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Remake

von Jutta Brückner, 2018

Texte zu Frauen und Filmen
 

Jutta Brückner

„Die Maske ist Fleisch geworden“

„Die Maske ist Fleisch geworden“, ist ein betörend formulier­tes moralisches Verdikt über unauthentisches Verhalten. Es be­schreibt, wie die Verstellung, aus welchen Gründen auch immer Waffe im gesellschaftlichen Kampf, unauflösbar mit der „wah­ren“ Person verschmilzt, bis die äußere Lüge die innere Wahr­heit erstickt. Der Tod wächst von außen nach innen. Vorausge­setzt wird, dass wahres Verhalten immer authentisches Verhalten ist und die authentische Geste, sofern sie überhaupt noch mög­lich ist, ihren Ursprung nicht im gesellschaftlichen Raum hat, sondern in der Intimität und Privatheit des eigenen Körpers. Vorausgesetzt wird damit auch, dass die Gesellschaft Ort des privaten Todes ist. Nicht Möglichkeit, sondern Verhinderung. Und dieser Tod wächst aus der Welt hinein ins Fleisch.
Diese Haltung ist den Frauen vertraut, denn sie ist die theo­retische Essenz der Sozialisationstheorien, die die Verformun­gen und Beschneidungen der Möglichkeiten von Mädchen aufzei­gen: oft beschriebener Vorgang, wie der Frauenkörper durch die zivilisierenden Bemühungen der Umwelt modelliert wird nach der ontologischen Aussage über das Wesen der Frau. Wenn hier aber die Unterdrückung Fleisch wird, dann wird der ganze Körper zur Maske. Maske der Weiblichkeit, von der zu befreien heißen wür­de, sich selbst zu enthäuten. Die großen Probleme mit dem Kör­per, die die Frauen besonders, aber nicht nur sie heute haben, verkörpern sich vielleicht extrem in dem Augenblick, wo am FKK-Strand die nackten Körper, die sich so große Mühe geben, sich als Körper auszustellen, zu Masken der Nacktheit werden.
Man kann das als den vorläufigen Endpunkt einer Entwicklung sehen, die im 19. Jahrhundert mit dem zunehmenden Verschwinden der klaren Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit be­gonnen hat, wie Richard Sennett es beschrieben hat. Seine Thesen sind angefochten worden, sind vielleicht anfechtbar. Aufregend für Frauen bleibt der von ihm beschriebene Vorgang trotzdem: die intime Verklebung von Wesen und Körper als Form und Materie in der geformten Materie „Person“. Das ist ein relativ junges Phänomen. Die Beziehung zwischen Körper, Wesen, Sprache, Mas­ke, Kleidung, Öffentlichkeit und Privatheit sah im 18. Jahr­hundert anders aus. Um 1750 war das Kostüm ein Zeichen, an dem sich der gesellschaftliche Rang eines anderen ablesen ließ. Tressen, Bänder waren nicht einfach Schmuck oder Zierde, son­dern ein aufwendiges willkürliches Kennzeichen, das den Rang des Einzelnen in der Gemeinschaft beschrieb. Deswegen wählte man das Kostüm nicht, um die natürliche Vollkommenheit der Glieder, die Schönheit des Halses, die Zierlichkeit der Gelen­ke zu betonen, sondern um Art und Ort zu beschreiben, den das Individuum innerhalb der Gemeinschaft einnahm. Kleidung hatte so­ziale Funktion. Sie war Ordnungselement, nicht Sinnträger.

