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Ich hätte zu diesem Anlass ganz gern meine High Heels angezogen, das ging aber nicht, weil ich Schmerzen im Knie hatte. Sie sind das Ergebnis eines Autounfalls vor vielen Jahren. Ich hatte einem Hauptabteilungsleiter einen Film vorgeschlagen über Marieluise Fleißer, die einzige unter den vielen Freundinnen und Zuarbeiterinnen von Bertolt Brecht, die es geschafft hatte, sich von diesem frauenfressenden Genius zu befreien. Der Hauptabteilungsleiter sagte: „Das interessiert aber niemanden.“ Ich wollte das nicht glauben. Ich argumentierte freundlich und beschwörend, dass Fleißer in den 20er Jahren eine skandalumwitterte Theaterautorin war, die im Dritten Reich Zuflucht in einer konventionellen Ehe suchen musste, ihrem Mann den Tabakladen führte, um nach der Arbeit des Tages in der Nacht an ihren Theaterstücken schreiben zu können. Was natürlich in einem Zusammenbruch endete. Erst als er tot war, nahm sie den Faden ihres Schriftstellerinnenlebens wieder auf und wurde dann, schon in hohem Alter, von Fassbinder, diesem weiblichen Mann, wiederentdeckt als eine ganz eigenständige Stimme, mit keiner anderen vergleichbar. Interessierte das wirklich niemanden? Der Hauptabteilungsleiter sagte: „Niemand interessiert sich für Opfergeschichten.“
Ich schwieg. Ich fuhr nach Hause, wütend, hilflos und vor allen Dingen sprachlos in meinem Zorn. Und, mit einem heftigen inneren Monolog beschäftigt, baute ich einen schweren Unfall. Seit der Zeit weiß ich, dass die schweigende Frau eine ungeheuer beredte ist, auch wenn niemand sie hört. Für sie gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder sie wird zur toten Frau oder zur gewalttätigen Frau und wenn sie Pech hat, beides auf einmal.
Aber das ist schon einige Jahre her und heute schweigen Frauen nicht mehr. Doch der Wald von Urteilen und Vorurteilen, von dem sie noch immer umgeben sind, ist dicht. Und deshalb werde ich mich jetzt mit diesen Stiefen auf den Weg machen, um das Dickicht zu erkunden, getreu der Erkenntnis von Sime de Beauvoir: „Die Emanzipation beginnt mit flachen Schuhen.“ Und auf diesem Weg bin ich schon über den ersten Stein gestolpert. Es ist das schmutzige Wort des Feminismus: Opfer!
Die Frau, die schweigt, tut es unter einem alten Gesetz, das ihr gebietet, in der Öffentlichkeit nicht die Stimme zu erheben. Soweit wir in der westlichen Geschichte zurückschauen können, gibt es eine radikale – reale, kulturelle und imaginäre – Separierung der Frauen von der Macht. Das galt für die griechische Polis, der christliche Gemeinde und es gilt auch noch für die moderne Gesellschaft. In Athen hatten Frauen nur einmal das Recht, in der Öffentlichkeit laut zu sein, dann, wenn sie als Mütter um ihre im Krieg getöteten Söhne weinten und klagten. Und diese Erlaubnis galt für eine streng begrenzte Zeit. Danach mussten sie wieder in der Tiefe ihrer Häuser verschwinden. In Rom durfte eine Frau in der Öffentlichkeit nicht über die Dinge reden, die das gesamte Gemeinwesen angingen, sondern sich nur über ihr eigenes Los (das war fast immer eine Vergewaltigung) oder das der Frauen allgemein beklagen. Also, würde man heute sagen, ihren Opferstatus zur Schau zu stellte. Schon wieder das Opfer! Treten wir mit der so notwendigen Bewegung #metoo nicht nach 2000 Jahren auf der Stelle?
Natürlich hat sich das, was in griechischen Zeiten ein Verbot war, im Laufe der Jahre geändert. Aber dass Frauen angeblich nicht reden, sondern kreischen und zetern und deshalb besser schweigen sollten, das fand Henry James am Ende des 19. Jahrhunderts ebenso wie Semonides von Amorgos zweieinhalbtausend Jahre vor ihm. Und wenn Adolf Hitler gut gelaunt und freundlich über Frauen sprach, dann sagte er: sie plappern. Plappern tun Kinder, die gefallen wollen. In der Odyssee tritt der noch sehr junge Telemachos vor seine Mutter Penelope, die ihn und seine lärmenden Buddies gerügt hat, und sagt, sie möge sich an ihren Webstuhl verziehen: „Die Rede ist Sache der Männer.“ Die von Jupiter vergewaltigte Io wird in eine Kuh verwandelt, die nur noch Muh sagen kann. Die Nymphe Echo ist dazu verdammt, auf ewig den Sound anderer zu wiederholen. Der vergewaltigten Philomena wird die Zunge herausgeschnitten, damit sie nicht erzählt, was mit ihr geschehen ist. In Rom darf sich dann Lukrezia über ihre Vergewaltigung beklagen, bevor sie sich umbringt, denn eine solche Schande darf eine Frau nicht überleben. Ein doppelter Opferstatus! Selbstbestimmt war für die Frau nur der Tod. Ihre Vergewaltigung und ihr Selbstmord wurden ein beliebtes für Maler durch die Jahrhunderte. „Die Schändung der Lucretia“, das heißt: die sich selbst opfernde Frau, wurde zum Gründungsmythos der Römischen Republik. So leicht werden wir uns von diesem unglücklichen Wort nicht befreien können.
Unsere westliche Kultur hat Jahrtausende praktischer Erfahrung darin, Frauen zum Schweigen zu bringen. Die öffentliche Rede war nicht nur eines, sondern das konstitutive Attribut der Männlichkeit. Ein Mann war in Rom per definitionem einer, „der der Rede mächtig war“. Wer die Macht hatte, hatte das Wort, beides war fest in Männerhand. Es sieht nicht gut aus, wenn eine Frau Befehle erteilt, falls es ihr daran liegt, weibliche Qualitäten zu behalten. Meryll Streep als mutige Verlegerin, die in der Washington Post die Pentagon Papers veröffentlicht, findet in dem gleichnamigen Film, der zur Zeit Nixons spielt, erst langsam und zögernd ihre Stimme, ihre Sprache und den Mut, allen Männern um sie herum zu widerstehen.
Die Nachwirkungen der Antike auf uns heute sind viel zu stark, als dass man sie ohne Schaden ignorieren könnte. Das gilt nicht nur für die Herstory. Die Geschichte des peloponnesischen Krieges von Thukydides ist ein kanonischer Text in amerikanischen Militärakademien. Die neoliberalen Thinktanks haben den alten griechischen Feldherrn zum Ahnherren für die Doktrin des Politischen Realismus erkoren und mit seinen Lehren die amerikanischen Golfkriege begründet. Und selbst die Kritiker einer solchen politischen Vereinnahmung bestreiten keineswegs die Bedeutung des Thukydides, denn sie sehen in ihm einen Anthropologen mit heute noch gültigen Einsichten in das menschliche Wesen. „Das menschliche Wesen“, um das es uns ja geht, wenn wir Geschichten erzählen, nicht nur in Worten, sondern auch in Bildern, es ist seit fast 3000 Jahren ein Mann.
