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Jutta Brückner

Politisierung der Lust – Sexualisierung der Politik

Zu Dagmar Herzog „Die Politisierung der Lust“

Der Titel des Buches macht Appetit. Und es liest sich leicht trotz seines Umfangs. Interessant ist der neue Blickwinkel. Dagmar Herzog untersucht, wie sexuelle Fragen politische Relevanz erlangen und wie Sexualität zu einem Hauptschauplatz für soziale und kulturelle Konflikte wird. Damit legt sie eine Geschichte der ideologischen Auseinandersetzungen um die deutsche Sexualität von 1933 bis in die späten 1970er Jahre vor auf der Basis von politischen Vorschriften, Moralkodi­zes und Meinungen von Ideologen, Regie­rungsvertretern, professionellen Deu­tern und Sexologen, von Journalisten, Kirchenvertretern und zuweilen auch von interviewten Zeitzeugen. Ihr Untersuchungsgegenstand – das liegt in der Natur der Sache – ist riesig und auch schwammig. Deshalb ist es legitim, dass sie von einer Publikation zur anderen, und von da zum Gesetz, zur wissenschaftlichen Abhandlung, zur Parlamentsdebatte, zur „allgemeinen Meinung“, zu Filmen, zu Sexshops, zu Flugblättern springt und alles die gleiche Evidenz hat, weil dies alles Teile einer Diskursgeschichte sind. Der Anspruch des Buches ist es, herkömmliche historische Periodisierungen zu unterlaufen und gegenteilige aufzuzeigen, die quer zu üblichen historischen Zäsuren verlaufen.

Herzogs These ist, dass seit dem Ende des Dritten Reiches Geschichtspolitik auf dem Feld der Sexualität stattgefunden habe. Dazu habe es mehrere Umdeutungen der Sexualität gebraucht. Das Dritte Reich sei nicht lustfeindlich und prüde gewesen, wie auch heute noch zum Teil angenommen. Im Nationalsozialismus sei die „Mehrheit der Deutschen angespornt und ermun­tert worden, sexuelles Vergnügen zu suchen und zu erfahren“. Die überkommenen Moralvorstellungen hätten die Nazis als mora­linsaure pfäffische Heuchelei abgetan. Die den Volksgenossen gestattete Freizügigkeit sei zu Beginn der Fünfziger Jahre noch bekannt gewesen. Der Zusammenbruch der gesellschaftlichen Moral im Dritten Reich sei im westlichen Teil von Nachkriegsdeutschland einseitig gesehen worden als Folge des Zusammenbruchs der Sexualmoral. So sei Sexualität zum Feld geworden, auf dem die junge Bundesrepublik ihre Ablehnung des Faschismus formulieren konnte im Einklang mit der von jeher rigiden Auffassung von Sexualität der beiden Kirchen, die sich damals noch als die große Widerständler des Dritten Reichs sahen. Diese Verschiebung des politischen Diskurses auf den sexuellen, habe bei den 68ern noch einmal eine Zuspitzung erfahren: jetzt sei eine verzerrte Sicht auf die Sexualität im Dritten Reich als Waffe im eigenen politischen Kampf eingesetzt worden. Maßgebend sei dabei der Wunsch gewesen, zu beweisen, dass befreite Sexualität und Verbrechen sich ausschließen.

Die Nazis eine sexuell-libertäre Elite? Herzog betont, dass die Aufforderung: „Leute, habt Spaß“ nur für die arische Herrenrasse galt. Die Sexualpolitik im Dritten Reich war aber auch für die arische Herrenrasse komplexer als Herzog sie sieht. Sexualität stand im Dienst der Rasse, unterlag dem Züchtergedanken: arischer Mann trifft arische Frau und beide zeugen Kinder. Was nicht dem vermeintlich natürlichen Setting des Heterosexuellen entsprach, wurde pathologisiert als dysfunktional oder tilgungswert. Die Frau war diesem Denken nicht mehr als ein Körper, ein sexuelles Gefäß, welches der Mann mit dem seinen füllte. Sexualität in diesem Sinne ist nichts anderes als reproduktive Genitalität und eingespannt in den rassischen, juristischen, kriminalistischen und medizinischen Diskurs. Und damit auch die Voraussetzung dafür, dass Juden neben ihrer vermeintlichen Geldgier auch mit sexueller Laszivität in Verbindung gebracht wurden und das zum beherrschenden Zug der antisemitischen Propaganda wurde.