Von heute aus gesehen, waren die Perücken der Damen unkleidsam und kurios. Der Pouf au Sentiment war so hoch, dass seine Trä­gerinnen in die Knie gehen mussten, um durch eine Tür zu kom­men. Das ganze Arrangement war ein einziges riesiges Orna­ment. Der Körper, an dem die Drapierungen befestigt wurden, war Kleiderpuppe. Und nichts von dem hatte einen Bezug auf ein Wesen, ein Selbstbild, das sich in der Wahl dieser Kleidung ausdrücken wollte. Nase, Stirn und Kinnpartien waren mit ro­ter Schminke eingerieben. Es gab kunstvolle Perücken von er­heblichen Ausmaßen. Zur Haartracht der Frauen gehörten mitun­ter genauestens gearbeitete Schiffsmodelle, die ins Haar ge­flochten wurden. Fruchtkörbe oder ganze, von kleinen Figuren dargestellte historische Szenen. Frauen wie Männer schminkten ihre Haut entweder kräftig rot oder matt weiß. Man trug Mas­ken, aber nur um des Vergnügens willen, sie immer wieder ab­nehmen zu können. Man wurde zur Figur in einer Kunstland­schaft.
Durch die Perücken wurde die Kopfform und ein großer Teil der Stirn verdeckt. Der Kopf war bloß Träger des wahren Objektes der Aufmerksamkeit: der Perücke oder der Frisur. Zusätzlich zu allem wurden noch Schönheitspflästerchen benutzt. In London brachte man sie entweder auf der linken oder der rechten Wange des Gesichts an, je nachdem, ob man Whig oder Tory war. Die Pariserinnen machten es anders: Am Augenwinkel bedeuteten sie Leidenschaft, mitten auf der Wange Heiterkeit, an der Nase Keckheit, und die Mörderinnen – so nahm man an – trugen die Schönheitspflästerchen auf den Brüsten. Hier wird der Zeichen­charakter des gesamten Aufbaus besonders deutlich. Vorstellbar ist, dass wie in einem gigantischen Kostümfest die Frauen von Montag bis Freitag jeden Tag andere Charaktereigenschaften signalisierten, ohne dass damit die Frage aufgekommen wäre, wer sie denn nun wirklich seien. Denn diese Zeichen ge­sellschaftlicher Kommunikation wurden nicht symbolisch als Ausdruck einer tieferen persönlichen Wahrheit gedeutet. Das Spielen mit externen Selbstbildern blieb ein Spiel vergleich­bar dem, was sich zu jener Zeit in den Theatern abspielte, wo die Zuschauer zum Teil auf der Bühne saßen oder herumgingen. Der Graben heiliger Ehrfurcht zwischen einem stummen Publikum und einer das wahre Leben verkörpernden Bühne hatte sich noch nicht aufgetan.
Spielen mit externen Selbstbildern bedeutet Distanz. Distanz der Person zu den Arrangements, die sie in ihrem Äußeren trifft. Das bedeutet: Fähigkeit zum Wechsel, zur rhetorischen Geste, zum Gefühlsausdruck in allgemein anerkannten Formen, in denen über Liebe, Mitleid, Furcht gesprochen oder agiert wer­den konnte. Ausdruck war immer Folge von Ausdrucksarbeit. Ar­beit an der Geste und an der Sprache. Vor-verbales und vor­gestisches Empfinden, die brodelnde Masse von Unerlöstem vor der Form existierte gesellschaftlich nicht. Das Wesen des Zei­chens ist seine Wiederholbarkeit ohne Verlust an Glaubwürdig­keit. Schmerz über einen Tod zu äußern in der gesellschaftlich akzeptierten Form, war kein Mangel an individuellem Leid.
Alle diese Sätze sind für das Empfinden ein Jahrhundert später nicht mehr so nachvollziehbar. In einem Prozess, in dem sich die Grenzen zwischen Intimität und Öffentlichkeit immer mehr verwischen, taucht der Glaube auf, dass die Persönlichkeit an sich expressiv sei, keine gesellschaftlichen Konventionen von Expressivität nötig habe und jede Ausdrucksarbeit nur eine Verfälschung eines ursprünglichen Gefühls sein könne. Gefühl und durchschaubarer, wiederholbarer Formwille treten in einen Gegensatz. Im Zweifelsfall ist das hilflose Schweigen oder Stammeln mehr Beweis von Authentizität als der gelungene Aus­druck. Und dieser ist „wahr“, ganz gleichgültig, in welchem Rahmen, in welcher Umgebung er fällt, oder er ist „falsch“, das heißt Maske. Die Züge dieses Wortes verzerren sich. Maske bedeutet nicht länger Ermöglichung von Spiel, sondern Verhinderung von Authentizität. Um authentisch zu sein, muss die Person sich be­mühen, etwas, das tief in ihr drin ist, wie einen verborgenen Schatz