Der Mann hat alles, was der Frau qua Definition nicht zusteht: das Recht der Sprache in der Öffentlichkeit, den Zugang zur Macht in der Gemeinschaft, die Verfügung über den Raum und damit auch über die Zeit. Mit der französischen Revolution wurde das, was die Antike schon wusste, zur politischen Philosophie der Moderne. Zwar waren jetzt alle Menschen in der beginnenden Demokratie gleich. Aber die Frauen, die das wörtlich nahmen, wurden sofort mundtot gemacht, die lauteste von ihnen, Olympe de Gouges, durch die Guillotine. Sie hatte das neue Regime Tyrannei genannt, weil der neue Souverän, das Volk, alle Frauen von der Volkssouveränität ausschloss. Der Trick bestand darin, nur den zum Subjekt zu erklären, der über Vernunft verfügte. Nur der Mann war in dieser Philosophie ein rationales Individuum und damit ein politischer Handlungsträger und alles, was die Individualität eines Individuums ausmachte, Vernunft, Geist, Rationalität, Schöpfertum war männlich und damit auch Öffentlichkeit, Wissenschaft, Kunst und der Staat. Für die maßgeblichen Philosophen der Zeit sind Frauen keine politischen Wesen und spielen in der Gesellschaft keine Rolle, weil sie überhaupt keine Individuen sind. Sie sind Teil der Welt der Affekte, des Begehrens und der Lüste, sie haben zu wenig Verstand, sie haben ihre Gefühle nicht unter Kontrolle und keine Macht über ihre Triebe, und deshalb dürfen sie keinen Zugang zum Geist, zum Recht und zur Ordnung haben. Sie sind nichts weiter als ungebändigte Natur außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, benachbart den Kindern und den Tieren. Und weil es in der Gesellschaft keinen Platz für sie gibt und sie in ihr keine Stimme haben, waren Männer ihre Vormünder und sprachen für sie. Philosophen schrieben den Weibern als naturhaften Wesen auch die Zerstörungslust zu. Indem sie nämlich das männliche Begehren entfachen, erlangen sie Gewalt über das männliche Geschlecht. Um seine Männlichkeit nicht zu verlieren und nicht als Individuum unterzugehen, schützt der Mann sich durch Verpanzerung. So entsteht das männliche Vernunftsubjekt in einer Art ‚zweiter Geburt’, die nichts der Natur, aber alles sich selbst und seinem Willen verdankt. Pflicht des Mannes wurde es, sich selbst und die Zivilisation vor der Herrschaft von Frauen zu bewahren, damit durch die weibliche Triebhaftigkeit das Gemeinwesen nicht im Chaos versinkt. Frauen waren moralisch keine Sachen, konnte aber juristisch als solche behandelt werden. Nicht die Opferung der Frau wie in Rom, aber ihre Exklusion wurde zum notwendigen Fundament dieser bürgerlichen Demokratie, zu deren Gründungsmythos.
Das Ganze war ein geschlossenes, kohärentes System einer männlichen Ökonomie der Zeugung unter Ausschluss der Produktivität der Frau. Aber diese Gesellschaft hatte eine Nachtseite. Auf der Ebene des Bewusstseins regiert das Bild des tadellosen und wahrhaftigen Mannes, ein bürgerlicher Held. In der Nachtseite dieser Gesellschaft zirkulieren unaufhörlich das weibliche Begehren und die Schuld. Und der Held hat eine unterschwellige Sehnsucht nach dem, was in seiner Vernunftökonomie keinen Platz hat: Schönheit, Liebe, Anmut, Mitleid, Leidenschaft, ein Begehren nach dem „Anderen“, das ihn von seiner Verpanzerung erlöst, nach dem, was bei den Frauen geparkt war, die als Blumen die Gesellschaft der harten Notwendigkeit schmückten. Alles, was man nicht herkömmlich klassifizieren konnte, wurde so zum „Anderen“. Die Frau war das „Andere“ des Mannes. Begehrt, aber nicht zu definieren und erkennbar nur in der Negativität, als Ausschluss alles dessen, was in der Gesellschaft nicht erwünscht war. Als natürliche Ordnung der Dinge erhielt diese Ordnung das Gütesiegel der Philosophie und wurde im Erbgut aller modernen Gesellschaften verankert.
Das ist jetzt nur 200 Jahre her, auch eine Ewigkeit. Frauen haben das Wahlrecht, wir haben Frauen als Verteidigungsministerinnen, aber wie sehr wir mit dieser Gesellschaftsform, die eine Denkform ist, noch verbunden sind, sehen Sie daran, dass wir für unseren augenblicklichen Zustand nur das Wort: „post“ haben: postkapitalitisch oder postbürgerlich. In der postbürgerlichen Gesellschaft befindet sich alles, was in der bürgerlichen Ordnung war, im Zustand der Veränderung, wenn nicht Auflösung. Teile ihres Erbguts flottieren wie losgesprengte Brocken in unserem individuellen und auch dem gesellschaftlichen Unbewussten herum. Sie sind noch da, aber sie haben keinen Zusammenhang mehr. Der Zustand ist gefährlich. Denn unbewusste Wünsche und Vorstellungen und eine neue Welt, die sich täglich ändert, stoßen aneinander wie zwei Kontinentalplatten. Hier entsteht der der unconscious bias, der innere Widerspruch. Er bedeutet, dass wir feststecken in einer Ambivalenz, die historisch bedingt ist und sich sowohl gesellschaftlich wie privat äußert. Ambivalenz zwischen einer formalen juristischen Gleichberechtigung, die durch viele Jahre zäh erkämpft worden ist, und einer unbewussten, unterschwelligen Angst vor weiblicher Macht, die von Männern als Entmachtung empfunden wird, dabei bedeutet sie eigentlich doch nichts anderes als gleichberechtigte Teilnahme.
Der Ausschluss der Frauen findet jetzt nicht mehr per Gesetz, sondern auf sehr vielen kleinen Stufen statt. Frauen zahlen noch immer einen sehr hohen Preis, um Gehör zu finden. Unsere Gesellschaft hat jenseits eines direkten Verbots eine Fülle von Mechanismen entwickelt, die den Frauen das Reden, die Präsenz in der Öffentlichkeit und ihre Teilhabe an der Gesellschaft schwermachen. Der schlimmste und wirkungsvollste ist die Verächtlichmachung. Je stärker Frauen in die Öffentlichkeit drängen, um so heftiger die Reaktionen der Abwehr. Mary Beard, eine englische Althistorikerin aus Cambridge, 63 Jahre alt, Expertin für Pompeji und Rom, hat eine eigene BBC-Serie Wir treffen die Römer. Ihr verdanken wir die Einsichten in das antike Redeverbot für Frauen und damit wurde sie zu einer Galionsfigur des Feminismus in England. Auf Twitter, musste sie lesen, dass ihre Geschlechtsteile aussehen wie verfaultes Gemüse und ihr Hinterteil dem eines Busses ähnelt. Ihr Gesicht wurde in eine Vulva einmontiert und die seriöse Times höhnte, das hätte man gar nicht gemerkt. Gleichgültig, ob mit Namen gekennzeichnet oder in der feigen Anonymität: Der 3000 Jahre alte Bodensatz an Misogynie wuchert in seinen abschreckenden Formen vor sich hin wie eine giftige Sumpfblüte und am wildesten wuchert er dort, wo es um die weibliche Sexualität geht.
Das sollte uns nicht wundern. Denn Sexismus als Verbindung von Sexualität und Macht ist der Kern aller Gesellschaften, die Männern und Frauen unterschiedliche Wesenheiten zugestehen. Sexismus ist nicht ein Ausrutscher einiger bekannter Übeltäter. Sein Ursprung liegt zwar in der attischen Demokratie, aber er hat eine bemerkenswerte Fähigkeit entwickelt, immer wieder von neuem den Ausschluss der Frauen theoretisch und praktisch, politisch und kulturell gemäß den jeweiligen Anforderungen der Zeit zu zementieren. Für sie gilt allerdings das, was Bertolt Brecht für die Unterdrückung gesagt hat: sie hat sich weitgehend unsichtbar gemacht, in weichen Regelwerken versteckt, und auf viele kulturelle Ebenen verteilt. Dazu gehört die Deutungsmacht, die sich in Bildern und Bilderzählungen äußert. Macht heute ist Macht über das Bild.
Alle Frauen, die Filme machen, lernen, dass das Rückgrat einer Erzählung die Dramaturgie ist. Sie beschäftigt sich mit der Kunst, Geschichten zu erzählen. Ursprünglich galt es, sowohl Geschichten gut zu erzählen und gute Geschichten zu erzählen. Davon ist nur der erste Teil übriggeblieben. Die Regeln, wie man Geschichten gut erzählt, sind in Lehrbüchern niedergelegt und werden in Seminaren vermittelt: Setup, Plotpoint, Midpoint und Auflösung sind das Gerippe von der Ankündigung des Konfliktes über die Verschärfung der Situation zum ersten Höhepunkt und über ein retardierendes Moment bis zur Auflösung. Man kann es auch so ausdrücken: gewohnte Welt, Ruf des Abenteuers, Weigerung, Mentor, erste Schwelle, Proben, verbündete Feinde, entscheidende Prüfung, Belohnung, Rückweg. Ganze Heerscharen von Dramaturgen orientieren sich an der Dreiaktstruktur mit einer Exposition im 1. Akt, in der die Hauptfigur und deren Begleitumstände vorgestellt werden. Im 2. Akt kommt es zum Konflikt, der im 3. Akt aufgelöst wird. Und die einfachste Zusammenfassung dieser Regeln heißt: Reise des Helden. Der Held ist einer, der Räume durchmisst und Kämpfe besteht. Er hat die Macht und ein interessantes Schicksal. In dieser Dramaturgie sind Frauen der love interest. Frauen sind fest verankert in den Heldenreisen als Bewegungstrieb, der selbst weder über Raum noch Macht verfügt. Sie sind meist die Belohnung für die Heldentat, sozusagen die Zugabe, aber der Wert der männlichen Tat liegt nur bei Erotomanen in der Eroberung der Frau, bei den richtigen Männern in einer Tat für die Gesellschaft.