Den Kern des sehr engen Begriffes von Sexualität, wie ihn Herzog hier benutzt, bilden staatliche Gesetze. Aber sogar dann ist die Zuschreibung „freizügig“ nicht zu halten. Der arische Züchtungsgedanke führte zur Zusammenführung von Paaren nach dem Prinzip der Reinrassigkeit, wie eben bei Tieren. Natürlich wehrten sich die Menschen dagegen – regelmäßig beklagten die Funktionärinnen der Reichsfrauenschaft, dass auch die SS-Männer sich lieber „koketten“ Frauen zuwandten als den rassisch wertvollen, die für sie bestimmt waren und mit List, – man behauptete, heiraten zu müssen, weil ein Kind unterwegs war -, auch die Heiratserlaubnis erreichten. Das Dritte Reich war gerade nicht freizügig, denn es gab die Körper nicht frei, sondern spannte sie ein in seine Körperpolitik: von der Festsetzung der körperlichen Bedingungen, von denen die Heiratserlaubnis der SS-Männer abhing, über das Verbot für alle, einen anderen als „arischen“ Partner zu heiraten bis zur Eugenik. Sexualität sollte dem Wesen nach Reproduktion sein, ihr Zentrum war das Kind, in oder außerhalb der Ehe, das war gleichgültig, denn der geplante Krieg erforderte Menschenmaterial. Deshalb war Kinderlosigkeit ein Scheidungsgrund und deshalb wurden außereheliche Kinder nicht stigmatisiert und die Männer – zumal in den Kriegsjahren von 1942 an – zur Untreue ermutigt. Und so ist auch Himmlers Plan zu verstehen, dass jeder Deutsche guten Blutes nach dem Krieg ein Recht auf zwei Frauen habe, deren Schwangerschaften er im Idealfall so koordinieren solle, dass er immer eine freie zu seiner Verfügung habe. Diese streng reglementierte Sexualität, mit oder ohne Spaß, diese geduldete oder beförderte Lust unter Volksgenossen, war nicht der Selbstzweck, der befreite Lust ist, nicht die Privatsache der Menschen, die sich lustvoll füreinander interessierten.

Das Dritte Reich war ein totalitärer Staat, es wollte die totale Mobilisierung der Menschen in den Diensten seiner Zwecke, auch die ihrer erotischen Phantasie. Gerade sie, die den Menschen weit über den Moment der genitalen Reproduktion hinaus beschäftigt, und die ein Quell von potentiellem Ungehorsam ist, wollte Hitler einzäunen. Er sprach verächtlich vom „schwülen Parfüm der Verführung“, wenn er Erotik meinte, und setzte ihr etwas entgegen, das „sauber, klar, und männlich“ war. So gestaltete er seine politische Verführung, „männlich-heroisch“ in ihren Ritualen, in ihren Schauplätzen öffentlich, nicht privat. Man hat davon oft als Ästhetisierung der Politik gesprochen. Diesem Blick auf die Formen der Inszenierung kann man aber einen auf deren Rezeption hinzufügen. Der wonnevolle Schauer, aufzugehen in etwas Höherem, Größerem, spekuliert auf ein Gefühl der Hingabe, das auch immer sehr unscharfe Grenzen zur Erotik hat. Hitler hat bewusst auf die Frauen gesetzt. Das hat kein anderes Regime seiner Zeit getan, weder die westlichen Demokratien noch der Kommunismus. Der mobilisierte die Frauen als verkappte Männer. Hitler mobilisierte sie als Frauen! In seinem politischen Kalkül spielten erotische Gefühle eine große Rolle. Diese Sexualisierung der Macht war das Neue und unerhört Moderne am Dritten Reich und machte es für einige Zeit so unglaublich erfolgreich.