nach außen zu holen, um dort im „Außen“ das innere We­sen zu spiegeln. Das Wesen wurde der Erscheinung immanent. Die Erscheinung war nicht mehr das Zeichen, das relativ beliebig geändert werden konnte, sondern Symbol einer inneren Wahr­heit. Im Spiel geht es um Möglichkeiten, nicht um das Einzig­artige. Wenn meine je individuelle Wahrheit sich in mir ver­körpern muss, dann wird der Ausdruck zur Qual, denn ihn zu fin­den oder zu verfehlen, entscheidet darüber, ob die innere Sprach- und Formlosigkeit sich im Ausdruck erlöst. Der Aus­druck selbst aber verlor allen gesellschaftlichen Charakter. Zum sozialen Ort von Identität wurde der Körper. Der Preis: Verlust an Fantasie. Und Verlust an gesellschaftlichem Han­deln, denn Persönlichkeitsentfaltung ist jetzt Expression, nicht Kommunikation.
Der innere Mensch ohne Abstand zu seinem äußeren Erscheinungs­bild war dazu verdammt, sich zwangsläufig in jeder Geste zu enthüllen. Wenn die eigene Wahrheit in der innigen Verbindung von Sein und Erscheinung mühelos entzifferbar wird, drängt es sich auf, sich so unexpressiv wie möglich zu verhalten, um niemandem Rückschlüsse zu erlauben. Das hieß: Die Expressivi­tät zog sich in minimale Details zurück: die Art, wie ein Spitzentuch gehalten wurde, wie ein Mantel geknöpft, ein Kra­wattenknoten gebunden wurde. Diese Miniaturisierung bedeutete ein ungeheures Maß an physischer Einschränkung, besonders für die Frauen. Der Unterschied zwischen einer ehrbaren Frau und einer Kokotte war nicht an der Kleidung auszumachen. Und wenn nur ein zu langer Blick oder eine Handbewegung die käufliche Frau von der nicht käuflichen unterschied, dann musste sich die nicht käufliche äußerster Beherrschung bei der Körperartikula­tion unterwerfen. Wenn die Gesellschaft der Meinung ist, dass sich in einem Augenaufschlag sexuelle Zügellosigkeit verbergen kann, dann war der einzige Schutz die völlige Unexpressivität, denn jede unbewusste Bewegung konnte geheimste Gedanken enthüllen. Die Welt dieser immanenten Wahrheiten war um so vieles ange­spannter als die des Ancien Regime, in dem die Distanz zwischen dem Erscheinungsbild und dem Wesen immer gewahrt blieb. Jede Geste, in der die Person nur „sie selbst“ sein sollte, war umlagert von dem Zweifel: Bin ich das, was ich darstelle? Stelle ich dar, was ich wirklich bin oder sein will? Die un­heilvolle Verklebung von Innen und Außen in der Erscheinung als authentischer Selbstmanifestation führt zum Verlust des Gefühls, dass die Welt plastisch ist.
Auf dem Fluchtweg nach innen, auf dem sich dieses Ich, das sich nicht jedem Blick verfügbar machen will, zurückzieht, bleibt die Haut zurück wie früher die Kleidungsstücke. Viele der von den Grimms gesammelten Märchen erzählen diesen Vor­gang: die verwunschene Königstochter, die beim Baden ihre an­gehexte Haut am Brunnenrand zurücklässt, um sich in wenigen Augenblicken zu enthüllen als die, die sie wirklich ist. Nur sind in diesen mythischen Körperodysseen die Zaubersprüche im­mer durch Gegenzauber rückgängig zu machen. In Therapien taucht immer wieder der Verdacht auf, gar nicht im eigenen Körper beheimatet zu sein. In diesen Ängsten wird die Spaltung drastisch zwischen einer gesellschaftlich gewordenen Haut und einem verstörten Ich, das in den depressiven Momenten, aufge­sogen von dem rotierenden Schwindel der inneren leeren Gren­zenlosigkeit, wohl unermeßliche Wegstrecken zwischen sich und dieser Haut sehen mag. Und sie doch nicht abwerfen kann. Auf der Suche nach Authentizität ist immer mehr „Äußerliches“, immer mehr „Form“, immer mehr „Maske“ abgeworfen worden, bis die „nackte Wahrheit“ erreicht war. Das bis auf die Haut entblößte Ich, konfrontiert mit sich selbst als seiner eigenen Authentizität, kann nur den panischen Rückzug antreten, mit jeder weiteren gesellschaftlichen Hülle, die fällt, sich nur noch schneller ins Innere zurückziehen. Auch das ein Enthäu­tungsvorgang, umgekehrt gesehen. Zurück bleibt eine Haut. Sie ist zur Maske geworden, die ins Fleisch gewachsen ist.

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