Dies alles geht zurück auf die Poetik des Aristoteles, geschrieben ca. 335 v. Chr. und deren Grundidee ist: »Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat«. Nach diesem Schema war der klassische Hollywoodfilm gebaut. Und auch in den modernen Filmen und den TV-Serien findet sich diese Struktur wieder. Natürlich ist auch dieses Regelwerk schon seit 50 Jahren nicht mehr unumstritten. Ich glaube, es war Godard, der gesagt hat: „Anfang, Mitte und Ende, aber nicht notwendig in dieser Reihenfolge.“ Die Filme der Nouvelle vague und auch viele europäische Filme folgen anderen Mustern. Auch das New Hollywood hat sich bemüht, andere Geschichten zu erzählen. Und es sind darunter einige der besten, die unsere Filmkultur zu bieten hat. Aber auch sie haben sich, wenn auch protestierend und umdeutend, auf dieses Regelwerk bezogen. Dieses Schema ist unglaublich wirkmächtig. Kein Lehrbuch heute, für das es nicht die Basis ist. Und seine Weihe bezieht es nicht zuletzt eben daraus, dass es seit 3000 Jahren etwas aussagt oder auszusagen scheint, über das, was man für die die anthropologische Konstanz des Menschlichen hält, über die schon Thukikides etwas ausgesagt hat. Ich möchte diese Dramaturgie nicht sexistisch nennen, um das Wort nicht inflationär zu gebrauchen, denn es soll seine analytische Kraft behalten. Aber das Mindeste, was man sagen kann, ist, dass sie ein Spiegelbild der Machtverteilung in der sexistischen Gesellschaft ist.
Kann es mit diesen Regeln ausgerüstet überhaupt einen feministischen Film geben?
In den 1970er Jahren hat eine Frau aus der ersten Generation der feministischen Filmemacherinnen, das Ganze einfach mal umgekehrt. Nehmen Sie es wie ein Mann, Madame ist ein dänischer Film von 1975, ein feministischer Klassiker, heute nur noch einem kleinen Kreis vertraut. Eine 50jährige Hausfrau beginnt, über Geschlechterrollen und das Diktat einer Männergesellschaft nachzudenken. Sie träumt von einem Rollentausch, in dem Frauen Männerrollen übernehmen, und ihre Privilegien auskosten. Männer besorgen den Haushalt, betreuen die Kinder und dienen als Sexualobjekt. Aus ihrem Traum erwacht sie mit einem Schrei und erleidet einen
Nervenzusammenbruch. Dann, und das entsprach der politischen Stoßrichtung des Feminismus damals, wird sie aktiv und beginnt, einen Beruf zu erlernen und gesellschaftlich zu handeln. Einen Beruf zu erlernen, ist heute für die überwältigende Mehrheit der Frauen normal, ich nehme jetzt Bayern mal aus. Als Erweckungserlebnis oder Ziel der Befreiung reicht das nicht mehr. Deshalb reicht heute zu einer Reflexion über Geschlechterrollen die einfache Umkehr nicht mehr.
Wonderwoman, diese Superheldinnenerzählung von Patty Jenkins, ein Blockbuster über eine kämpfende Frau, brach alle Kassenrekorde. Der allgemeine Jubel bei männlichen und weiblichen Kritikerinnen war groß. Es sei ein Vergnügen für Männer wie für Frauen. Seine Handlung um die Amazonenprinzessin Diana ist aus den unterschiedlichsten antiken und modernen Mythen und Geschichtsbrocken gemischt und so abenteuerlich und eklektizistisch wie es ein solcher Mix nur sein kann. Amazonenkönigin Hyppolyta hat ihre Tochter aus Ton geformt und Zeus hat sie durch seinen Samen zum Leben erweckt. Eine extrakorporale Zeugung, wie es sie heute mit der Invitrio-Methode immer öfter gibt, aber in den Mythen noch den Göttern vorbehalten war. Diese Amazonengemeinde hat sich dem Kampf gegen den Kriegsgott Ares verschrieben und hütet den „Gotttöter“, ein Schwert, das Götter zerstören kann. Diana, aufgewachsen nur unter Frauen, trifft bei einem ans Ufer gespülten Piloten des Ersten Weltkriegs zum ersten Mal auf einen Mann, ein sehr komische Szene, und bricht mit ihm auf. In dieses Plotmoment ist die lebensgeschichtliche Ablösung des Mädchens von der Mutter und ihre Hinwendung zum Vater und damit zum Mann eingewoben. Diana will Ares zu finden und töten. Das ist würdiges Ziel für einen Helden und jetzt eben auch für eine Heldin. Wir sind dann im Ersten Weltkrieg und die Heldin bewährt sich als Wonderwoman in diesem Desaster kapitalistischer und militärtechnizistischer Männlichkeit, ausgerüstet mit übermenschlicher Stärke, Geschicklichkeit und ihrer Fähigkeit, sehr hoch zu springen. Ihre Waffen sind das Schwert „Gotttöter“ und das Wahrheitslasso. Sie tötet Ares und beendet damit den Urgrund aller Kriege.
Es ist eine Erlöserphantasie. Das ist für dieses Genre nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich aber ist, dass in dieser Re-Lektüre der Mythenwelten eine Frau zur Superheldin wird, nicht obwohl, sondern weil sie eine Frau ist. Und noch etwas ist anders. Der Film bindet das weibliche Kriegertum an das Endziel des Friedens. Er stellt die Frage, ob Kriegerinnen mehr für den Frieden tun können als ihres männlichen Widerparts. Das ist zweifellos nicht nur eine Frauen-, sondern eine Menschheitsphantasie. Und sie erlöst nicht nur die Menschheit vom Krieg, sondern auch, wie ein geschätzter Kritiker schrieb, das Genre aus „seiner Erstarrung als liberal perforierte Jungsfantasie.“ Die Frau rettet den Mann vor sich selbst und die Welt und die Kunst, zumindest einen Teil davon, vor seiner Lust an der Zerstörung.
Es ist durchaus ein Fortschritt, wenn es den Frauen erlaubt ist, für das Ende aller Kriege zu kämpfen und nicht nur die Toten zu beweinen. Und darüber hinaus ist es eine ziemlich realistische Momentaufnahme unserer Welt und unserer Filmkultur. Aber ist der Film auch ein „subversives Meisterwerk des Feminismus“, wie ein anderer geschätzter Kritiker schrieb? Ich zitiere: „Er bietet wie jeder gute Film auch Vergnügen, visuellen Überschuss und ein Stück Fetischismus. Diana ist ein Mensch aus der Mitte unserer Gegenwart, sie besitzt ein gesundes Maß an Hedonismus. Die emanzipatorische Forderung nach mehr weiblichen Narrativen wird erfüllt, aber es wird auch auf das Outfit geachtet: Praktisch muss es sein, aber auch was hermachen. Die Macht der Schönheit wird nicht ignoriert, Feminismus und Fetischismus gehen zusammen. ‚Guilty pleasure‘ und visueller Überschuss in Zeiten, in denen viele Filme überkorrekt politische Tages-Agenden abarbeiten, moralisieren und immer auf der richtigen, braven Seite stehen.“ Es erinnert ein bisschen an die Lobreden über Frauen, die gleichzeitig erfolgreich im Beruf, sexy Geliebte, wunderbare Mütter, und attraktive Ehefrauen sind.