Die 68er-Studentenbewegung ist mit dem Anspruch aufgetreten, nach einer dunklen Phase der Vergessenheit, diese sexuellen Konnotationen des Dritten Reich wieder gesehen zu haben. Herzog sieht eher eine Kontinuität zu den Fünfziger Jahren, denn auch die 68er hätten den politischen Diskurs geführt als sexuellen. Die libertären Elemente nationalsozia­listischer Sexualpolitik seien nicht nur in Ver­gessenheit geraten, sondern geradezu in ihr Gegenteil verkehrt worden. Sie erklärt den Protest der Jugendlichen nicht als eine antifaschistische, sondern eine anti-postfaschistische Bewegung. Eigentliches Objekt der Empörung sei die spießige, repressive und au­toritäre Kleinfamilie der Fünfziger Jahre gewesen und in Verlängerung der eigenen Erfahrungen sei diese als psychologi­sche Agentur gesehen worden, die im Dritten Reich Sadomasochismus und Holocaust erst ermöglicht habe. Die sexu­elle Revolution habe sich in de­monstrativer Absetzung vom NS-Re­gime inszeniert, welches man als pervertiertes Pro­jekt sexueller Repression imaginiert habe.

Die 68er stehen seit kurzer Zeit auf dem Prüfstand. Und man entdeckt heute einiges, was ihrem selbst gestellten Anspruch eines moralisch begründeten Antifaschismus nicht entspricht. Die Diskussion ist nicht abgeschlossen. Aber ich sehe nicht, wie man ihnen – wie Herzog es tut – eine Verschiebung des politischen auf den sexuellen Diskurs aufbürden kann. Wer sich als 68er Linker nicht mit der dogmatisch-kommunistischen Erklärung zufriedengab, es seien allein die Konzerne gewesen, die Hitler an die Macht verholfen hätten, landete sehr schnell bei der Frage, was das für Deutsche gewesen seien, die da willig mitgemacht hatten und warum. Was hier auf dem Prüfstand kam, war der deutsche Charakter. Und die jetzt erst zur Kenntnis genommenen vielfältigen psychoanalytischen Erkenntnisse der 1920er Jahren führten erstmals dazu, dass dieser deutsche Charakter nicht mehr mit Bezug auf ewige Werte oder die Klassiker erklärt wurde, sondern mit Bezug auf seine Sexualität, in ihren ausgelebten und unausgelebten Facetten.

Reimut Reiche, einer der damaligen Aktivisten, heute Psychoanalytiker, spricht von der unerträglichen Trauer, der Wut und den Schuldgefühlen, die seine Generation wegen des Holocausts hatte. Anstatt diese Gefühle direkt zum Ausdruck zu bringen, hätten sie sich einerseits durch unablässigen und erschöpfenden politischen Aktivismus, andererseits durch Verschiebung in den Bereich der Sexualität geäußert. Herzog folgt ihm in ihrer Argumentation, die 68er hätten eine Tendenz gehabt, die anale Phase und den Holocaust ins Zentrum ihrer politischen Theorie zu rücken. Man mag das für eine zu kurzschlüssige Verbindung halten, aber man sollte nicht vergessen, dass der Leiter des KZ Auschwitz, Hoess, von dem Lager als dem „Anus mundi“ gesprochen hat. Die Verbindung offenbart ein Verständnis dafür, dass es sich im Dritten Reich um eine Perversion gehandelt hatte. Die 68er hatten gehofft, diese Perversion der Werte für die Zukunft ausschließen zu können, den deutschen Charakter, der zu Auschwitz geführt habe, endgültig zu besiegen.
Befreite Sexualität und progressive Politik sollten unmittel­bar zusammenhängen. In den Formen, in denen das proklamiert und exekutiert worden ist, sicher ein utopisches Ziel, aber ein politisches auf der Basis eines gigantischen sexuellen Erziehungsprogramms, das die Erkenntnisse der Psychoanalyse berücksichtigte. Insofern aber auch eine alte deutsche Lust an der Pädagogik.

