrer Reportage über fliegende Händler ziehen Männer Karren mit Gemüse, der Hund im Geschirr zieht mit; Frauen verkaufen winzige Vorräte an Blumen – die Bilder erinnern an Armutsszenen aus der implodierten Sowjetunion. Man sieht diesem Film die Schwierigkeit an, mittels dokumentarischer Bilder eine Erzählung zu entwickeln, die ohne Protagonisten auskommt. Oft bleibt es bei einer bloßen Aneinanderreihung von Impressionen oder dem ständigen Schnittwechsel von einem Motiv zu anderem. Bergmann-Michel ließ Vorgänge nicht einfach in ihrer Vollständigkeit stehen, sie wollte nicht langweilen mit ihren Alltagsmotiven. Dass wir heute mit neugierigen Augen gerade auf diesen Alltag blicken als Zeugnis vergangener Zeit, konnte sie damals nicht wissen.
Wenn der Rummelplatz der Großmarkthalle auftaucht, wird ihre Kamera freier, und ihr Talent für poetische Bilder wird erkennbar, für stille Momente. Man spürt etwas von der Zirkuslust, die damals für junge Leute ein Versprechen von Freiheit und Abenteuer war.
Wir sind heute daran gewöhnt, dass sich die Perspektive der Kamera in politischen und sozialen Reportagen immer auf Augenhöhe mit den Protagonisten befindet, extreme Perspektiven werden vermieden. In Ella Bergmann-Michels Filmen, speziell an Kamerabewegung, Schnitt und Montage, erkennt man den Einfluss des sowjetischen Avantgardefilms. Bergmann-Michel fügte diesen Elementen ihren besonderen Blick auf Menschen und Dinge im Abseits hinzu, und es ist, als erinnere sich dabei die Filmemacherin an die Malerin, die Bergmann-Michel ja auch war. In den Sequenzen zum Rummelplatz fängt sie die Atmosphäre ein, die dort herrscht. Zu sehen sind viele organische Formen neben geometrischen. Vor allem interessierte die Regisseurin sich hier für Licht und Schatten, die Elemente der Poesie.
Der Film FISCHFANG IN DER RHÖN beginnt mit opulenten Impressionen von Wasser. Diese Bilder könnten auch von Andrej Tarkowskij stammen. Hier hat Bergmann-Michel ihre Elemente beisammen: Licht, Schatten, Organisches und Bewegung. Von hier aus wird deutlicher, dass sie in ihrem Filmverständnis den Spagat macht zwischen politischer Parteinahme und der Schilderung von Atmosphäre, zwischen Kunst und Dokument. Schon in ihren Vorbildern László Moholy-Nagy, Joris Ivens, Basse, Robert J. Flaherty und René Clair ist dieser Spagat angedeutet. Aber in ihrem letzten, unvollendet gebliebenen Dokumentarfilm WAHLKAMPF 1932 (LETZTE WAHL) gelingt ihr eine subtile Synthese dieser beiden unterschiedlichen Bild- und Montagevorstellungen. Er ist der bildnerisch am stärksten durchdachte ihrer Filme, und die Montage ist eine intellektuelle: Ein Plakat wurde von einer Litfaßsäule heruntergerissen; nach dem Schnitt ist eine Hakenkreuzfahne zu sehen. Dann ein Spielplatz mit vielen Kindern; das Bild nach dem Schnitt zeigt die Fahne mit den drei parallelen Streifen, die Liste 3, die der Kommunistischen Partei Deutschland (KPD). Eine offensichtlich politisierende Menge steht vor auseinanderdriftenden Straßenbahnschienen, die die unterschiedlichen Vorstellungen bildlich andeuten.
Auch atmosphärisch ist der Film stark. Immer wieder zeigt er Menschen, die in Gruppen beieinanderstehen, warten, reden, ratlos wirken. Bergmann-Michel agitiert nicht. Sie beobachtet, analysiert in Bildern. Ein bemerkenswertes Detail: Das Plakat einer Partei (es ist mir nicht gelungen zu erkennen, um welche es sich handelt) wendet sich an die Frauen und beschimpft sie: „Ihr dummen Ziegen!“
Während der Dreharbeiten wurde Bergmann-Michel verhaftet, ein Teil des Filmmaterials wurde vernichtet. Zwar wurde sie anschließend schnell wieder freigelassen, aber weil sie schon seit längerer Zeit den Eindruck hatte, von der Polizei beschattet zu werden, zog sie sich aufs Land zurück. Filme drehte sie keine mehr.
Was für ein Werk hätte dieser letzte Film werden können! Die Vertreter des NS-Staates beendeten Ella Bergmann-Michels Entwicklung zu einer großen Dokumentarfilmerin. Sie war eine denkende Künstlerin. Diese Qualität erregt bei vielen in Deutschland von jeher Misstrauen.
Nach dem Krieg, im Jahr 1947, schrieb Bergmann-Michel an ihren Freund Kurt Schwitters, dass sie gerne ihre Bilder, die man ohne ihr Wissen in die USA verschenkt hatte, gegen Schuhe für ihre Tochter tauschen wollte. Sie war nicht wirklich böse über diese Enteignung. Es war damals nichts Ungewöhnliches, dass man mit den Werken von Frauen so umging. Bergmann-Michels Résumé: „Ich lese meine Seiten und finde, Menschliches ist wichtiger als die Kunst …“

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