Gleich noch eine andere Kritik, die aus dem Spiegel. Dort hieß es, die Performerin Gal Gadot, ehemalige Miss Israel und Soldatin, müsse ihre Weiblichkeit nicht durch eine Überbetonung männlicher Attribute, wie Kaltblütigkeit, Aggression, Brutalität, kompensieren. Ihre Sexyness entstehe nicht aus „durchaus im Überfluss vorhandenen Körpermerkmalen“, sondern aus ihrer „charakterlichen Weiblichkeit.“ Das ist eine interessante Verschiebung, denn normalerweise verbindet unsere Gesellschaft mit Sexyness Busen, lange Beine und lange Haare. In den USA entbrannte deshalb nach der Premiere auch sofort eine Diskussion darüber, ob Gal Gadots Brüste nicht zu klein seien, und sie mehr Achselhaare haben müsse. Aber dann las ich, was der Kritiker mit „charakterlicher Weiblichkeit“ meinte: Sanftmut, Besonnenheit und Empathie, mit der Wonderwoman die ihr gestellten Konflikte löst. Zu den Qualitäten, die der erste Kritiker pries, kommen jetzt noch die klassisch weiblichen Sanftmut und Empathie. Ist Diana eine eierlegende Wollmilchsau?
Der unsonscious bias arbeitet mächtig vor sich hin bei diesen Definitionen. Ein moderner feministischer Film, so wie die beiden Kritiker es sehen, ist also gekennzeichnet durch ein Übermaß an Schauwerten wie Hedonismus und Fetischismus, ein Übermaß an Körperformen , selbst wenn der Busen zu klein war, und ein Übermaß an den klassisch-weiblichen Tugenden wie Sanftmut, Besonnenheit und Empathie. Eine erboste Kritikerin warf dagegen dem Film vor, biologisch und sexistisch zu sein, weil die Heldin aus der Vorstellung vom „biologistischen Witz eines weiblich-mütterlich Guten geformt ist, dem jede psychologisch realistischere Grundlage fehlt. Warum kann denn diese Diana nicht eine grausame, eine sadistische, eine irgendwie ambivalente Seite haben? Was erzählt er uns über weibliches Heldentum?“ Es gibt unter Männern und Frauen offensichtlich sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, was ein gelungener feministischer Film ist.
Wonderwoman ist zweifellos ein Film, der eine Genderstudie gegen die übliche Action-Orgie setzt und eine komplexe Hauptfigur gegen routinierte Spezialeffekte. Und er eröffnet als philosophische Meditation über Heldentum und Gewalt dem Genre ebenso zweifellos eine feministische Dimension. Unbestritten ist er wohl auch Empowerment für sehr junge Mädchen, die darin, bei aller Überwältigungsschlichtheit oder vielleicht gerade deswegen, ein Identifikationspathos mit einem positiven Leitbild erleben können. Und er greift zurück auf die Vorstellung von einer mutterrechtlich organisierten Gesellschaft, die schon in der zweiten Frauenbewegung der 70 und 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts breit diskutiert wurde. Die Sehnsucht nach einer Welt, in der Frauen Macht haben, um sie dann zum Guten einzusetzen, und besonders dazu, alle Kriege zu beenden, hat jede Frauenbewegung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts begleitet. Aber bedient diese wilde Mischung aus Trash, Kitsch und Action im Sinn des weiblich-mütterlich Guten nicht wieder mal eine sehr männlich- zeitgeistige Phantasie von Weiblichkeit? Eine, an den auch feministischen Frauen gern teilhaben, als guilty pleasure, weil sie hier endlich einmal Zugang zu einer Art von Identifikationspathos haben, das ihnen das Kino viel zu selten bietet.
Ich bin keine große Kennerin und Liebhaberin von Superheldenfilmen. Aber ich akzeptiere den Satz eines Kritikers, dass man diese endlosen Zerstörungsorgien, diese lächerlichen Kostüme, diesen radikalen Bruch mit der äußeren Wirklichkeit natürlich ignorieren kann, aber dass man dann auch man ein bemerkenswertes Segment der Sinnstiftung unserer Tage ignoriert. Deshalb nehme ich jetzt meine Zuflucht zu einer anderen feministische Kritikern, die eine Kennerin dieses Genres ist. Sie beschrieb den fundamentalen Mangel von Wonderwoman so: „Diana ist in gewisser Weise ein engelsgleiches Kunstwesen, das nur bedingt als emanzipatorisch wertvolle Identifikationsfigur gelten kann. Sie wirkt auf kindliche Weise naiv und asexuell. Bei all ihrer Power ist sie ein weitgehend asexuelles Mädchen und keine sexuell ermächtigte Frau.“
Man muss aber hier einen Schritt weitergehen. Nicht bei all ihrer Power, sondern gerade deswegen. Die Heldin steht außerhalb der sexuellen Ökonomie, weil ihre physische Ermächtigung mit einer Entsexualisierung der Figur erkauft wurde. Die kämpfende Frau auf Keilabsätzen, stets perfekt geföhnt und mit makellos manikürten Nägeln, mit langen Beinen, langen Haaren und sehr knappem Outfit, hat alle Merkmale des klassischen Sexobjektes. Eine so schöne und physisch so mächtige Frau auch noch mit sexuellem Empowertment auszustatten, hätte sie zum Angstobjekt gemacht, der Phantasie der überm.chtigen, phallischen Mutter als grausamer Frau. Und damit wäre auch das Wahrheitslasso als das enthüllt worden, was es in Wirklichkeit ist: eine Peitsche. Wir kennen diese Frauen, die in der Heftchenproduktion nach dem Zweiten Weltkrieg massenhaft auftauchten. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat es im deutschen Sprachraum einige Bücher gegeben, die sehr starke und sehr selbstbewusste Frauen geschildert haben. Immer war ihre Eigenständigkeit erkauft mit dem frühzeitigen Tod oder der gänzlichen Abwesenheit von Männern und damit der Sexualität. Amazonen werden im Bett unterworfen, das postulierten schon die Griechen. Das wäre allerdings ein sehr unfeministischer Schluss gewesen und Diana hätte nicht als feministische Ikone der Blockbuster-Kultur in unsere Filmgeschichte eingehen können.
Können Frauen nur über Freiheit und Macht verfügen, wenn sie sich aus der Sexordnung herausnehmen? Und was passiert dann mit der Schaulust?
Im Urtext des feministischen Kinos, „Visuelle Lust und narratives Kino“ von 1975 schrieb Laura Mulvey: „Das klassische Kino ist eine perfekte visuelle Maschine für das männliche Begehren, so wie es ausgebildet und kanonisiert worden ist in der Tradition der westlichen Kunst und Ästhetik.“ Die klassischen Frauenbilder, egal ob misogyn oder ikonisch, waren immer Bilder männlicher Imagination. Frau war als „Nicht-Mann“ konnotiert, passiv und machtlos, denn auch ihr erotisches Kapital lag im Blick des Mannes und damit in seiner Verfügung. Seit Laura Mulvey wissen wir, dass das klassische Filmnarrativ aus der Frau einen Mythos gemacht hat, einen sexualisierten Körper, der als ideologisches Zeichen für das Begehren von Seiten des männlichen Charakters funktioniert. Das beste Beispiel dafür ist die Ikone Marylin Monroe. Auf dem Plakat zum 65. Jubiläum der Filmfestspiele von Cannes 2012 war sie zu sehen als die Inkarnation des Kinos. Es war auch das Jahr, als die Diskussion über die viel zu geringe Zahl an Filmen von Frauen in diesem Wettbewerb begann. Marilyn, überlebensgro., einen Luftkuss hauchend, der Männertraum mit den Hüften einer Frau, dem Lächeln einer Sirene, dem Haar eines Engels und der Sprache eines Kindes. Man weiß von ihr inzwischen, dass sie neugierig war, lernbegierig, lektüresüchtig, süchtig nach Liebe. Aber das Wort, mit dem sie identifiziert bleiben wird, ist «Poupoupidou», ein onomatopoetischer Nicht-Signifikant. Und – ganz wichtig – sie stirbt jung und tragisch, ihr Bild altert nie und so wird sie zur unsterblichen Sexikone und dem Wahrzeichen eines auf männliche Schaulust fixierten Kinos.