Die wurde nun zum eigentlichen Experimentierfeld des neuen Menschen, der politisch und sexuell befreit sein sollte. Wenn die Nicht-erziehung der Kinder von einigen 68ern mit Auschwitz gerechtfertigt wurde, klingt das für heutige Ohren lächerlich. Aber Kindererziehung und „schwarze Pädagogik“ waren ja ein sehr deutsches Problem. Hier gibt es eine Kontinuität bis tief ins 19. Jahrhundert hinein. Und jede Geschichte des 19. Jahrhunderts zeigt ziemlich schnell, dass die deutsche Geschichte nicht notwendig bei Auschwitz landen musste, dass aber viele Momente für einen Menschentyp, der zum Garanten dafür wurde, dass Auschwitz funktionierte, vorgebildet waren. Schreber mit seinen disziplinierenden Körpermaschinen ist das wohl bekannteste Beispiel dafür. Wo so viel Mordlust einmal frei getreten worden ist, führt die Spur weit zurück, aber es braucht auch Generationen, um damit fertig zu werden.

Wenn, wie Klaus Theweleit sagt, das Interesse am Politischen bei den jungen Leuten Anfang der 60er als Interesse am Sexuellen vorlag, dann ist das nur die halbe Wahrheit. Der Begriff, der beides überwölbte und viel wichtiger war, war der der Freiheit, die gleichzeitig eine politische und eine individuelle sein sollte, von der auch die sexuelle Freiheit nur ein Teil war. Sicher der wichtigste, aber nicht der einzige. Zum Beispiel war der Wunsch, sich ungehindert von sexuellen Gefahren (und dazu zählten sowohl die Anmache, wie die Vergewaltigung wie die ungewollte Schwangerschaft) bewegen zu können, ein für viele Frauen unerhört wichtiger Wunsch. Wenn die 68er nach der Sexualität fragten, dann auch nicht nur nach ihrer Verbindung mit der Politik, die als Regulierungsinstanz potentiell erst mal alles behinderte, bis der Staat dem Politisierungsdruck von unten wich und neue Gesetze schaffte. Sie fragten vor allen Dingen auch nach der Verbindung von der Lust mit dem Bösen. Und ihr heißer Wunsch war, dieses Böse für alle Zeiten künftig auszuschließen.
In Umkehrung der Nachkriegsformel, die das Ausleben von Sexualität mit Mord und Grausamkeit in Verbindung gebracht hatte, wurden von den 68ern Mord und Grausamkeit nun mit der Unterdrückung von Sexualität verknüpft. Dass der Zusammenhang heute nach Kriegspornografie und Folter wieder anders aussieht, zeigt, dass wir in eine neue Epoche eingetreten sind.

Dagmar Herzog, die in New York lehrt, hat in vielen Dingen die wohltuende Distanz, die einen Blick aus den USA auf Deutschland auszeichnet. Sie hat in ihrer Diskursgeschichte mit viel historischer Detailkenntnis etwas angestoßen, was auch noch auf ganz anderen Ebenen, nicht nur denen der Fachhistorie, beantwortet werden muss. Das große Verdienst des Buches ist es, die Geschichte der Sexualität als einen Teil der Fachhistorie zu etablieren, die sich mit Sexualität immer noch schwertut. So war auch Herzogs Thema begrenzt auf die Konstruktion von Geschichte. Aber sie selbst sagt auch, die Bedeutung der Sexualitätsgeschichte gehe über ihren konkreten Inhalt hinaus. Ihr Verdienst ist es, das in ihrem Buch gezeigt zu haben. Und hier bietet das Buch vielfältige Anregungen, auch wenn man nicht alle ihre Einschätzungen teilt, weil man einen komplexeren Begriff von Sexualität zu Grunde legt. Die Sexualität im öffentlichen Raum hat heute einen unglaublichen Schub erlebt und die Verbindung der Lust mit dem Bösen ist ein ständiger Moment einer Kultur des Entertainments. Die „Politisierung der Lust“ muss durch viele andere Fragestellungen ergänzt werden: die Sexualisierung der Politik, die Sexualisierung des Krieges und nicht zuletzt die neue Zeugungsordnung.

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