Marilyn verkörperte alles, wogegen sich der feministische Film, die feministische Filmtheorie und die feministische Filmkritik damals wandten. Mit diesem Bild vor Augen forderte Mulvey eine semantische Reinigungsoperation, in der Filme von Frauen als strenge Gegenfilme und Avantgarde-Filme diese Schaulust nicht bedienen sollten. Also wählte die Mehrzahl der filmenden Frauen damals Formen des Erzählens, die entweder der ästhetischen Hermetik oder dem dokumentarischen Erzählen nahestanden, wenn sie nicht gleich in die Medienkunst überwechselten, wo sie den Schwierigkeiten von Blickstrategien nicht mehr unterworfen waren. Aber weil diese Reinigungssoperation zu einer rigiden Verweigerung von Schaulust und Vergnügen führte, bedeutete sie auch eine Verengung der Frauenbilder. Die Ambivalenzen und Rollenspaltungen, die damals wie heute die Weiblichkeit ausmachen, kamen nicht vor. Und so gab es keine identifikatorischen Frauenbilder und die voyeuristischen Komponenten in der Bedürfnisstruktur des weiblichen Publikums wurden missachtet. Männer und auch viele Frauen blieben diesen von Laura Mulvey geforderten „Gegenfilmen“ fern.
Heute bekennen Frauen sich demonstrativ zu ihrer Schaulust und die psychoanalytisch fundierte feministische Filmtheorie, die über längere Zeit bestimmend war für Filmkritik überhaupt, wurde abgelöst durch eine, die sich an den Affekten orientiert. Die Filmpraxis selbst orientiert sich nach der Marginalisierung des Autorenfilms wieder stärker an den populären Erzählmodellen. Doch für die filmenden Frauen ist das Problem geblieben, wie sie denn identifikatorische Frauenbilder, die gleichzeitig eine Kritik an den Geschlechterrollen sind, und Schaulust miteinander vereinbaren sollen. Und ganz besonders virulent wird das, wenn es um Sex geht.
Es gibt einen Film, den wir hier behandeln müssen: ELLE von Paul Verhoeven. Nur auf den ersten Blick ist er der Film eines Mannes, auf den zweiten Blick, auch der einer Frau. Der Titel ist ein Statement: ELLE ist einfach Sie, die Frau. Michèle, eine erfolgreiche Geschäftsfrau von 50 Jahren, also mittleren Alters, wird von einem maskierten Mann brutal vergewaltigt, was wir nur im OFF erleben. Danach kehrt sie die Scherben auf und bestellt sich bei einem Lieferdienst Sushi. Sie geht nicht zur Polizei und lebt scheinbar ungerührt weiter, denn sie will sich nicht als Opfer sehen, – keine Frau will das heute -, sondern ihre Selbstbestimmtheit behalten. Aber wie stark man sein muss, um eine solche Entscheidung zu leben, zeigt der Film. Ihr Vergewaltiger schickt ihr anzügliche Nachrichten, bricht während ihrer Abwesenheit ins Haus ein und masturbiert auf ihre Bettwäsche. Bei einem weiteren Angriff auf sie verletzt Michèle ihren Peiniger, enttarnt ihn als ihren Nachbarn Patrick und treibt ihn in die Flucht. Aber sie führt das freundschaftlich-nachbarschaftliche Verhältnis ungerührt fort. Auf ihre Frage nach dem Warum seiner Vergewaltigungen antwortet er, sie seien „nötig“ gewesen. Michèle begreift, dass er nur zum gewaltsamen Sex fähig ist, und lässt sich auf ein erotisches Rollenspiel mit ihm ein. Den nächsten Übergriff im Heizungskeller seines Hauses löst sie selbst mit aus, leistet aber scheinbar ernsthaft Widerstand, damit er auf das für ihn „nötige“ Gewaltlevel kommt. Nach der Party zur erfolgreichen Veröffentlichung des neuen Computerspiels ihrer Firma lässt sie sich von Patrick nach Hause fahren und eröffnet ihm unterwegs, dieses „kranke“ Spiel zu beenden und ihn bei der Polizei anzeigen zu wollen. Er versteht dies als Aufforderung zu einem weiteren Übergriff und folgt ihr ins Haus. Dem heimkehrenden Sohn bietet sich das eindeutige Szenario einer Vergewaltigung dar, weshalb er den maskierten Täter ohne Zögern erschlägt. Michèle klärt weder ihren Sohn noch die Polizei über ihr wahres Verhältnis zu Patrick auf. Dessen Witwe Rebecca zieht bald darauf weg und überrascht Michèle beim Abschied mit einem Dank dafür, dass diese Patrick zumindest für kurze Zeit geben konnte, was er „gebraucht“ habe.
Ich möchte hier nicht eine Gesamtanalyse des komplexen Films machen. Ich will mich nur auf die Darstellung von sexualisierter Gewalt in diesem Film konzentrieren, die besonders durch #metoo zu einem heiklen Thema geworden ist. Nährt dieser handwerklich außerordentlich gut gemachte Film nicht die Mythen einer Rape Culture, da er eine Vergewaltigung nicht moralisch verurteilt und eine sog. starke Frau zeigt, die mit allem fertig wird?
Michèle wird von Isabelle Huppert gespielt, die vom Alter und ihren bisherigen Rollen her nicht unmittelbar mit Schaulust und Begehren assoziiert ist. Sie lebt als Single und ist der starke Mittelpunkt und auch die ökonomische Versorgerin eines Kreises von Männern, die alle entweder „krank“ oder irgendwie in einer Krise sind. Der Film zeichnet kein eindeutiges Bild von ihr und ihr Verhalten ist nicht vorhersehbar. Sie ist weder klassisches Opfer noch klassische Rächerin. Sie bewegt sich in einem Feld aus Kälte, vermeintlicher Gefühllosigkeit, klarem Geschäftssinn, Masochismus, Ironie und sexueller Perversion. Sie ist keine klassische Identifikationsfigur und man lernt sie nie vollständig kennen. In ihrer Sexualität geht sie bis an den Rand, wo ihr Leben in Gefahr ist. Eine Figur mit vollkommener Selbstbeherrschung, unzerstörbar. Aber ihre Lebenszusammenhänge sind so realistisch gezeichnet, dass die Frage nie auftaucht, ob wir es hier mit einer Genre-Schablone zu tun haben, die mysteriös bleiben muss, um die Gesetze der Dramaturgie in Gang zu bringen. ELLE ist kein rape-revenge-Film, er passt in kein Genre.
Paul Verhoeven hat in einem Interview gesagt: „Der Film war einfach ein Abenteuer. Das einzige, was ich vor dem Dreh wusste, war, dass Michèle keine offensichtlichen Emotionen zeigt. Kein Mitgefühl, keine Tränen. Mir war klar, dass ich mich von Szene zu Szene von Isabelle überraschen lassen wollte. Isabelle hat sich dafür entschieden, einen bestimmten Weg einzuschlagen. Ich war wie hypnotisiert, wenn ich Szenen am Monitor verfolgt habe: Ich konnte fast nicht „Cut“ rufen, weil die Szenen einen Sog entfalteten, der für mich überraschend, aber absolut richtig war. Ich wusste: Ich darf nicht eingreifen, das ist genau das, was diese Person in dieser Situation machen würde, auch wenn im Drehbuch was ganz anderes steht.“ Und Isabelle Huppert hat über ihre Figur gesagt: „Die Reise, die sie macht, ist deshalb so überzeugend, weil sie selbst gar nicht weiß, wo es hingeht. Sie handelt intuitiv und muss dauernd auf neue Dinge, die in ihrem Leben passieren, reagieren. Für sie gibt es kein Denken vor dem Handeln, Psychologie hat deshalb keinen Platz hier. Wenn wir vorher über die Figur gesprochen hätten, hätten wir riskiert, zu präzise zu sein.“
Verhoeven, ein Altmeister der Regie, der sowohl Autorenfilme in Europa wie Genrefilme in Hollywood gemacht hat, darunter Basic Instinct, hat seiner weiblichen Darstellerin erlaubt, eine Frauenfigur zu entwickeln, die es so bisher im Kino noch nicht gegeben hat. Die Pandora-Büchse der Kunst ist prall gefüllt mit Frauenbildern. Wie schön, anmutig, lieblich, sinnlich, erotisch und lasziv sie auch immer dargestellt sein mag – das Bild der Frau in der Kunst war Bild des Mannes von der Frau. Das Bild eines weiblichen Charakters nach den Extremerfahrungen, die eine Vergewaltigung darstellt, ist nicht kanonisiert. Verhoeven hat auf seine Deutungshoheit verzichtet und Huppert das Feld überlassen. Und Huppert hat diese Reise mit unideologischer Offenheit angetreten und nicht von vorherein entschieden, was das moralisch oder politisch Richtige sei. Schon an den Filmen des klassischen Hollywood, die alle von männlichen Regisseuren gemacht wurden, konnte man sehen, wie Darstellerinnen gegen Drehbuch, Dramaturgie und Regie ihre Figuren widerständig angelegt haben. Das war hier nicht nötig. Isabelle Huppert hatte alle Freiheiten.
So hat dieser Film zwei Autoren: Paul Verhoeven und Isabelle Huppert. Und vielleicht konnte niemand außer Huppert diese Reise unternehmen. Sie ist als Schauspielerin einen langen Weg gegangen durch viele Frauenfiguren hindurch. Er begann mit dem einfachen, sehr jungen und sehr stummen Mädchen im Film von Claude Goretta Die Spitzenklöpplerin. Dieses Mädchen zerbricht an verratener Liebe und endet in der psychiatrischen Klinik. Der Filmtitel bezieht sich ausdrücklich auf Vermeers Bild, das eine Genreszene darstellt, wie es zu seiner Zeit viele gab, Frauen als Wäscherinnen, Wasserträgerinnen oder eben Spitzenklöpplerinnen. Auch für ELLE ist ein Bild zentral, das einer Frau, die in einem tentacle porn von den vielen Armen eines tierischen Wesens vergewaltigt wird. Der Entwurf dafür wird in Michèles Firma für Computerspiele hergestellt und jemand hat in die Animation Michèles Bild eingearbeitet. Michèle selbst ist es, die einem der Entwürfe vorwirft, er sei nicht radikal genug. Eine heftige Entwicklung in sehr kurzer Zeit! Seit 1975 hat nicht nur Isabelle Huppert diesen Weg zurückgelegt, alle Frauen haben das.
Michèles Sexualität in diesem Film ist ambivalent und hat viele Facetten. Darunter eine verheimlichte Affäre mit dem Mann ihrer Freundin und eine Masturbation angesichts einer Szene im Nachbargarten. Aber auch Formen fetischisierender Sexualität wie das Totstellen beim Sexualakt und eine wachsende perverse Befriedigung aus erzwungenem Geschlechtsverkehr. Für einen Film, der kein Pornofilm ist, ist das viel und ungewöhnlich. Hier erforschen ein Regisseur und eine Darstellerin ein neues Frauenbild, das sich aus den Freiheiten der Moderne in Beruf und Sexualität für die Frau gebildet hat.
ELLE hat einigen Männern Unbehagen bereitete. Auch unter Feministinnen gibt es unterschiedliche Meinungen. Wie kann frau als Aktivistin von #metoo zu dieser Art von sexualisierter Schaulust stehen? Von Forderungen des politischen Feminismus aus ist das alles zu verwerfen. Weiblicher Genuss soll selbstbestimmt sein und setzt Zustimmung voraus. Das sind moralische und juristische Urteile, die ich unterschreibe. Aber wie weit dürfen politische Forderungen Formen der Kunst definieren? Eine feministische Kritikerin schrieb: „Der Umgang mit sexualisierter Gewalt ist in diesem Film nicht zu Ende gedacht. Die Unterscheidung zwischen Fetisch und Verbrechen nicht reflektiert. Das Psychogramm einer Frau, die aus einer Gewalterfahrung heraus einen Fetisch entwickelt und sich damit als sexuelle Akteurin emanzipiert, kann und MUSS ohne das Verschwimmen von Fetisch und Vergewaltigung erzählt werden. Filme müssen nicht nur werkimmanent sondern auch kontextuell interpretiert werden.“
Darin schwingt die Forderung nach einem feministisch normativen Frauenbild im Sinne politischer Befreiung mit. Aber die Kunst, und Film gehört bei aller Zweischneidigkeit seiner ökonomischen Bedingungen dazu, hat die Aufgabe, das Feld der menschlichen Möglichkeiten zu erproben. Auch ein neues, ungewohntes und vielleicht verstörendes Frauenbild. Wir müssen uns auf das Abenteuer einlassen, in dieser Gesellschaft unseren Weg und unsere Bilder zu suchen, wo es bisher noch nichts gab. Dazu gehört eine große Offenheit und keine lexikalischen Bestimmungen, was ein feministischer Film zu sein hat. Werkimmanenz und Kontext müssen zusammengedacht werden, aber es gibt trotzdem einen Unterschied zwischen politischen Forderungen und der Bildpolitik.
Aber auch ich habe ein Unbehagen an ELLE. Michèles Bemerkung gegenüber Patrick, dass diese Form von Sexualität „krank“ ist, kommt unvermittelt und wirkt auf mich als Hilfskonstruktion, weil der Film zu einem Ende kommen muss und ein Filmende, das diese „kranke“ Sexualität einfach stehen lässt, für einen Film heute nicht möglich ist. Den Prozess von Michèles Erkenntnis aber, wenn sie denn eine sein soll und nicht einfach eine Notlösung, hätte ich gern gesehen, diese Psychologisierung hat mir gefehlt. Aber mir ist bewusst, dass das eine Forderungen einer klassischen Dramaturgie ist, die auf einer Auflösung im Sinne einer Erkenntnis von richtigem oder falschem Verhalten bestehen würde. Und damit würde die Offenheit des Films diskreditiert und er zu einer Krankheitsstudie eines weiblichen Charakters. Trotzdem bleibt auch für mich die Frage ungelöst: wieviel Psychologisierung braucht ein Film, der in seinem Frauenbild die Lust an der Gewalt verankert?
Manche Kritiker vermissten nicht Psychologie sondern Moral. Dazu hat Verhoeven gesagt: „Das erinnert mich fast ein wenig an Brecht, der in etwa gesagt hat, dass man das Sehen verlernt, wenn man sich mit Figuren identifiziert.“ Die klassisch-moderne Dramaturgie wandte sich von der Identifikation ab, Brecht fasste das in die Lehre vom epischen Theater. Die hat im Film nie Fuß gefasst. Film hat eine starke Tendenz zu den Erzählmodellen des 19. Jahrhunderts. Es gab in den 80er und 90 Jahren im Bereich des Films ein schreckliches Schmähwort, das hieß: „verkopft.“ Filme sollten rein gefühlsmäßig und intuitiv erfahrbar sein und eine starke Identifikation mit den Figuren bieten. Die Wirkung von ELLE auf Zuschauer und Zuschauerinnen beruht nicht auf Identifikation, sondern auf Faszination und Faszination ist die Reaktion auf Ambivalenz. Es gibt heute keine Schaulust am weiblichen Körper, die nicht auch ambivalente Seiten hat. Denn hier betritt man unbekanntes Terrain, von dem man nur weiß, dass es vermint ist.
Ambivalenz – dieses Wort ist uns schon häufiger begegnet – hat eine unkontrollierbare Seite, aber ohne Ambivalenz kann man über Frauen nicht nachdenken. Der Film ELLE ist ambivalent, weil er die Ambivalenzen einer weiblichen Sexualität zeigt. Der Schritt auf der Leinwand vom Objekt zum Subjekt sexuellen Begehrens ist noch immer groß. Frauen, vor allem die in mittleren Jahren und die noch älteren tauchen fast nur in feelgood movies auf, in denen ihnen alle Ecken und Kanten abgeschliffen sind. ELLE, gleichgültig, ob man ihn mag oder nicht, fordert zum Denken auf, auch zur kritischen Auseinandersetzung, und das sind wir bei den meisten Filmen über Frauen, die wir heute sehen, nicht mehr gewohnt. Wir müssen generell wieder bereit sein, im Kino nicht nur zu fühlen, sondern auch zu denken. Und dann fällt die Entscheidung leicht, welcher Film für die zukünftige Entwicklung von Frauenbildern wichtiger ist, ein Film des wollüstigen Identifikationspathos oder ein schwieriger, der notwendige Diskussionen anstößt.
Was ist das nun, ein feministischer Film?
Den feministischen Film gibt es nicht. Und es gibt auch nicht den weiblichen Blick. Aber es gibt inzwischen schon eine lange Reihe von Filmen von Frauen, in denen wir uns bei unserer Suche umsehen können:
Chantal Akermann mit Jeanne Dielmann, Marta Meszaros mit Adoption, Lina Wertmüller mit Liebe und Anarchie, Agnès Varda mit Le Bonheur und viele, viele andere. Diese Aufzählung ist keine Hitliste und wertet nicht, es sind nur die ersten filmenden Frauen gewesen. Die Filme sind sehr unterschiedlich und es würde zu nichts führen, aus ihnen Regeln abzuleiten. Es gibt keine feministischen Bestimmungen, welches die richtigen Bilder von Frauen sind, auch nicht in den Bereichen von Sexualität und Schaulust. Was feministisch gesehen, Bilder des weiblichen sexuellen Empowertments sind und welche Rolle die Gewalt dabei spielt, ist ungeklärt. Zu einem gewissen Grad ist nur klar, welches die falschen Bilder sind: die, die ohne den Kontext von Figuren Gewalt und Demütigung auswalzen und zu einer voyeuristischen Befriedigung am schieren Gewaltakt führen.
Es gibt ihn nicht, den feministischen Film, weil es auch nicht die Frau gibt oder die Frauen. Frauenbilder sind wie Männerbilder gesellschaftliche Konstrukte und die lösen sich gerade auf. Es gibt Filme, in denen dieser Prozess, in dem wir mittendrin stecken, aufscheint, aber sie bilden weder ein Genre noch eine Gattung. Sie enthalten gerichtete und ungerichtete Suchbewegungen aller Art, inhaltliche und formale, vielfältige Formen von Reaktionen auf die Gesellschaften und deren Ästhetiken. Frauen wollen nicht nur ihren kleinen Garten bestellen, sie nehmen mit ihren filmischen Mitteln teil am Diskurs über Vernunft, Fortschritt und Veränderung der Gesellschaft. Denn wenn ihre Wahrnehmung sich nicht die Gesellschaft richtet, sondern nur auf den Mann, sind wir auf der Frauenseite von Illustrierten. Hier kommt der Bechtel-Test zur Anwendung. Feminismus ist nicht einfach Sympathie oder Verständnis für Frauen, sondern ein Interpretationssystem, das 3000 Jahre sexistische Gesellschaft in Frage stellt. Neue Frauenbilder sind neue Gesellschaftsbilder. Die große ungarische Philosophin Agnes Heller hat gesagt: „Die Emanzipation der Frauen ist die einzige erfolgreiche Revolution in der Weltgeschichte und eines Tages wird sie vollendet sein.“ Sie ist die fundamentale Umwälzung der europäischen Geschichte und braucht viel Zeit.
Frauen haben das Recht, überall zu sein, in jeder ästhetischen Form, in jedem Genre. Es ist möglich, alle Filme feministisch zu machen, auch Pornofilme, wie junge Frauen bewiesen haben. Feministisch Filme zu machen bedeutet, mit den Erfahrungen von Frauen das Filmemachen als ein offenes Feld zu betrachten, in dem von vornherein nichts ausgeschlossen wird. Das Erzählen kann etwas herausfinden, was man ohne Fiktion nicht herausfinden kann. Es ist eine Reise, die in unbekannte Gegenden führt. Und sie ist nicht vorstellbar ohne Erkenntnisarbeit. Die muss sich auf Formen beziehen, nicht nur auf Inhalte, denn eine Frau mit Waffe ist nicht per se feministisch. Nichts schützt uns davor, kenntnisreich zu sein und Naivität und Feminismus schließen sich aus. Die Filmemacherin und die Zuschauerin müssen vertraut sein mit den Mechanismen der Bewusstseinsbildung durch Bilder und nicht einfach glauben, auf der Leinwand tummele sich das wahre Leben. Aber ebenso vertraut sein müssen sie mit der Geschichte des weiblichen Subjektes und seiner Verhinderungen, um nicht aus Unkenntnis in die Falle zu tappen, in der die Bilder des „Weiblichen“ hausen, als Chimären aus lauter Männerphantasien. Und diese zweite Notwendigkeit ist heute, wo die geschichtlichen Kenntnisse rapide abnehmen, sogar viel größer. Das ist nicht sehr bequem. Wer nur etwas von Filmen versteht, ist dumm. Erkenntnis und Diskurs gehört zum feministischen Film, wie beides zur Kunst in der Moderne allgemein gehört. Nichts geht heute in der Kunstwelt ohne Debatten.
Es gibt keine ontologische Bestimmung dessen, was eine Frau ist und es gibt kein heilgebliebenes weibliches Selbst, das man nur noch aus den Fängen einer patriarchalischen Geschichte befreien und in Bilder übersetzen müsste. Die Frau hat einen doppelten Ort. Sie ist in die Ordnung eingeschlossen, aber aus der herrschenden Kultur ausgeschlossen. Sie befindet sich im Grenzbereich zweier Ordnungen, der bestehenden kulturellen Ordnung, die sich noch immer über die Dichotomie Mann-Frau organisiert und einer Ordnung außerhalb dieser, die nicht beschrieben werden kann, sondern sich nur darin äußert, dass es ein Ungenügen gibt an der herrschenden Ordnung und die Ahnung von etwas „Anderem“, das mit unseren herkömmlichen Begriffen nicht benannt werden kann. Luce Irigaray hat gesagt, „die Frau hat keinen Zugang zur Sprache außer durch Rekurs auf männliche Repräsentationssysteme. Daher ist ihre einzige Möglichkeit, sich sprachlich zu äußern die Mimesis.“ Aber es ist eine feministische Mimesis. Sie gebraucht das Material, das es gibt, denn es existiert kein anderes, aber sie weiß, dass es einen Überfluss gibt jenseits der herrschenden Ordnung. Same, same, but different. Emmanuel Levinas hat über den Begriff des Weiblichen nachgedacht. Für ihn ist es als Geheimnis das fremdartig „Andere“, das er einem männlich konnotierten Selbstvermögen (man könnte auch sagen: der bürgerlichen Definition von Subjekt, das ja männlich ist) entgegengesetzt. Er betrachtet das Weibliche als geschlechtsneutral. An ihm können nicht nur Frauen, sondern auch Männer und Queer-Menschen teilhaben. Es verbindet sich in jedem einzelnen Menschen zu einer je anderen Mischung. Genauer können wir es im Moment nicht haben.
Übertragen auf den Film bedeutet das, dass feministische Filmarbeit im Spannungsfeld steht zwischen dem herrschenden filmischen Diskurs und den Möglichkeiten der Frau, diesen zu benutzen, um ihn irritieren, zu erweitern oder zu präzisieren. Frauen erleben die Brüche der Gesellschaft als Brüche in ihren Biographien und als ihre eigene innere Zerrissenheit. Einem Haufen von Widersprüchen begegnen sie mit den unterschiedlichsten filmischen und gesellschaftlichen Strategien. Der Kampf um Frauenbilder wird in unserer Kunst ausgetragen als Reflexion über Blickstrategien und dramaturgische Möglichkeiten und als Kampf darum, dass viele Frauen überhaupt Filme machen können. Und zwar sehr unterschiedliche Filme, weil nur so das Unbestimmte, der Überschuss, langsam Gestalt annimmt. Feministisches Filmemachen kann ohne politische und gesellschaftliche Arbeit nicht existieren. Frauen sind Teil des Problems, das sie selbst sind und Teil der Lösung, die sie selbst herbeiführen müssen. Dieses Abenteuer der feministischen Filmarbeit kann nur erfolgreich sein, wenn wir nicht vergessen, dass gesellschaftliche Arbeit ein unabdingbarer Bestandteil unserer künstlerischen Arbeit ist. Nichts geht ohne sie. Es gibt nur eine einzige Forderung, an der eisern festgehalten werden muss: Frauen brauchen 50 Prozent der Produktionsmittel. Dann kann endlich die Vielfalt ihrer Blicke und Deutungen sichtbar werden. Und dazu gehört auch, dass viele der Strukturen der Filmwirtschaft, die uns heute noch behindern, sich ändern müssen. Die Zahl der filmenden Frauen in Deutschland ist erschreckend, ich vermute, hier in Österreich sieht es nicht viel anders aus. Deshalb sind Zusammenschlüsse und politische Arbeit so vital. Es hilft nur Organisation wo Organisation herrscht.
Ich stelle mir vor, was wir dann, wenn unsere Zusammenschlüsse erfolgreich sein werden, alles sehen könnten:
Filme über die Herstory, d.h. Filme über historische Frauenfiguren, die uns viel über die weitgehend unerforschte, unbekannte Geschichte weiblicher Leben erzählen.
Feministische Interpretationen von Genres, Krimis, Polizeifilmen und Familienserien, in denen nicht einfach tote Frauen durch tote Männer ausgetauscht würden, sondern auch die Genregesetze anders interpretiert würden.
Feministische Relektüren von Blockbustern wie Wonderwoman für die jungen Mädchen, die noch sehr unsicher ihren Weg suchen und ein solches lustvolles Identifikationspathos brauchen. Filme eben nicht nur in dem Museumszusammenhang, wo der Film als Kunst heute aufbewahrt wird, sondern im Bereich der populären Kultur.
Übermalungen kanonisierter Genres und ihrer Frauenbilder, wie Meek‘s Cutoff von Kelly Richard.
Filme, die wie Kamel Douads Buch Meursault contre-enquéte die Geschichte derer erzählen, die in einem berühmten Film zu Opfern wurden oder namenlos geblieben sind. Dann könnte auch Gorettas Spitzenklöpplerin ihre eigene Geschichte erzählen und wir würden auch einen Film von einer Frau sehen können, der Michèles Geschichte aus ELLE noch einmal und vielleicht anders erzählt.
Dokumentarische Filme über die Verhinderungen und Gewaltexzesse, die Frauen in aller Welt angetan werden, haben wir schon, es können nie genug sein.
Feministische Interpretationen von unzuverlässigen Erzählungen wie Fight Club. Hier sehe ich großes Potential. Die Kampfplätze der Frauen sind oft innere Kampfplätze, ihre Reisen sind innere Reisen. Unzuverlässige Erzählungen geben eine Antwort darauf, wie man den inneren Raum filmen kann. Hier sind wir im Bereich der Autorenfilme, in denen Regisseurinnen sich nicht mit einem bestehenden Genre auseinandersetzen wollen, sondern für das, was sie sagen wollen, eine neue Form suchen. Besonders hier wird der zweite Teil der Definition von Dramaturgie verpflichtend: Geschichten gut zu erzählen und gute Geschichten zu erzählen. Und hier würde es dann auch eine Auseinandersetzung mit dem größten Tabu der Frauenwelt geben: dem Alter.
Auch viele Filme, die vielleicht einen konventionellen Plot haben, aber in ihren Details von verblüffendem Reichtum sind, was Frauenbilder angeht. Jodie Foster hat es bewiesen.
Wir wollen alle Möglichkeiten haben zwischen Außenseitertum und Anpassung, zwischen Unterhaltungskino und hermetischen Kunstwerk. Patty Jenkins war nach ihrem Film Monster, der die wahre Geschichte einer Serienmörderin erzählte, eine Zeitlang in gehobener Serienproduktion abgetaucht. Mit Wonderwoman ist auf die große Leinwand zurückgekehrt. Ihre Karriere zeugt von ebenjenem Zwiespalt, den auch ihre Heldin Wonderwoman umtreibt.
Wir benutzen, was uns dienlich ist, Faszination und Identifikation, Analyse und Ironie. Hauptsache intensiv und mit Dringlichkeit und alles getränkt durch unsere Erfahrungen als Frauen mit den Rollenspaltungen und Ambivalenzen, die wir leben müssen. Neue Frauenbilder entstehen nicht einfach dadurch, dass man sie am Reißbrett entwirft. Bei Frauen greifen das Leben und die Kunst noch immer ineinander.
Die Wellen des Feminismus erfassen die modernen Gesellschaften wie Fieberschübe und in jeder Welle wird wieder hochgespült, was in der Trägheit patriarchalischer Verhältnisse eine Zeitlang vergessen worden war. Die augenblickliche Welle knüpft wieder da an, wo die erste Welle der filmenden Frauen in den 80er Jahren gestoppt wurde. Sie wurde verschlungen von der neoliberalen Lust am Champagnerrausch und Schuhexzess. Die Protagonistinnen von Sex and the City wurden auf ihren High Heels wieder so unbeweglich, dass sie auch die kleinsten Strecken nur per Taxi zurücklegen konnten. Wer ein Bild sein will, muss auf den Raum verzichten, und überlässt. die Entscheidung über sich und sein Leben dem Wohlwollen anderer. Frau wurde in diesen Jahren zum Sexobjekt, ein modernes Krüppelwesen, letzten Endes nicht viel anders als die Frauen im alten China, denen die Füße zusammengebunden wurden, je kleiner, desto schöner, bis sie zum Schluss abfaulten. Im 19. Jahrhundert träufelten Frauen sich Belladonna in die Augen, damit die Pupillen große und schwärmerisch wurden. Die Augen wurden zu schönen Objekten, aber mit der Fähigkeit zu sehen, war es aus.
Unter dem Druck der ökonomischen Fastkatastrophe, des Börsencrashs von 2008, endete auch dieses Frauenbild und eine neue Generation von jungen Frauen erinnerte sich wieder daran, dass sie in ihrer Emanzipation schon einmal weitergewesen waren und dass der Kampf noch nicht zu Ende ist. Es wäre keineswegs unwahrscheinlich, dass das Patriarchat, dessen Showdown sich seit rund hundert Jahren in historischen Etappen vollzieht, zum Ende hin noch einmal zum großen Gegenangriff ausholt. Macht ist noch nie gerne und ohne Widerstand abgetreten. Der rapide Wandel in Wirtschaft, Gesellschaft und Technologie stürzt eine exponentiell wachsende Zahl entwurzelter und verwirrter Männer in eine unheilvolle Suche nach männlichen Gewissenheiten. Pankaj Mishra hat geschrieben, dass die Sehnsucht nach Männlichkeit Politik und Kultur im 21. Jahrhundert in der ganzen Welt kontaminiert.
Im Mansplaining erklären Männer uns nicht nur, wie die Welt heute funktioniert, sondern auch, wie sie morgen aussehen wird. Über 90 Prozent der Nerds im Silicon Valley sind junge Männer, die noch nie etwas anderes gesehen haben als ihre Computer und noch nie etwas anderes gegessen haben als ihre Pizza. Hier werden gerade mit Hilfe von Algorithmen neue Erzählformate entwickelt, nicht für die Leinwand, sondern für den Bildschirm. Netflix untersucht Social Media Communities, deren Geschmäcker und deren Ausrichtung und baut daraus Serien für Fangemeinden, die man auch Blasen nennen muss. Jeder bekommt, was er schon immer gemocht hat, in endlosen neuen Verpackungen und Wiederholungen. Aber um die sich dann einstellende Langeweile zu vermeiden, muss das Bestehende ständig überboten werden. Es ist wie bei Rauschgiftsüchtigen, die Dosis muss immer härter werden, um das eine zu erreichen, den Zuschauer und die Zuschauerin daran zu hindern, auszusteigen und den Computer zuzuklappen. Und es ist eine Frau, die das gerade durchsetzt, Cindy Sherman. Aber wir wissen ja inzwischen, dass jede neue Bewegung ambivalent ist, es gibt immer einen Gewinn und einen Verlust. Der Verlust liegt auf der Hand: die Gesellschaft wird noch mehr fragmentiert. Was der Gewinn sein könnte, das müssen wir herausfinden.
1966 sang Nancy Sinatra: These boots are made for walking. Stiefel haben in feministischen Kleiderschränken einen Ehrenplatz. Der Text des Songs handelt davon, dass die Protagonistin Untreue, Lügen oder andere Fehler ihres Partners damit bestrafen will, dass sie über hinwegmarschiert. Der Song war als Männersong geplant, Nancy Sinatra hat lange darum kämpfen müssen, dass sie ihn singen durfte. Das, was bei einem Mann erbärmlich geklungen hätte, klang bei einer Frau revolutionär und der Song wurde zum ersten feministischen Welthit. Ich habe diese Stiefel noch nie getragen, aber sie sollen mich immer daran erinnern, dass der Weg noch weit ist. Notfalls kann man damit wie Nancy über die Männer hinwegmarschieren und auch, wenn es gar nicht mehr anders geht, ihnen auch in die Eier treten. Aber es sind auch Märchenstiefel und als solche stehen sie auch dafür, dass das Leben aus Brot und Rosen besteht, Tritten und Zärtlichkeit, Küssen und Bissen, wie Kleist in seiner Penthesilea gesagt hat. Das vom Prinzen erlöste Aschenputtel, das vom Prinzen wachgeküsste Dornröschen und alle die anderen Märchenfrauen brauchen keine Prinzen mehr: Sie sind in ihren Stiefeln unterwegs.
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